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Über die komplexen Zusammenhänge des revolutionären Prozesses in Syrien

Eingereicht on 23. März 2014 – 18:24

Dieses Gespräch mit Munif Muhem wurde vom Herausgeber der arabischen revolutionär-marxistischen Zeitschrift Permanente Revolution am 1. Dezember 2013 geführt; diese Zeitschrift wird gemeinsam herausgegeben vom Sozialistischen Forum (Libanon), der Revolutionären sozialistischen Organisation (Ägypten), der Strömung Al-Mounadil (Marokko), der Liga für eine Arbeiter-Linke (Tunesien), der Strömung der revolutionären Linken (Syrien) und der Vereinigung irakischer Kommunisten. Es wurde zuerst in Permanente Revolution n° 4 vom Januar 2014 veröffentlicht. Die deutsche Übersetzung (Redaktion Maulwuerfe)erfolgte aufgrund der französischen Übersetzung (siehe www.europe-solidaire.org…… ), die aus dem Arabischen von Luiza Toscane besorgt wurde.

Permanente Revolution: Die erste Phase des Aufstands gegen das syrische Regime hatte einen friedlichen  Charakter und verleiht den Eindruck einer allgemeinen Volksbewegung, an der sich Personen aller Religionen und Glaubensrichtung, aus allen sozialen Schichten, allen Altersklassen beiderlei Geschlechts, usw. beteiligten. Aber sobald er begann sich zu militarisieren, rückte der religiöse und konfessionelle Charakter in den Vordergrund, vor allem in seiner militärischen Ausprägung. Was denkst du darüber, und was sind die Gründe für diese Entwicklung?

Munif Mulhem: Die Militarisierung ist keine Entscheidung der friedlichen Demonstranten für Freiheit und Würde. Es ist die durch das Regime ausgeübte Gewalt gegen die friedliche Bewegung, die zur Militarisierung geführt hat; die Schüsse auf die Demonstranten in den Strassen und auf den Plätzen, oder die Verhaftungen und die Folterungen bis zum Tode sind es, die die Revolution zu den Waffen gezwungen haben. Noch in den ersten Monaten war das Tragen von Waffen im revolutionären Lager verpönt. Dieses war der Desertion von Soldaten geschuldet, die sich weigerten ihr Volk zu töten, oder die zu ihrer Verantwortung gegenüber ihrem Volk standen, und die sich dieser weltweit unerhörten Gewalt gegenüberstellten. Die dann entstandenen militärischen Formationen haben sich religiöse Bezeichnungen zugelegt – so etwa die Faruk-Brigade[i] -, obwohl dies daraus noch keine religiöse Einheiten machte.

Die innerhalb dieser Formationen stattgefundene Veränderung ist das Ergebnis der Entwicklung der religiösen Strömungen wie sie vor der Revolution in Syrien vorhanden waren, oder wie sie sich nach dem Beginn des revolutionären Prozesses gebildet haben. Sie haben ihre eigenen Strukturen aufgebaut und auf ihre eigene Rechnung und für ihre eigenen politischen Zielsetzungen gearbeitet, nachdem sie sich als ausserstande erwiesen, den durch desertierte Militärs geführten militärischen Einheiten Einhalt zu gebieten. Ferner glaubten sie, dass das Regime vor dem Sturz stehen würde, wie dies gegen Ende von 2011 scheinen konnte. Zudem haben sie eigene Milizen als zukünftige Druckmittel gegründet, um nach dem Sturz des Regimes mit diesen Milizen über die revolutionären Strömungen die Hegemonie zu erlangen; sie haben sich dabei die Erfahrung in Libyen zunutze gemacht und wollten aus dem Zustrom von Geld und Waffen von Staaten, Organisationen und Einzelpersonen aus der Golfregion Gewinn für ihre Zwecke schlagen.

