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Wo und warum die französischen Arbeiter den ultrarechten Front National wählen

Eingereicht on 27. Oktober 2015 – 9:54

In diesen Tagen erscheint im Kölner PapyRossa Verlag der Band «Der Front National – Geschichte, Programm, Politik und Wähler» von Sebastian Chwala.

Dieser Vorabdruck des Kapitels  «Die Arbeiter und der FN – eine natürliche Allianz?» wurde der Jungen Welt vom 27. Oktober 2015 entnommen, das von der jW leicht gekürzt und redaktionell bearbeitet wurde. Der Politikwissenschaftler Sebastian Chwala lebt in Marburg. Am 1. November stellt er sein Buch auf der Linken Literaturmesse in Nürnberg vor.

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Sebastian Chwala. Das Klassenbewusstsein der Arbeiter in Frankreich nimmt ab. Bereits 1978 offenbarten die demoskopischen Erhebungen eine starke Beunruhigung, die mit dem Gefühl einer in die Krise geratenen Gesellschaft einherging. Wichtigste Faktoren für die Konservierung des Klassenbewusstseins waren für die Sozialwissenschaftler Guy Michelat und Michel Simon die Existenz relativ einheitlicher und solidarischer Kollektive auf unterer Ebene (Betrieb, Wohnviertel) und die Existenz starker Organisationen (Gewerkschaften, Parteien), die im politischen und sozialen Raum die Arbeiterideen geltend machen konnten und von denen sich die Arbeiter vertreten fühlten.

Im Verlauf der 1980er Jahre brach das Gefühl der Zugehörigkeit zur Arbeiterklasse weg, was parallel mit den Strukturveränderungen in der Industrie, der anhaltenden Massenarbeitslosigkeit und ihrer zerstörenden Wirkung auf Individuen und Kollektive sowie einem entsprechenden sozialen Bewusstsein einherging. Dabei erlitt der Parti communiste français (PCF) seinen stärksten Vertrauensverlust vor allem in den sehr weit links stehenden Bevölkerungsgruppen, die sich in der Folge dem Parti socialiste zuwendeten. Zugleich fand die Ideologie des Liberalismus für ein Jahrzehnt starken Zuspruch.

Die Entwicklung der Mitgliedszahlen der Kommunistischen Partei nach unten ist im negativen Sinne eindrucksvoll. Hatte die Partei 1979 noch mehr als 700.000 zahlende Mitglieder, waren es 2001 nur noch zirka 139.000. Ab den 1990er Jahren begann der Glauben an die Institutionen zu erodieren. Das ging mit einer starken Hinwendung zu kollektiven Aktionsformen und einem »Zweiten Bruch« mit der parteipolitischen Linken einher. Diesmal war der Parti Socialiste betroffen. Die Wahlenthaltung in der »Classe populaire« wurde in der Folge besonders massiv. Dies ging einher mit dem weiteren Rückgang des Klassenbezugs, führte aber nicht in erster Linie zu einer Unterstützung des Front National.

Dass das Zugehörigkeitsgefühl zur politischen Linken in den alten PCF-Hochburgen nicht vollständig verlorengegangen ist, zeigt sich im »Roten Gürtel«. Damit sind die Pariser Vorstädte gemeint, die seit den 1920ern stabile Hochburgen der Linken sind. So stellt der PCF nach wie vor etliche Bürgermeister und auch Abgeordnete. Die Wahl linker Kandidaten geht aber oft mehr auf kulturelle Gründe denn auf inhaltliche Überzeugung zurück. Dies hat zur Folge, dass in jenen Gemeinden die Wahlergebnisse des PCF oder der Kandidaten, die von der Partei unterstützt werden, zwar nach wie vor bis zu 15 Prozent über dem nationalen Durchschnitt, die Wahlergebnisse des FN aber darunter liegen. Die Wahlbeteiligung bewegt sich allerdings um rund zehn Prozent unter dem nationalen Durchschnitt.

