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Streikwelle in Deutschland: Gibt’s ein Jenseits der Sozialpartnerschaft?

Eingereicht on 19. Juni 2015 – 15:30

Über die vergangenen paar Monate sieht man an gewissen Orten Zeichen der Beunruhigung über den neuen Zyklus der Arbeiterkämpfe in Deutschland. So titelt etwa die grösste deutsche Tageszeitung, die linksliberale Süddeutsche Zeitung, «Willkommen, Streikrepublik Deutschland». Der bekannte deutsche Soziologe Wolfgang Streeck stellt im britischen Guardian beunruhigt fest, dass die Streikwelle in Deutschland «wohl von längerer Dauer sein wird».

In der Tat verzeichnet Deutschland die seit Jahrzehnten grösste Streikdichte. So wurden dieses Jahr bereits 350´000 durch Streik «verlorene» Arbeitstage gezählt, gegenüber 156´000 im vergangenen Jahr und lediglich 28´000 im Jahre 2010. Piloten, Lokführer und Zugpersonal, Kita-Lehrer und Lehrerinnen, Krankenpflegerinnen und Krankenpfleger und nun die Postangestellten sind neben anderen gerade im Streik oder haben vor kurzem einen Arbeitskampf beendet. Diese Streiks stellen seit den Protesten gegen die Hatz IV Reformen vor über 10 Jahren die grösste Bedrohung für das deutsche Wachstumsmodell dar, das auf einem brutalen Angriff auf die Arbeits- und Lebensbedingungen der Arbeiterklasse in Deutschland und in Europa  beruht.

Für die Unternehmer und die Reichen hat sich dieses «Wachstumsmodell» ausbezahlt. Die Exporte sind gewachsen, die Profite und die Vermögensgewinne sind kräftig gestiegen. Die Löhne und vor allem die Renten und die Sozialleistungen sind kräftig beschnitten worden. Dieses Modell erweist sich offenbar als einzige mögliche «Lösung» für die seit Jahrzehnten sich vertiefenden Wachstumsschwäche. Deutschland ist mittlerweile auch zum Modell für die französische Bourgeoisie geworden, wo die sozialistische Regierung ein Programm à la SPD und Schröder anstossen will. In Deutschland arbeiten mittlerweile 21.2 Prozent der Lohnabhängigen in atypischen Verhältnissen; über 2.6 Millionen müssen zwei Jobs bedienen, um über die Runden zu kommen.

Vor kurzem hat der Bundestag als Antwort auf die eher kämpferischeren kleineren Gewerkschaften wie etwa die GDL, ein Gesetz verabschiedet, das das Streikrecht empfindlich einschränkt. In deren letztem Streik waren 34´000 Lokführer und Zugbegleiter beteiligt. Ein einzelner Streiktag hat die Eisenbahn-Gesellschaften pro Streiktag 10 Millionen € und die gesamte Wirtschaft 100 Millionen € gekostet. Wenn die Arbeiterklasse mit diesen Kämpfen gewinnt, könnte dieses «Wachstumsmodell» auf Grund laufen. Die Gemeinden und Bundesländer, die Unternehmen müssten den Lohnabhängigen anständige Löhne bezahlen und die Dienstleistungen müssten unter dem Druck dieser Kämpfe verbessert werden; vor allem im Gesundheitsbereich und im Schulwesen und den Kitas, haben die Streikenden zusammen mit Eltrn bzw. Patientenorganisationen entsprechende Forderungen gestellt. Dass es so kommen wird, ist aber unwahrscheinlich, sieht man, wie etwa die Kita-Angestellten und die GDL auf dem Höhepunkt ihrer Kämpfe vorzeitig in zweifelhafte Schlichtungsverfahren einspurten.

Sollte aus dieser Streikwelle etwas Zukunftsträchtiges werden, müssten die breiten Tieflohnsektoren in die Kämpfe einbezogen werden, was bislang nicht gelang – ausser bei Amazon. Ferner müsste es gelingen, das offensichtliche Druckpotential der Arbeitermacht wirklich auszureizen. Dazu müsste das Modell der Sozialpartnerschaft ausgehebelt werden. Dafür fehlen in Deutschland wie anderswo vorderhand die politischen und organisatorischen Voraussetzungen.

Im folgenden Interview mit einer Aktivistin beim Streik bei der Deutschen Post AG werden einige dieser Aspekte am konkreten Beispiel angesprochen. Die Postbeschäftigten kämpfen gegen massives Lohndumping. Brief- und Paketzusteller stehen unter dem Druck der Deutschen Post AG, zum Subunternehmer DHL-Delivery GmbH zu wechseln, wo sie rund zwanzig Prozent weniger Lohn erhalten. Die Deutsche Post AG will durch die Gründung der neuen Tochtergesellschaft DHL-Delivery GmbH mit 49 Regionalgesellschaften die Paketzustellung ausgliedern. Die dort Beschäftigten unterliegen dann nicht mehr dem Haustarif der Deutsche Post, sondern dem Tarif der Fracht- und Logistik-Branche, deren Lohnniveau etwa 20 Prozent unter dem bisherigen Haustarif der Post liegt. Allerdings wurde auch dieser Niedriglohntarif der Fracht- und Logistik-Branche von der Gewerkschaft Verdi ausgehandelt und unterschrieben. Die Post setzt gegen den Streik auf breiter Basis Streikbrecher ein und geniesst die volle Unterstützung der Regierungsparteien. Dieses Interview entstammt der Zeitung Junge Welt vom 18. Juni 2015. [Redaktion maulwuerfe.ch]

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Bei der Post AG wird seit über einer Woche gestreikt. Manche Kollegen fordern einen kämpferischeren Kurs. Ein Gespräch (Wladek Flakin) mit Martina Laubach (Name geändert), Briefzustellerin bei der Deutschen Post AG und Mitglied der Gewerkschaft ver.di

Der unbefristete Streik bei der Deutschen Post AG läuft seit einer Woche – doch diese behauptet, die Auswirkungen seien nur marginal. Wie sieht das für die Streikenden aus?

