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Die Schweiz sorgte auch 2015 gut für ihre Reichen

Eingereicht on 30. Dezember 2015 – 9:43

Johannes Supe. Was wäre, wenn die AfD nicht zehn Prozent bekäme, wie es aktuelle Umfragen prognostizieren, sondern 29? Dann wäre Schweiz, zumindest ein bisschen. In der kleinen Republik wurde am 18. Oktober der Nationalrat gewählt, die große Kammer des Parlaments. Ganz vorn in der Wählergunst: die Schweizerische Volkspartei (SVP). Sie erhielt 29,4 Prozent der Stimmen, fast drei Prozent mehr als vor vier Jahren. Ihre Fraktion vereint nun 68 der 200 Sitze auf sich. Andere Parteien blieben abgeschlagen dahinter zurück. Die Sozialdemokraten konnten nicht mal jede fünfte Stimme erringen, die neoliberale FDP bekam 16,4 Prozent.

Und womit lockte die SVP? Mit Engagement gegen Fremde. Ende August forderte die Partei etwa: »Asylchaos: Jetzt muss endlich gehandelt werden«. Handeln bedeutet in diesem Fall streichen bei Leistungen, Rechtsansprüchen und der Betreuung für Geflüchtete. Derer kommen zu viele ins kleine Land, meint die Partei. Entsprechend müssten nun geplante Bundeszentren für Schutzsuchende als »geschlossene Anlagen« errichtet werden, gegen »Renitente« bräuchte es Ausgangssperren. Auch wichtig: »Die Attraktivität der Schweiz für illegale Migranten muss zwingend gesenkt werden.« Sonst, legt die SVP nahe, gäbe es »bald über 50.000 Asylgesuche pro Jahr«.

Tatsächlich waren es in den ersten drei Quartalen des Jahres 24.000. Zwar gut ein Drittel mehr als im Vorjahreszeitraum, aber von der SVP-Wahrnehmung sind die Zahlen noch um einiges entfernt. In der Schweizer Öffentlichkeit wurde das jedoch wenig diskutiert; eine glaubhafte und attraktive Alternative zu den SVP-Erzählungen gab es nicht.

Rechte Politik dominiert

Es sind illustre Persönlichkeiten, die über die »Volkspartei« in den Nationalrat einzogen. Nach anderthalb Jahren der Absenz ist nun wieder ein Blocher im Parlament. SVP-Übervater und Multimilliardär Christoph Blocher war Ende Mai 2014 aus dem Gremium ausgeschieden, um »Nebensächliches« wegzulassen. Neu im Nationalrat ist nun seine Tochter, Magdalena Martullo-Blocher, ebenfalls Chemiebaronin, ebenfalls schwerreich – doch dazu gleich mehr. Auch der Medienmann Roger Köppel ist neu dabei. Der deutschen Bevölkerung dürfte er durchaus ein Begriff sein: Der Chef der SVP-nahen Weltwoche konnte sich noch durch jede bundesrepublikanische Talkshow hetzen. Von 2004 bis 2007 war er zudem Chefredakteur der Springer-Zeitung Die Welt.

Im Bundesrat, der siebenköpfigen Regierung der Schweiz, stellt die Rechtspartei nun zwei statt bislang einen Vertreter. Unter den Linken des Landes dürfte »Rechtsruck« das am häufigsten gebrauchte Wort des Jahres sein. Aber mit dem ist es so eine Sache: Rechte Politik dominierte in der Schweiz bereits vor dem 18. Oktober. Eine weitere Unternehmenssteuerreform, die Großbetrieben Geschenke machen soll, wurde bereits vor den Wahlen auf den Weg gebracht. Eine »Reform« der Rente wird ohnehin von einem Sozialdemokraten vorangetrieben – und sieht etwa eine Erhöhung des Renteneintrittsalters von Frauen vor, von 64 auf 65 Jahre. Das Kampagnenthema Nummer eins der SVP, der Umgang mit Flüchtlingen, wird nicht von ihr selbst betreut werden. Die Partei war klug genug, das zuständige Departement bei der Ämtervergabe im Bundesrat nicht zu übernehmen. Schuld am »Asylchaos« werden auch in Zukunft die anderen sein. Die Linken.

Erfolgreich ist die Schweizerische Volkspartei außerhalb von Parlament und Regierung. Volksinitiativen sind ihr Mittel der Wahl, per Referendum lässt die SVP über ihre Vorschläge abstimmen. Vom Minarettverbot im Jahr 2009 bis zur Abschiebung »krimineller Ausländer« 2010 brachte sie ihre Anliegen auf diese Art durch. Zuletzt gelang ihr das 2014. Da stimmten 50,3 Prozent »gegen Masseneinwanderung«, also für eine Begrenzung der Zuwanderung ins Land. Der Entscheid beschäftigte die Eidgenossenschaft noch in diesem Jahr. Im Dezember kündigte der Bundesrat die Umsetzung an. Die Einwanderung aus EU-Staaten in die Schweiz soll begrenzt werden – wenn nötig auch gegen den Willen der Union. Und weitere Vorlagen der SVP sind bereits auf Kurs. Die »Ausschaffungsinitiative« von 2010, mäkelt die SVP, werde nicht richtig umgesetzt. Im Februar soll es nun die »Durchsetzungsinitiative« richten. Diese soll dazu dienen, Migranten, die mit dem Gesetz in Konflikt kamen, abzuschieben – nun endgültig.