Die Gegengesellschaft, die in roten Städten wie St. Denis oder Gennevilliers unter der Führung der Kommunistischen Partei Frankreichs einst vorhanden war, ist also verschwunden. Diese ermöglichte es am Höhepunkt der Arbeiterbewegung und des »fordistischen Klassenkompromisses«, eine revolutionäre Rhetorik mit einer reformerischen Kommunalpolitik zu verbinden. Dies hatte nicht nur zum kräftigen Ausbau der sozialen Infrastruktur geführt, sondern auch zum Aufbau einer arbeiterbewegten Kultur- und Vereinspolitik. Gleichzeitig hatten sich die kommunistischen Bürgermeister bedingungslos hinter die Arbeitskämpfe in den Großbetrieben gestellt.

»Stolze Rebellen«

Doch die Deindustrialisierung der Pariser Vorstädte seit dem Ende der 1970er Jahre schränkte die Handlungsfähigkeit der Gemeinden immer weiter ein. Mit dem »Bersten« der fordistischen Lohnarbeitsgesellschaft verlor der »Gemeindekommunismus« mehr und mehr seinen progressiven Gehalt. Statt sich wie bisher auf die Seite der Arbeiter zu stellen, waren die Bürgermeister nun bemüht, gute Beziehungen zu den verbliebenen Unternehmen aufzubauen – in der Hoffnung, wenigstens eine kleine wirtschaftliche Basis zu retten. Es waren Unternehmen, in denen die Ausgliederung von Geschäftsbereichen immer bedeutender wurde, und die Konkurrenz zwischen Leiharbeitern und Festangestellten, die die Herausbildung von betrieblicher Solidarität verhinderte und die Gewerkschaftsarbeit auf Abwege führte.

An die Stelle des Klassenkampfes ist der Kampf um Arbeitsplätze getreten. Die Entfremdung zwischen den Arbeiterparteien und der beherrschten Klasse ist derart vorangeschritten, dass in manchen Stadtvierteln von St. Denis ein Drittel der Wähler noch nicht einmal in ihren Wahllokalen registriert ist. Diese »Falschregistrierten« machen den Großteil der Nichtwähler aus. Die Arbeiter wählen nicht in erster Linie rechts, sondern neigen zur Enthaltung. Bei der Präsidentschaftswahl von April 2002 gingen 31 Prozent der Arbeiter nicht zur Abstimmung. Des weiteren haben 29 Prozent eine Linkspartei gewählt (hier sind die Grünen mit eingerechnet), 22 Prozent eine klassische Rechtspartei und »nur« 16 Prozent Le Pen.

Bei Michelat und Simon wird deutlich, dass die Werte der politischen Linken auch im Bewusstsein der Unterstützer unvereinbar mit denen des FN sind. Es wird umso entschiedener die Linke unterstützt, je weniger fremdenfeindlich und autoritär die Befragten sind. Gleiches gilt für den Politisierungsgrad und die Zustimmung zu demokratischen Formen des öffentlichen Lebens. Teil dieser Gruppe sind die »stolzen Rebellen«, die noch über Klassenbewusstsein verfügen und in einigen wenigen Bastionen der fordistisch geprägten Industrie Betriebsverlagerungen und Werksschließungen standgehalten haben.

Prekäre Lebensverhältnisse

Es zeigt sich also, dass innerhalb der »Classe populaire« die Wahlenthaltung mehr und mehr zugenommen hat. Doch wer sind diese Nichtwähler, und durch welche gesellschaftspolitischen Einstellungsmuster lassen sich diese charakterisieren? Diejenigen, die dabei zuerst ins Auge fallen, sind die Prekären – eine soziale Gruppe, die sich in Frankreich ebenfalls verstärkt den Vorwurf gefallen lassen muss, für die Sirenengesänge des FN anfällig zu sein und die sich sehr stark in den Banlieues konzentriert. Sie sind meistens auf staatliche Unterstützungsleistungen angewiesen, die allerdings oftmals nicht zum Überleben reichen.