Auf diese Weise wurden die abtrünnigen Offiziere marginalisiert und es traten Brigaden in den Vordergrund, die aus ihrer religiösen Ideologie und ihren Zielen, die von denen der Revolution abweichen, kein Geheimnis machten. Der unkontrollierte Zufluss von Mitteln aus dem Ausland hat die Begehrlichkeit aller Art von Abenteurern  und von jedem, der seine eigene Brigade oder sein Fähnlein im Namen des Islam aufbauen wollte, angestachelt. Sie alle hofften, ihren Anteil an Waffen und Geld abzuzwacken, solange sie sich auf den Islam beriefen. Die Entwicklung des Regimes während der letzten 40 Jahre, seine zerstörerischen Angriffe gegen die sozialen Netzwerke in Syrien und dessen Erfolge in der Konfessionalisierung der Volksbewegung seit dem Beginn der Revolution, sein Rückgriff auf alle Formen von Ermordungen und konfessioneller Willkür, all dies hat diesen Kräften den Weg bereitet und sie in ihrer Orientierung bestärkt.

Permanente Revolution: In einem Gespräch mit dir vom Januar 2012, das von der Zeitschrift Murassilun geführt wurde, hast du gesagt, das man für den Sturz des Regimes nicht um den Einsatz von militärischer Gewalt herumkomme. Andererseits haben viele in Syrien, an deren Spitze das Koordinationskomitee, dazu aufgerufen, eine militärische Lösung abzulehnen und einzig  auf den friedlichen Kampf für die Beseitigung des Regimes zu setzen. Welches sind die Gründe für deine Sichtweise?

Munif Mulhem: Seit dem Ende der 1970er und dem Beginn der 1980er Jahre hat sich die Auseinandersetzung zwischen dem Regime und den religiösen Kräften in einen militärischen Konflikt verwandelt. Diese damals als kämpfende Vorhut der Muslimbrüder bezeichneten Kräfte bildeten die vorgeschobene Spitze des Kampfes gegen das Regime. Die gegen Ende der siebziger Jahre eintretenden Verwandlungen des Regimes waren qualitativer Art, vor allem durch die Schaffung der Sicherheitsapparate innerhalb der Armee und der Polizei, die einen konfessionellen Charakter hatten. Diese Veränderungen haben uns in der Partei kommunistische Aktion, der ich damals angehörte, zur Überzeugung gebracht, dass der Sturz des Regimes nicht friedlich sein würde – und dies unabhängig von der Stärke der Massenbewegung, die auf dessen Sturz ohne Einsatz von militärischen Mitteln hinarbeitet – und dass die Desertionen aus der Armee der wichtigste Faktor sein würde, um der Gewalttätigkeit des Regimes und seinen konfessionellen  Sicherheitsapparaten entgegentreten zu können.

Mehrere Monate nach dem Beginn der Revolution und aller sie begleitenden beispielslosen Gewalt angesichts einer friedlichen Bewegung hat sich  meine Analyse mit dem Einsetzen der Desertionen aus der Armee bestätigt: Das heisst, das Regime wird nicht mit friedlichen Mitteln zum Abtreten gebracht werden. Die Frage ist nun: Wie kann die Anzahl der Opfer in dieser Konfrontation begrenzt werden?

Der Charakter der Militarisierung der Revolution, von der ich oben gesprochen habe, hat jedoch alle Voraussagen Lügen gestraft. Anstatt dass die militärischen Kräfte der Revolution gestärkt worden wären, befinden wir uns von Kräften  gegenüber, die das Regime bekämpfen und vor ihrem Sieg konterrevolutionäre Verbände bilden.

Von daher hat die Frage keinerlei Sinn mehr, ob man für oder gegen die Militarisierung sei. Der Sturz des Regimes ist der einzige Weg, um den aktuellen Konflikt loszuwerden und stellt den ersten Schritt dar, um sich der konterrevolutionären militärischen Kräfte zu entledigen. Die Bewahrung des Regimes würde die Fortsetzung des Bürgerkrieges über die nächsten hundert Jahre bedeuten….

Permanente Revolution: Einige Analysten schätzen, dass der wichtigste Faktor für den Zusammenhalt der Volksbewegung seit dem Beginn ihres Zusammenstosses mit dem abscheulichen  diktatorischen Regime die Forderung nach Freiheit und menschlichen Würde gewesen sei; andere wiederum stimmen darin überein, dass sozio-ökonomische Faktoren  in diesem Prozess ausschlaggebend seien. Wie stellst du dich zu dieser Frage?

