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«Stopp TTIP» – Kampagne, die erfolgreichste Bürgerinitiative Europas

Eingereicht on 10. Oktober 2015 – 9:50

Der Widerstand der arbeitenden Bevölkerung gegen die Durchsetzung der Rechte des kapitalistischen Privateigentums und damit des Freihandels ist so alt wie die bürgerliche Gesellschaft.

Die Girondisten wurden im Sommer 1793 von den Sans-Culotten gestürzt, weil sie sich gegen die Einschränkung der privaten Eigentumsrechte zur Lösung der grossen nationalen Krise des revolutionären Frankreichs stellten. Die Arbeiterbewegung, als es sie noch als kämpferische Strömung gab, hatte als ihr Kernmotiv die Demokratisierung der gesellschaftlichen Produktion und Verteilung und damit die Einschränkung der privaten Verfügungsgewalt der Unternehmer über den gesellschaftlichen Reichtum. Die Bewegungen der Bauern und Bäuerinnen beispielsweise in Lateinamerika in den 1990er Jahren stellte sich gegen die Durchsetzung der Marktliberalisierungen im Agrarbereich, also gegen die Zerschlagung ihrer Existenzgrundlagen durch die Stärkung der Eigentumsrechte der grossen Landbesitzer und des Agrobusiness. Die Anti-Globalisierungsbewegung bekämpfte ab der Mitte der 1990er Jahre in Europa, den  USA und Lateinamerika erfolgreich die «Erste grosse Welle» der weltweiten Marktliberalisierungen, wie sie durch die damals durch die eigens zu diesem Zwecke gegründete WTO angestossen wurde.

Die aktuell unter grösster Geheimhaltung geführten Verhandlungen zu weltumspannenden Freihandelsverträgen wie etwa TISA, CETA, TTIP, TTP sind ein weiterer Vorstoss der internationalen Bourgeoisie, ihre Gesetze der Profitlogik weltweit durchzusetzen. Dies kann nur unter Ausschaltung der Öffentlichkeit und der demokratischen Formalitäten geschehen. In der Schweiz, wo die politischen Mechanismen der Stilllegung sozialer Mobilisierungen besonders ausgeprägt sind, kam im Gegensatz zu anderen Ländern, etwa Deutschland, trotz mehreren Ansätzen bislang noch keine nachhaltige Kampagne gegen TISA, dem Abkommen zum Handel mit Dienstleistungen zustande. Wir  berichteten.

Der folgende Beitrag aus Junge Welt vom 10. Oktober 2015 geht auf die aktuelle Situation der Kampagne in Deutschland ein. [Redaktion maulwuerfe.ch]

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André Scheer. Die Befürworter des transatlantischen Freihandelsabkommens TTIP sehen ihre Felle davonschwimmen. Während sich Vizekanzler und Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) wegduckt, profiliert sich die untote FDP als letzte Hoffnung des »Freihandels«. Am Vortag der Großdemonstration gegen TTIP in Berlin schrieb FDP-Chef Christian Lindner in der Freitagausgabe der Saarbrücker Zeitung: »Die TTIP-Gegner sorgen sich um Demokratie, Rechtsstaat, Umwelt- und Verbraucherschutz. Alles unbegründet.« Der Chefkolumnist des Berliner Boulevardblatts B.Z., Gunnar Schupelius, bezeichnet den Protestaufruf als »fundamentalistisch, auch nationalistisch und etwas hysterisch«. Ins gleiche Horn bläst das unternehmernahe »Institut der deutschen Wirtschaft«. Die »Skeptiker« würden »ungerechtfertigte Panikmache« verbreiten. Das Institut zieht einen Vergleich zur Einführung des EU-Binnenmarkts in den 90er Jahren: »Mittlerweile haben sich die gesamtwirtschaftlichen Effekte als eindeutig positiv erwiesen.«

»Eindeutig positiv«? Für das deutsche Großkapital offensichtlich. Für mehr als 48 Prozent der Jugendlichen in Spanien und Griechenland ganz bestimmt nicht. Sie sind erwerbslos – auch eine Folge des Binnenmarktes. Denn durch ihn konnten die deutschen Konzerne die anderen EU-Länder mit Waren überschwemmen, die Staaten in die Verschuldungsfalle treiben und schließlich über Berlin und Brüssel zu milliardenschweren »Rettungsprogrammen« zwingen – Von denen profitierten wieder deutsche Banken und Konzerne.

Am Donnerstag warf die Verbraucherschutzorganisation Foodwatch der CDU vor, systematisch unrichtige Informationen über TTIP zu verbreiten. So würden ihre Vertreter regelmäßig insbesondere die wirtschaftlichen Potentiale des Abkommens zu positiv darstellen: »Parteibroschüren enthalten falsche Angaben, Abgeordnete überzeichnen die Chancen von TTIP gegenüber den Bürgern und im Bundestag.« Außerdem habe mit Michael Grosse-Brömer ein hochrangiger CDU-Politiker aus einer Studie zitiert, »die es gar nicht gibt«.

Die Aufregung der TTIP-Lobbyisten ist verständlich. Am Mittwoch übergaben Gegner des Abkommens der EU-Kommission in Brüssel 3,3 Millionen Unterschriften für den Aufruf »Stop TTIP«. Damit hat dieser zwar mehr Unterzeichner als jede andere »Europäische Bürgerinitiative« bisher, doch die Behörde will sie nicht offiziell als solche anerkennen. Täte sie es, müsste sie das Thema beraten – mehr nicht. Weiter gehen die politischen Beteiligungsrechte der Bürger in der EU nicht.

Die Hoffnungen der TTIP-Gegner richten sich deshalb auf den Ratifizierungsprozess. In fast allen EU-Staaten müssten die Parlamente dem Vertrag zustimmen, und in der Hälfte sind Referenden möglich. Deshalb gaben am Freitag mehrere niederländische Organisationen den Startschuss zur Unterschriftensammlung für ein Plebiszit gegen TTIP und CETA, das Freihandelsabkommen mit Kanada. Ein solches »Veto-Referendum« gegen bereits beschlossene Gesetze oder internationale Verträge ist möglich, wenn zuvor mindestens 300.000 Menschen innerhalb von sechs Wochen eine entsprechende Initiative unterstützt haben. Zu einer Abstimmung käme es, sobald die Regierung in Den Haag einem der Verträge zustimmt. Das Ergebnis eines Referendums wäre zwar rechtlich nicht bindend. Es würde der niederländischen Politik jedoch schwerfallen, TTIP und CETA gegen ein Votum des Volkes durchzusetzen.

 

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