Relevante Teile der prekär Beschäftigten sind junge Menschen. Viele sind auf die seit 2008 bestehende Möglichkeit angewiesen, »aufzustocken«, das heißt Zuschüsse zum Einkommen aus der neu geregelten Grundsicherung zu beantragen. Diese Leistungsansprüche besitzen allerdings nicht alle, was zu Konflikten unter den Armen führt. Zwar sind die Sozialausgaben in Frankreich mit einem Anteil von ca. 30 Prozent am BIP im Vergleich zum Rest Europas (ca. 22 Prozent) noch relativ hoch. Trotzdem können, je nach Bemessungsgrundlage, zwischen acht und 14 Prozent der Einwohner Frankreichs als arm bezeichnet werden. Somit sind mehr als sechs Millionen Menschen auf staatliche Hilfeleistungen angewiesen.

Die seit 2008 wieder ansteigende Zahl der Erwerbslosen hat dazu geführt, dass die in prekären Zuständen lebenden Menschen nicht mehr nur direkt der Arbeiterklasse entstammen. So sind heutzutage zwar weiterhin deren Angehörige am stärksten betroffen, und können die Lebens- und Arbeitsverhältnisse von 52 Prozent der Arbeiter als prekär bezeichnet werden. Allerdings lässt sich Ähnliches inzwischen auch über die Lebensverhältnisse von 42 Prozent der Angestellten, 47 Prozent der kleinen Geschäftsleute und 37 Prozent der Bauern sagen.

Studien aus jüngster Zeit betonen gerade unter Prekären eine besonders hohe Zustimmung zu rassistischen und xenophobischen Einstellungsmustern. Doch sind diese hier nicht kulturell und intellektuell überformt. Sie sind eingebettet in rein ökonomische und soziale Konflikte, die im Vordergrund stehen. Dabei macht verständlicherweise die Kritik an der wachsenden Kluft zwischen arm und reich den Mittelpunkt aus.

Allerdings durchzieht die prekären Milieus ein Konflikt, der sich zwischen den Beschäftigten im Niedriglohnbereich, die zu viel verdienen, um in den Genuss von Sozialleistungen zu kommen, und den Erwerbslosen abspielt. So sehen sich letztere dem Vorwurf ausgesetzt, leistungslos in den Genuss von Vorteilen des Sozialstaates zu kommen, während erstere ihre Bemühungen, der Armut zu entkommen, nicht genügend gewürdigt sehen. Es ist ein Konflikt zwischen zwei sozialökonomisch sehr nahen gesellschaftlichen Gruppen, die mit der Abwertung derer einhergeht, die sozialstaatliche Leistungen empfangen.

Die französischen Politikwissenschaftlerinnen Nathalie Fuchs und Nonna Mayer schreiben in einem gemeinsam verfassten und 2015 erschienenen Aufsatz zum Bewusstsein der Niedriglöhner: »Die beste Möglichkeit, sich abzugrenzen und sich selbst über diese [Anmerkung des Verfassers: gemeint sind die Empfänger von Sozialleistungen] zu erhöhen, besteht darin, jenen die eigenen moralischen Qualitäten entgegenzusetzen: Arbeit, Leistungsbereitschaft und Ehrlichkeit unterscheiden die ›guten‹ von den ›schlechten‹ Armen. Das Themenfeld ›Sozialstaat‹ führt dazu, dass eine ethnozentrische Dimension Teil der Debatte wird. Der Fremde, der Migrant, wird als der Profiteur von Sozialleistungen schlechthin wahrgenommen, von Leistungen, die ihm nicht zustehen«.