Munif Mulhem: Es besteht kein Zweifel, dass in den vergangenen zehn Jahren in Syrien entscheidende sozio-ökonomische Umwandlungen stattgefunden haben, die gegen Ende der 1990er Jahre eingesetzt hatten, und dass am Ende der 1980er Jahre mit dem Sieg des Regimes über die syrische Opposition der grösste Schritt in diesen Veränderungsprozess getan wurde . Nach der Niederlage der bewaffneten islamischen Kräfte machte sich das Regime daran, alle oppositionellen Strömungen zu zerstören, handelte es sich nun um bürgerlich-demokratische oder um linke Kräfte und in der gesamten Gesellschaft griff ein Klima der Angst und des Schreckens um sich. Man kann sagen, dass Syrien am Ende der 1980er Jahre ein grosses Gefängnis und eine fürchterliche Aussicht für sein Volk geworden war.

Die Sieger, handelte es sich nun um die regierende Bürokratie, Zivilisten oder Militärs, waren der Ansicht, dass sie für ihren Sieg entschädigt werden müssten. Die Korruption weitete sich in unerhörter Weise aus, Reichtümer wurden angehäuft und Neureiche sind aufgetaucht, die die angehäuften Milliarden zur Schau stellten und ein verschwenderisches Leben führten, das auf die Masse der Bevölkerung, deren Leben sich schnell verschlechterte, provozierend wirkte. Die Mittelschichten, wovon die Staatsbeamten den Hauptteil bildeten, sind verschwunden. Ebenso haben die marktliberalen Reformen, vor allem die Öffnung der Märkte und die Preisgabe der Arbeitsplatzgarantie für Studienabgänger aus Universitäten und Lehrinstituten und die Einführung von Gesetzen zur Etablierung der Marktwirtschaft den Mittelschichten, den Handwerkern und den kleinen Unternehmern schwere Schläge beigefügt. Der UNO-Bericht zur menschlichen Entwicklung zu Syrien für 2005, der in Zusammenarbeit mit dem Programm der Vereinten Nationen für Entwicklung (PNUD) veröffentlicht worden ist, hat aufgezeigt, dass sich die Armut soweit ausgedehnt hat, dass nahezu ein Drittel der syrischen Bevölkerung an der Armutsgrenze lebt und dass drei Millionen noch ärmer sind. Bekanntlich konzentriert sich die Mehrheit davon auf dem Land, vor allem im Norden.

Die sozio-ökonomischen Veränderungen Syriens waren für die Auslösung der Revolution ein wichtiger Faktor, wenn auch nicht – so meine Einschätzung – der wichtigste. Die blinde und wilde Repression, die Verletzung der bescheidensten Formen von Freiheit und menschlicher Würde, die in den 1980er Jahren ihren Höhepunkt erreichten, die sich in der Gesellschaft einnistende Angst und die konfessionellen Diskriminierungen sind die wesentlichen Faktoren der Auslösung der Revolution.

Und die arabischen Revolutionen in Tunesien, Ägypten, Jemen und Bahrein haben für die Aktivistinnen und Aktivisten die Tore weit geöffnet, um die durch das Regime über vier Jahrzehnte errichteten Mauern der Angst zu durchbrechen. Deshalb stimmte der Slogan der Revolution für Freiheit und Würde mit den Wünschen der Revolutionäre und Revolutionärinnen am besten überein.

Permanente Revolution: Die abtrünnigen Elemente der regulären Armee, vor allem die Offiziere, wurden in den Brigaden und den kämpfenden Einheiten beiseite gedrängt und zwar sowohl in der sogenannten freien Armee wie auch auf der Ebene der Brigaden oder anderer Einheiten. Wie soll man dieses Phänomen verstehen und inwieweit ist es richtig, eine Verbindung zu einer regionalen Entwicklung herzustellen, genauer, zu einer konfessionellen Differenzierung, die die Natur der Kämpfe beherrscht?