Die Kollegen im Briefzentrum waren die ersten, die in den Streik getreten sind. Ein Teil der Sendungen wird nicht oder «ungenügend» bearbeitet. Wie uns berichtet wurde, hat die Post ein Raumproblem, muss Hallen für die Lagerung anmieten. Es gibt Bilder aus Briefzentren von wachsenden Paketbergen. Dramatisch, was sich da abspielt. Unsere Streikposten haben LKW beobachtet, die unbearbeitete Sendungen abtransportiert haben sollen.

Der Ausstand ist in der Öffentlichkeit wenig sichtbar. Was für Reaktionen bekommen Sie von Kunden oder auf der Straße?

Es gab Demonstrationen etwa in Bad Hersfeld zusammen mit den Streikenden von Amazon, in Frankfurt am Main oder in Kassel. Die Kunden reagierten bisher sehr solidarisch. Als ich noch zustellen musste, nannte mich einer «Streikbrecherin» – das sagt doch alles. Die Bevölkerung ermutigt uns, sie weiß, wie hart die Arbeitsbedingungen für uns geworden sind. Diese Solidarität müssen wir ausbauen.

Ver.di scheint eher widerwillig in diesen Kampf gezogen zu sein – so wartete die Gewerkschaft sechs ergebnislose Verhandlungsrunden ab, bevor sie zum Ausstand aufrief. Warum ist das so?

Es gab Warnstreiks, die den Druck auf die Post AG erhöhen sollten. Die Taktik von ver.di zielte dabei immer auf Verhandlungen statt auf die volle Mobilisierung der Mitglieder und einen Erzwingungsstreik. Das Kampfpotential der Tarifkräfte erst dann in Stellung zu bringen, als die Post mit Gründung der Subunternehmen die Verträge brach, ist kritikwürdig.

Der Verzicht auf eine Urabstimmung ist auch kein gutes Zeichen, weil die Kollegen bei einem etwaigen «Kompromiss» und Ende des Streiks gar nicht gefragt werden müssen. In vielen Positionen in der Gewerkschaft sitzen Personen, die außer Sozialpartnerschaft offensichtlich nichts kennen. Das hat Auswirkungen. Wenn man so lange nicht streikt, führt das zu fragilen Strukturen. Die Gewerkschaft wird zum Versicherungsverein. Es war außerdem schlecht, dass ver.di vor der sechsten Verhandlungsrunde umfangreiche Zugeständnisse gemacht hat, mit denen viele Kollegen nicht einverstanden sind.

Trotzdem ist die Beteiligung super – in manchen Stützpunkten bei 100 Prozent. Es geht nicht nur um die Subunternehmen, es geht um Arbeitszeitverkürzung und mehr Geld. Das muss klar sein. Viele sind zu Zugeständnissen finanziell nicht in der Lage. Die «Traumlöhne» bei der Deutschen Post gibt es nur noch bei alteingesessenen Kollegen. Neue fangen mit Gruppenstufe null an, da liegt der Stundenlohn zwischen zehn und elf Euro.

Konnten Sie Verbindungen zu anderen aktuellen Arbeitskämpfen aufbauen?

Mit den Amazon-Kollegen hatten wir schon gemeinsame Demonstrationen. Doch der Erzieherinnenstreik wurde für die Schlichtung «abgewürgt». Mehrere bundesweite Streiks gleichzeitig machen den Herrschenden wohl Angst.

Wie geht es bei Ihnen weiter?

Wir haben gerade mal 19´000 Personen im Arbeitskampf. Die Ausweitung läuft noch zu schleppend. Wir brauchen bessere Basisstrukturen. Das ist wichtig, falls die Verhandlungsführer auf die Idee kommen sollten, dem Druck der Post AG unter Preisgabe unserer Interessen nachzugeben.

Wie kann der Streik gewonnen werden?

Wir brauchen keine faulen Kompromisse, sondern die volle Durchsetzung der Forderungen. Die sind: 36 Stunden pro Woche, 5.5 Prozent mehr Lohn und die Rückführung aller Zustellungssubunternehmen in die Konzernstruktur. Alle Kollegen müssen dafür raus. Das erhöht den Druck und schützt Befristete und Auszubildende. Wir brauchen einen aktiven Streik, denn Arbeitskampf ist kein bezahlter Sonderurlaub, sondern bedeutet die Selbstorganisation des eigenen Kampfes. Abschlüsse ohne vorherige Diskussion und Abstimmung müssen verhindert werden. Die Niederlage von uns Postlern wäre eine Niederlage weit über unseren Sektor hinaus – umgekehrt wäre ein Sieg auch ein Erfolg für alle.

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