Es ist bezeichnend, dass diese Gruppen, die sich einkommensmäßig betrachtet am oberen Ende des Prekariats befinden, eine weit überdurchschnittliche Bereitschaft erkennen lassen, dem Front National und Marine Le Pen ihre Stimmen zu geben. Dagegen wächst die Bereitschaft, links oder sogar linksradikal zu wählen, mit steigendem Prekaritätsgrad an.

Damit ist die These, dass radikale politische Angebote in den einkommensschwachen Milieus Rückhalt finden, nicht vollständig von der Hand zu weisen. Sie führen allerdings eher zu einer Erosion der bürgerlichen Rechtsparteien, die unter Prekären weniger Zuspruch erhalten als der FN. Währenddessen dominieren die Sympathien für die Parteien der Linken.

Rechte Arbeiter

In Arbeitermilieus bzw. in solchen der »Classe populaire« existieren also rechte Einstellungen. Michelat und Simon bezeichnen sie als »Arbeiter-Autoritarismus«. Damit meinen sie Intoleranz gegenüber Minderheiten und verkrampfte Nähe zur nationalen Identität. Diese korrelieren mit einem positiven Bezug zum Liberalismusbegriff, der die Entscheidung, den FN zu wählen, wesentlich erleichtert. Es wird deutlich, dass der Ethnozentrismus, der zur Unterstützung des FN führt, nicht dasselbe ist wie die Kapitalismuskritik der alten Arbeiterparteien. Demzufolge scheint die These des Politikwissenschaftlers Florent Gougou, dass die jüngeren eher unpolitischen Arbeitermilieus den FN aus denselben Gründen unterstützen wie ihre Eltern und Großelterngeneration den PCF, mehr als fraglich. Eine Veränderung der Beweggründe, rechts zu wählen, hat nämlich nicht stattgefunden. Wie die von Gougou erwähnte, nach rechts radikalisierte »proletarische« Traditionsrechte sind diese Gruppen ebenfalls aufstiegsorientiert, wollen Techniker, Meister oder leitende Angestellte werden. Selbst 1978, zu Zeiten, als die politische Linke noch die Arbeiterbewegung zu dominieren schien, gaben 32 Prozent der befragten Arbeiter an, den Traum zu hegen, ein eigenes kleines Unternehmen zu eröffnen und die »Arbeiterexistenz« hinter sich lassen zu wollen.

Dass es sich bei den FN wählenden Arbeitern um solche »rechten Arbeiter« handelt, wird deutlich, wenn man die Ergebnisse einer Befragung im Vorfeld der Wahlen 2007 zu Rate zieht. Dort schätzten sich von 100 befragten Arbeitern, die sich als FN-Wähler bezeichnet hatten, 43 als »eher rechts« ein, während sich 41 für »weder rechts, noch links« hielten oder nicht antworten wollten. Nur 16 meinten, »eher links« zu sein. Bei Befragungen im Jahr 2011 sahen sich sogar 61 Prozent der FN wählenden Arbeiter der »Mitte« oder »eher Rechts« zugehörig, während die Arbeiter, die nicht für die Partei von Marine Le Pen stimmen wollten, sich zu 58 Prozent als »eher links« einordneten. Der Front National hat seine Unterstützung aus der »Classe populaire« also vor allem aus dem »rechten Lager« rekrutiert.

Tatsächlich gibt es ganze Regionen, die trotz hohen Arbeiteranteils stark nach rechts tendieren. Dort ist die Wahlbeteiligung im Gegensatz zu den alten linken Hochburgen teilweise sogar überdurchschnittlich hoch. Ein Beispiel dafür ist die Industrieregion von La Riboire. Hier erzielen die Kandidaten der Rechten (UMP und FN) seit den 2000er Jahren bei Wahlen überdurchschnittliche Ergebnisse. So erhielt Jean-Marie Le Pen hier 2002 30 Prozent, während seine Tochter 2012 32 Prozent der abgegebenen Stimmen erzielte – bei einer Wahlbeteiligung, die in einzelnen Gemeinden sogar bei 88 Prozent lag. 2007 gewann Nicolas Sarkozy hier im zweiten Wahlgang 73 Prozent der Stimmen.