Munif Mulhem: Bereits in ersten Monaten der Revolution fiel auf, dass die Aktivistinnen und Aktivisten im Allgemeinen keiner Partei oder einer politischen Kraft aus der Zeit vor der Revolution angehörten. Die Mehrheit der Militärs, die zu Beginn der Militarisierung der Revolution aus der Armee desertierten, gehörten überhaupt keiner politischen Strömung an, nicht einmal als Sympathisanten, mit Ausnahme der Baath-Partei, in die jeder freiwillig Militärdienst Leistende eintreten muss, wenn er denn in der Armee bleiben und befördert werden möchte. Diese Erfahrung hat sie davon abgehalten, sich auf welche Weise auch immer politisch und organisatorisch einzubinden.

Aus diesem Grunde haben sich die islamistischen Kräfte, unterstützt von regionalen Mächten bemüht, ihre eigenen militärischen Einheiten aufzubauen, die man als die einflussreichsten und hegemonialen Kräfte der Revolution ansehen kann. Wir haben die Schaffung von Hunderten von Einheiten und Brigaden mit einem islamistischen ideologischen Charakter beobachtet. Das Regime seinerseits hat Hunderte von Salafisten befreit, die in den ersten Monaten der Revolution inhaftiert worden waren, von denen viele mittlerweile zu Chefs von salafistischen Einheiten und Brigaden wurden. Gleichzeitig wurden Tausende von jungen friedlichen Aktivistinnen und Aktivisten verhaftet. Das Regime hat seit den ersten Monaten der Revolution behauptet, die konfessionellen und takfirischen (salafistischen) militärischen Kräfte und Organisationen zu bekämpfen. Diese regionalen Kräfte haben dem Regime das geliefert, was in Wirklichkeit nicht existierte.  Und sie haben dazu beigetragen, die Einheiten und die Brigaden, die durch desertierte Militärs geschaffen wurden, zu marginalisieren. Sie haben in einigen Fällen dazu beigetragen, diejenigen physisch zu liquidieren, die ihre Ablehnung von Praktiken geäussert haben, die von den Zielen und der Moral der Revolution sehr weit entfernt liegen.

Permanente Revolution: Wie erklärst du die Abwesenheit einer wirksamen Linken in der Führung der Bewegung, vor allem nach ihrer Militarisierung? Wie ist der Einfluss der Linken auf den allgemeinen Verlauf des aktuellen Konfliktes?

Munif Mulhem: Es ist für niemanden ein Geheimnis, dass der Einfluss der Linken in Syrien vor der Revolution schwach war; und dies im Wesentlichen aus zwei Gründen. Der erste ist spezifisch: Er ist die Frucht der Repression, der die Linke über die vergangenen Jahrzehnte ausgesetzt war. Der zweite ist allgemein und rührt her von dem weltweiten Zustand der Linken nach dem Zusammenbruch des «sozialistischen Blocks» in den 1990er Jahren. Die Intensität der Repression gegen die Volksbewegung, durch den diese gezwungen wurde, vom Pazifismus und vom zivilen Kampf in die Militarisierung überzugehen, hat allem, was von den linken Kräften übrig war, die Türe für eine Präsenz und einen Einfluss in der Revolution verschlossen. Ich denke, dass die Linke erst nach dem Sturz des Regimes eine wirkliche Rolle in Syrien spielen wird und erst dann auf die Bühne der demokratischen, friedlichen Auseinandersetzung zurückkehren kann. Die syrische Gesellschaft hat meiner Ansicht nach immer noch eine Menge von Kräften in Reserve, die die Gesellschaft vorwärtsbringen können, in Richtung des Aufbaus eines zivilen, modernen, demokratischen Staates und der Neuentwicklung der zerfallenen sozialen Zusammenhänge, selbst wenn sie, wie es von ferne scheint, von Kräften der Rechten überschwemmt wird.

Permanente Revolution: Glaubst du weiterhin, wie du in der Vergangenheit gesagt hast, dass Szenarien der Aufteilung, an denen sich der Iran beteiligt, zur Errichtung eines alawitischen Mikro-Staates führen könnte, sofern das aktuelle Regime jede Überlebensmöglichkeit? Was sind die Chancen einer Aufteilung?