Ein Prozent Lohnsteigerung

Wie steht es um das Verhältnis von Kapital und Arbeit im Land? Dazu zwei Zahlen. Ende November berichtete das Onlineportal des Wirtschaftsmagazins Bilanz: »Die 300 Reichsten werden reicher und reicher«. Insgesamt 595 Milliarden Franken (551 Milliarden Euro) haben die Begütertesten des Landes an Vermögen angehäuft. Noch im Vorjahr waren es »nur« 589 Milliarden. Linke Übertreibungen sind hier ausgeschlossen: Bilanz gehört zum Axel-Springer-Konzern.

Zwei Wochen später, am 14. Dezember, informierte der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB) über die diesjährigen Lohnerhöhungen. Diese liegen »meist zwischen 0,5 und einem Prozent«, schreibt der SGB. In vielen Fällen sind das nicht mehr als 40 Franken im Monat. Bisweilen auch weniger, etwa in der Ziegelindustrie, wo die Beschäftigten 20 Franken zusätzlich erhalten. So viel etwa kostet ein Menü beim Chinaimbiss im Zürcher Bahnhof; alternativ könnte man sich von dem Betrag dreimal einen Kaffee im nächsten Starbucks kaufen – wenn auch nicht den größten. Und wie schätzt der Gewerkschaftsbund die Lohnverhandlungen ein? »Insgesamt positiv«.

Ein zusätzliches Mittagessen für die Beschäftigten der Schweiz, sechs Milliarden mehr für die Reichsten des Landes. Zu denen gehört übrigens auch die Familie Blocher, mit einem Vermögen von fünf bis sechs Milliarden Franken. In der Rangliste reicht das für Platz 19. Es sei an dieser Stelle erwähnt, dass die SVP nicht nur bei den Wählerstimmen, sondern auch bei den Wahlkampfausgaben alle anderen hinter sich ließ. Mehr als sieben Millionen Franken setzte die Blocher-Partei ein.

Sparpakete, aber auch Streik

An anderer Stelle mangelt es hingegen an Mitteln. 2015, das war ein weiteres Jahr der Sparpakete. Beispielhaft dafür ist der Kanton Genf. Dort soll der Haushalt zusammengestrichen werden, fünf Prozent weniger will man für die Kantonsbeschäftigten ausgeben. In anderen Kantonen gibt beziehungsweise gab es ähnliche Einschnitte. Doch in Genf ist der Widerstand der Betroffenen besonders stark. 10.000 Menschen, davon viele Lehrer, nahmen an Protesten im November teil. Gleichzeitig kämpften Bauarbeiter für die Verlängerung ihres Tarifvertrags und die Sicherung der Regelungen zur Frühpensionierung. Beide Auseinandersetzungen verbanden sich in Genf punktuell. jW-Autor Florian Sieber kommentierte: »Näher ist die Alpenrepublik seit Jahrzehnten nicht an einem Generalstreik gewesen.« Zumindest die Bauarbeiter konnten später einen Erfolg erzielen.

In der Währungskrise

Unter Druck sind seit Jahresbeginn auch die Arbeiter der Exportindustrie. Am 15. Januar hob die Schweizerische Nationalbank den Mindestkurs des Franken gegenüber dem Euro auf. Seitdem ist der Franken »teurer«. Bekam man zuvor für einen Euro noch mindestens 1,20 Franken, sind es mittlerweile nur noch 1,08 oder 1,09. Den Absatz von Schweizer Industriegütern im Ausland macht das schwieriger. Die Spekulation mit der Währung begünstigt es.

Die Bosse aus der Industrie reagieren darauf mit Lohnkürzungen und Arbeitszeitverlängerung. »Seit Januar haben Firmen den Abbau von rund 8.000 Stellen bekanntgegeben«, schrieb kürzlich Work, die Zeitung der größten Gewerkschaft Unia. So etwa beim Autozulieferer Michel, der seinen 82 Beschäftigten einen Monat vor Weihnachten kündigte. Erstmals war auch die Erwerbslosenquote der Schweiz höher als die der Bundesrepublik. 4,9 Prozent dort gegenüber 4,3 Prozent hier, je nach offiziellen Zahlen.

Gewerkschaftsbund und Unia fordern deshalb die Wiedereinführung eines Mindestkurses. Und, meist durch die Blume, den Abtritt des Nationalbankpräsidenten Thomas Jordan. Der wird unter Gewerkschaftern mittlerweile »Jordan der Zerstörer« genannt. Die Freigabe des Frankens, die er beschloss, hatten übrigens SVP-Vertreter entschieden gefordert. Etwa Christoph Blocher. Die Schweiz des Jahres 2015: eine Familiengeschichte.

Quelle: Junge Welt vom 30. Dezember 2015

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