Relativ unbemerkt hat sich der Anteil der ländlichen Regionen, die sich durch eine erhöhte Konzentration von Arbeitermilieus auszeichnen, deutlich erhöht. Zwar darf man nicht unterschlagen, dass auch viele der alten, lange links dominierten Gemeinden »Inseln« (so die von der Stahlindustrie geprägten Gemeinden in Lothringen) in eher ländlichem Umfeld waren bzw. sind. Doch viele Großkonzerne (Danone, Louis Vuitton, Sanofi etc.) errichten heute Produktionsstätten ausschließlich außerhalb der Städte. Die hier beschäftigen Angehörigen der »ländlichen Arbeitermilieus« sind in kleinen Produktionsbetrieben tätig und in der Regel Immobilienbesitzer.

Corporate identity

Die Region La Riboire erlebte seit den 1980ern die Entstehung einer gehobenen Arbeiterschicht. Während der Anteil der ungelernten Arbeitskräfte zwischen 1982 und 1999 von 23 Prozent auf 18 Prozent sank, stieg dagegen der von Technikern und Aufsichtspersonal von 9 Prozent (1982) auf 18 Prozent (1999), wobei der Anteil der Facharbeiter stabil bei 30 Prozent blieb. Gleichzeitig zeichnet sich diese Region nicht durch hohe Arbeitslosigkeit aus. So arbeiteten hier im Jahr 2011 etwa 3.700 Festangestellte und 1.000 bis 2.000 Zeitarbeitskräfte in mehr als 100 Unternehmen. In dieser Region haben sich sowohl einige Zweigwerke großer Konzerne angesiedelt als auch kleine und mittlere Unternehmen, die als Zulieferer fungieren.

Diese neuen Industrieparks im Hinterland der großen Städte, wie La Riboire, entstanden in den 1980ern, um die »Festungen der Arbeiterklasse« zu umgehen, und sie zeichneten sich durch einen Bruch mit der traditionellen Arbeitsorganisation aus. Charakteristisch dafür waren die Nutzung von Outsourcing und die Ausdifferenzierung von Arbeitsbeziehungen. Durch die rechte Sozialisierung der bäuerlich geprägten Bevölkerung konnten in La Riboire auch niemals linke Organisationskerne entstehen. Dagegen dominierten seit jeher die rechtsliberalen Kräfte, die auch die Gründung des Industrieparks anstießen.

Durch die Dominanz der kleinen und mittleren Produktionsstandorte größerer Konzerne, die ergänzt werden durch Familienunternehmen, zeichnet sich La Riboire aber auch durch ein enges Beziehungsnetzwerk zwischen den Beschäftigten und der Management- und Eigentümerebene aus. Dadurch ergeben sich nicht nur gefühlte flache Hierarchien, die einen schnelleren sozialen Aufstieg innerhalb der Unternehmen möglich erscheinen lassen. Es kommt auch im besonderen Maße zu einer Identifikation der Beschäftigten in den Familienunternehmen mit den Zielen und Vorstellungen der Eigentümer. So nehmen die Arbeiter von La Riboire zum Großteil den Standpunkt ein, dass die Konkurrenzfähigkeit des eigenen Betriebes Vorrang hat.

Diese »Nähe« zu den Eigentümern geht mit der Bevorzugung des »Familienbetriebes« als optimaler Unternehmensform einher. Besonders hier sehen die Arbeiter von La Riboire die Möglichkeit, dass die eigene Leistungsbereitschaft und das entsprechende Engagement entsprechend gewürdigt und mit beruflichem Aufstieg belohnt werden. Dementsprechend ist auch die Bereitschaft, sich über das Mindestmaß hinaus im Unternehmen einzubringen, allgemein üblich. Diese Individualisierung der beruflichen Karrieren lässt sich mit den politischen Forderungen der Gewerkschaften und der Linksparteien nur schwer vereinbaren. Eine auf Konflikt und auf eine Beschränkung der Handlungsfreiheit der Unternehmensleitungen angelegte innerbetriebliche Gewerkschaftsarbeit würde hier als Risiko für die das eigene Fortkommen betrachtet werden. Diejenigen, für die sich dieses Verhalten auszahlt, lehnen demzufolge die These ab, dass Erwerbslosigkeit ein gesellschaftliches Problem sei.