Munif Mulhem: Um genau zu sein, habe ich im erwähnten Interview diesbezüglich folgendes gesagt : «Der Sturz des Regimes ist unausweichlich und die Situation eröffnet alle Möglichkeiten, wovon die schlimmste eine Aufteilung wäre; diese ist vorstellbar, da sie den regionalen Mächten gelegen käme, allen voran dem Iran, der die Errichtung eines verbündeten alawitischen Staates wünscht. Die Chancen auf eine Aufteilung sind nicht gross, denn ein grosser Teil der Gründe für eine Intervention regionaler oder internationaler Mächte in die syrische Situation ist ein Versuch der Schwächung des Irans in Syrien und seiner endgültigen Vertreibung aus der Region».

Heute, nach den in Syrien eingetretenen Entwicklungen, insbesondere der den extremistischen dschihadistischen Kräften zugeordneten und der von den internationalen Mächten eingenommenen Rolle sind die Risiken einer Aufteilung viel kleiner als früher. Diese geringfügige Möglichkeit würde nicht zu einem alawitischen Staat führen, sollte sie sich verwirklichen, sondern zu Kantonen einzelner bewaffneter Verbände, worunter der alawitische Staat lediglich einer unter anderen wäre.

Permanente Revolution: Im erwähnten Gespräch hast du gesagt, dass du zu Beginn den syrischen Nationalrat, wenn auch nur kritisch, unterstützt hättest. Ist dies heute immer noch deine Position, nach dem Auftreten der «nationalen Koalition», die, wie es scheint, nicht das Vertrauen eines nicht zu vernachlässigenden Teils der syrischen Bevölkerung hat, noch die generelle Anerkennung durch die kämpfenden Einheiten und Brigaden, nach deren neuerlichen Verlautbarungen zu schliessen, geniesst? Denkst du, dass ein dringendes Bedürfnis nach einer anderen Führung besteht, die wirklich die Interessen des syrischen Volkes repräsentiert, die es schafft, dieses zu polarisieren, seinen Kampf zu organisieren, seine Reihen zu schliessen, und die es dann zum Siege führen könnte? Und falls dies auf der Tagesordnung steht, welches sind deiner Auffassung nach die Bedingungen, um dies zu erreichen?

Munif Mulhem: Um dies klarzustellen, habe ich nach der Schaffung des Nationalrates und des Koordinationskomitees bei einer Konferenz angekündigt, dass der Nationalrat mich nicht repräsentieren würde, aber dass ich ihn nach Kräften unterstützen würde. Diese kritische Position findet Unterstützung, auch in einer Organisation der ich angehöre. Es ist eine andere Sache wenn du durch die Umstände gezwungen bist, eine politische Partei zu unterstützen, um die andere Partei anzugreifen, deren du dich entledigen willst. Genau dies geschieht nun unter den gegenwärtigen Bedingungen, sei dies im Hinblick auf den Nationalrat oder auf die Koalition, dem Fehlen – beziehungsweise der Unmöglichkeit der Schaffung – einer alternativen Führung des Kampfes zur Beseitigung dieses Regimes. Damals war ich überzeugt, dass eine politische Tätigkeit der demokratischen Kräfte im Schatten des laufenden bewaffneten Konfliktes keinen wirklichen Wert haben würde, was durch die seit Beginn des Jahres 2013 eingetretenen Entwicklungen bestätigt wurde. Die friedliche demokratische Betätigung in den sogenannten befreiten Zonen (Zonen unter der Herrschaft bewaffneter Kräfte)  hat unter den gleichen, wenn nicht unter mehr Schwierigkeiten gelitten wie in den Zonen, die durch das Regime beherrscht wurden. Solange man sich nicht vom Regime befreit hat und solange die Milizen nicht entwaffnet sind, wird jede demokratische Tätigkeit begrenzt bleiben.

Permanente Revolution : Denkst du, es gibt eine Chance für eine Einberufung von Genf 2, wofür die Russen Druck aufsetzen – vor allem nach den Entwicklungen um die chemischen Waffen, die das Regime im vergangenen Sommer eingesetzt hat und die seine Position im Konflikt geschwächt haben -,  das heisst dass die Konfliktparteien daran teilnehmen? Obwohl bekannt ist, dass diese Schwächung des Regimes zu einer Zuspitzung der Widersprüche bei seinen Gegnern führt? Was ist deine Ansicht zum Vorschlag eines Teils der syrischen Opposition bezüglich eines syrischen Taif-Vertrages[ii]?

Munif Mulhem: Es wird früher oder später weitere Verhandlungen in Genf geben, aber Voraussagen über deren Erfolg oder  Scheitern können nicht gemacht werden. Genf ist von den beteiligten Parteien abhängig. Während die revolutionären Kräfte daraufhin wirken, dass in den Verhandlungen das aktuelle Regime aufgelöst wird, ein pluralistischer demokratischer Staat errichtet und ein moderner ziviler Staat für alle Bürger und Bürgerinnen ohne Diskriminierungen oder Exklusivrechten aufgebaut wird, so bemühen sich die internationalen Mächte (Russen und Amerikaner) in einem ersten Schritt die Chemiewaffen, als Bedrohung für den israelischen «Staat», loszuwerden, unabhängig davon, was für einen Staat wir heute oder in Zukunft in Syrien haben; ferner geht es ihnen um die Bekämpfung der islamistischen Extremisten. All dies aber bedeutet für sie, dass Assad und sein Regime vorläufig an der Macht bleiben sollen, unter der Bedingung, dass Voraussetzungen geschaffen werden sollen, um Assad aber nicht das Regime später loszuwerden.

Wenn man von Taif spricht oder es mit Genf vergleicht um den Konflikt in Syrien zu beenden, so ist dies nicht zulässig. Der politische « Maronismus » im Libanon ist trotz seiner Mängel weniger schlimm als das seit Jahrzehnten bestehende syrische Regime. Das seit der Unabhängigkeit über den Libanon herrschende Regime hatte die am weitest gehenden politischen Freiheiten, wenn man es mit all den anderen Regimes der arabischen Welt vergleicht. Der politische « Maronismus » beruhte auf der Beherrschung der zentralen Funktionen des Staates; dabei muss berücksichtigt werden, dass es sich um einen Staat handelte, dessen Institutionen unter dem Gesichtspunkt der konfessionellen Rücksichtsnahmen aufgeteilt waren. In Syrien ist es ganz anders. Die staatlichen Strukturen sind wertlos. Was für einen Sinn hat ein Premierminister oder ein Parlamentspräsident? Die Revolution ist angetreten, nicht um die Macht aufzuteilen, sondern um ein diktatorisches Regime auszulöschen, dessen schlimmste Tat die Zerschlagung des sozialen Zusammenhalts gewesen ist. Ein «syrisches Taif» würde die zerschlagene soziale Fabrik nicht wieder herstellen, sondern würde diesen Zustand unter verschiedenen Formen besiegeln. Dies wäre meiner Ansicht nach schlimmer als die Aufteilung der Macht.

Permanente Revolution: Trotz aller Ungereimtheiten um den Aufstand des syrischen Volkes haben wir bisher über seine vielfältigen Formen und Ausprägungen, seine Verantwortlichen, sei dies auf der Ebene der Praxis des aktuellen Regimes, sei dies auf der Ebene der diesem in den Kämpfen gegenüberstehenden Gruppen gesprochen. Du benutzt in deinen Antworten oft Ausdrücke wie «Revolution» oder «Kräfte der Revolution». Kannst du genauer beschreiben, wer die «Kräfte der Revolution» sind, von denen du sprichst? Was denkst du übrigens von den wie auch immer embryonalen und behinderten Formen der Selbstorganisation ausserhalb der von der Regierung kontrollierten Gebieten? Gibt es deiner Auffassung nach eine Möglichkeit, diese im Dienste des revolutionären Prozesses in Syrien weiterzuentwickeln?