In diesem Milieu, wo die Forderung nach harter Arbeit als Basis der eigenen Existenz angesehen wird und mit der Ablehnung eines »exzessiven Sozialstaates« einhergeht, finden die politischen Parolen des FN bei vielen ein offenes Ohr. Diesen Haushalten ist allen der Wunsch nach einem weiteren sozialen und ökonomischen Aufstieg gemein; ebenso die Hoffnung, vielleicht einmal auf »eigene Rechnung arbeiten« und ein eigenes Geschäft eröffnen zu können, wie es einzelne bereits geschafft haben. Diejenigen, denen dieser Schritt gelungen ist, teilen in der Folgezeit die klassischen Werte des Kleinunternehmertums. Obwohl sie also auf dem Weg sind, ökonomisch in die Mittelschicht aufzusteigen, unterscheiden sie sich von den urbaneren Mittelschichten in einem zentralen Punkt: der unbedeutenden Rolle, die Bildungstitel im Bewusstsein dieser Arbeiter spielen. Während die Angehörigen der städtischen Mittelschichten lange Ausbildungszeiten wünschen, um mit dem erworbenen Bildungskapital (vermeintlich) sichere Arbeitsplätze, vor allem im öffentlichen Dienst, anzustreben, bleiben die Arbeiter von La Riboire auf den Erwerb des technischen Know-hows beschränkt, den ihnen die lokalen Unternehmen anbieten. Die Hoffnungen, den eigenen Lebensstandard halten und eventuell steigern zu können, sind deshalb direkt verbunden mit der Zukunft des Unternehmensstandortes La Riboire.

Es lassen sich mehrere Punkte festhalten: Zwar scheint es auf den ersten Blick so zu sein, dass in den letzten 20 Jahren ein massiver Rechtsruck in der Arbeiterklasse stattgefunden hat. Betrachtet man die Entwicklung aber genauer, fällt auf, dass die Aussage so pauschal nicht stimmt. Vielmehr lässt sich eine »Demobilisierung« der Linkswähler erkennen, die mit der tiefen Krise der alten fordistischen Industriestruktur verbunden ist. So ist die politische Linke samt den Gewerkschaften nach dem Wegbrechen der großen Industriekomplexe, die die Basis ihrer Stärke waren, in die Defensive geraten, mit der eine Desillusionierung vieler ehemals aktiver Partei- und Gewerkschaftsmitglieder einherging. Dies wird deutlich durch die überdurchschnittliche Wahlenthaltung in den alten linken (PCF-)Hochburgen, aber eben nicht durch hohe FN-Stimmenanteile.

Für die rechts sozialisierten Arbeitermilieus vor allem in Regionen, die niemals von der Arbeiterbewegung erfasst worden sind und die den linken Wertekodex nicht teilen, ist eine Stimme für den Front National aber kein Bruch mit ihrem bisherigen Bewusstsein, da sie die zentralen (kleinbürgerlichen) Inhalte der Programmatik des FN teilen, da sie selbst einem nationalen Kapitalismus, der durch »kooperative Beziehungen« zwischen Arbeit und Kapital geregelt wird, zustimmen. Neben der sicherlich notwendigen Debatte über die Auswirkungen der neoliberalen Durchdringung der Arbeitswelt müssen also starke FN-Arbeitervoten auch immer unter einem historisch-regionalen Aspekt betrachtet werden.

 

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