Munif Mulhem: Ich denke, der wichtigste Punkt, in dem sich dieSyrier und Syrierinnen seit dem Beginn ihrer Bewegung im März 2011 bis gegen Ende dieses Jahres (vor der Bildung der verschiedenen islamistischen Brigaden)
einig sind, besteht darin, dass alles was den Sturz des Regimes fordert und die Errichtung eines auf Freiheit und Würde beruhenden Staates, ohne Diskriminierungen unter seinen Bürgern und Bürgerinnen, eine  revolutionäre Kraft ist. Diese Kräfte umfassen alle Schichten, alle sozialen Klassen und alle Randgruppen der Gesellschaft, wie auch ihre politischen Kräfte in unterschiedlichem Masse.

Was den die Möglichkeit des Aufbaus von Selbstorganisation in den Gebieten, die nicht vom Regime kontrolliert werden betrifft, so habe ich an einer Konferenz im Mai 2013 gesagt, dass nicht von «befreiten Gebieten» gesprochen werden könne. Nun, die neuen Erfahrungen zeigen, dass diese Bezeichnung nicht mit der Wirklichkeit in den Gebieten übereinstimmt, die vom Regime geräumt werden mussten. Es wäre zutreffender, von «Gebieten unter der Kontrolle der bewaffneten Opposition» zu sprechen. Die Hegemonie der Waffen über diese Gebiete macht aus der Frage der Menschenrechte – abgesehen von rechtmässigen Strukturen – etwas, dessen Verwirklichung schwierig ist. Wenn also die Achtung der Menschenrechte schwierig umzusetzen ist, wie soll dann eine Selbstorganisierung der revolutionären Kräfte möglich sein? Die Erfahrungen der Aktivistinnen und Aktivisten vor Ort, in Raqqa, einem Vorort von Aleppo, in Idleb, in der Gouta vor Damaskus, haben klar aufgezeigt, dass ein solches Vorhaben unter Bedingungen der Vorherrschaft bewaffneter Kräfte kaum realisierbar ist.

* Munif Mulhem wurde 1951 in Homs geboren. Er war ab 1970 Offizier bei einer Einheit für Boden-Luft-Raketen und wurde 1973 unter der Anklage Marxist zu sein, aus der Armee ausgeschlossen. Er war einer der Gründer der Liga der kommunistischen Aktion (Syrien), Mitglied von dessen Zentralkomitee und von dessen Politbüro zwischen 1977 und 1981. Dann nahm er am Gründungskongress teil, der beschloss, die Liga in die « Partei der kommunistischen Aktion» umzuwandeln. Er wurde einige Tage nach Ende des Kongresses verhaftet und musste bis 1997 im Gefängnis verbringen. Er hat mit jungen Marxisten während des sogenannten Frühlings von Damaskus (2000 – 2001) das linke Forum für den Dialog gegründet und dann gegen Ende 2002 die Bewegung gegen die kapitalistische Globalisierung. Diese hat sieben Nummern der Zeitschrift «die Alternative» herausgebracht. Gegenwärtig kämpft er für den Aufbau einer neuen marxistischen Bewegung in Syrien und arbeitet dabei mit der weltweiten Linken im Kampf um eine gerechte, freie Welt der menschlichen Würde zusammen.


[i]  Eine der wichtigsteen Einheiten der Freien sysrischen Armee (FSA); sie ist nach Faruq Omar ibn al-Khattab, einem „Sahaba“ (Gefährten) des Propheten Muhammad und dem zweiten Kalifen benannt. Die Leute machen in ihren Kämpfen für eine Veränderung oft Anleihen bei den ihrer Meinung nach ehrenwerten Seiten ihrer Geschichte und beziehen sich dabei auf deren Symbole und Ereignisse. Dabei gehen sie soweit, dass sie die Kleidermode jener Epoche übernehmen.

[ii] Das Abkommen von Taif ist ein innerlibanesischer Vertrag, der am 22. Oktober 1989 unterzeichnet wurde; er sollte den Bürgerkrieg beenden, der seit 1975 andauerte. Er wird dargestellt als ein Versuch mittels Feuereinstellung und einer nationalen Versöhnung den Frieden wieder herzustellen. Er wurde im saudi-arabischen Taif ausgehandelt und war das Ergebnis der politischen Bemühungen eines Ausschusses um König Hassan II von Marokko, König Fahd von Saudi Arabien, und des algerischen Präsidenten Chadli mit der Unterstützung der US-Diplomatie.

 

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