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Der Chavismus – von seiner Basis abgestraft

Eingereicht on 1. Januar 2016 – 11:15

Miguel Angel Hernández. In den Parlamentswahlen vom 6. Dezember 2015 fuhr die chavististische Regierung von Nicolás Maduro eine vernichtende politische Niederlage ein. Diese übertraf alle Erwartungen. Der Chavismus, das heisst dessen politische Partei, der PSUV, verlor nach 17 Jahren absoluter Mehrheit die Mehrheit in der Nationalversammlung. Die Opposition, das heisst deren rechts-zentristisches politisches Bündnis, die MUD, errang 112 Sitze, während der PSUV lediglich deren 55 erhielt. Millionen wandten dem Chavismus den Rücken zu. Es handelt sich dabei jedoch nicht um einen Rechtsruck, sondern um eine Abstrafung durch die Massen an den Urnen. Nicht die Linke und der Sozialismus ist gescheitert, sondern der Schwindel des durch die Regierung ausgerufenen «Sozialismus des 21. Jahrhunderts», einer doppelzüngigen Regierung, die ihre Bevölkerung aushungerte während sie mit den Erdöl-Multis paktierte. Dies die Realität.

Unsere international sozialistische Strömung betont seit Jahren, dass in Venezuela keinerlei Sozialismus aufgebaut wird, und dass das politische Debakel des Chavismus durch den wachsenden Abscheu der Arbeiterklasse und des Volkes herbeigeführt werden wird. Diesem Wahlresultat liegt die Verschärfung der sozialen Krise über die verflossenen zwei Jahre zugrunde. Maduro musste die Niederlage eingestehen, machte dafür aber «den durch den Imperialismus losgetretenen  Wirtschaftskrieg» verantwortlich. In Tat und Wahrheit wurde dieser Wirtschaftskrieg durch die chavistische Regierung eingeleitet. Denn sie hat, unter der Maskerade des «Sozialismus», eine Austeritätspolitik gegen die breite Bevölkerung durchgezogen.

Das Land erlebte zwischen 1999 und 2014 eine kumulierte Inflation von über 2´300 Prozent und besitzt nur eine fiktive, stark entwertete Währung. Während der offizielle Dollarkurs bei 6,5 Bolívar lag, bewegt sich dieser auf dem Parallelmarkt bei 900 Bolívar; vor einem Jahr noch lag dieser bei 30. Der Geldentwertung war schwindelerregend. Zudem legte die Regierung den Dollarkurs für Importfirmen auf 200 Bolívar fest. In einem Land, wo über 70% der Konsumgüter importiert werden, ist es gerade die Regierung gewesen, die– mit dem Doppelgespann des Kaufes und Verkaufs des Dollars: Kauf für 200 und Verkauf für 900 Bolívar – Anreize für betrügerische Machenschaften der Bourgeoisie geschaffen hat.

Die Geldentwertungen führen zu einer brutalen Entwertung der Löhne.Der Minimallohn liegt bei 9´000 Bolívar, was 10 Dollar entspricht. Der Durchschnittslohn beträgt ungefähr 15´000 Bolívar, während der tägliche Grundbedarf gegen 110´000 Bolívar betragen dürfte. So kostet ein Liter Milch 1´500 Bolívar. In diesem Jahr setzte sich die Unterversorgung fort, der Mangel an Grundnahrungsmitteln, die langen Warteschlangen für Nahrungsmittel, Seife, Hygienepapier. Dazu kommen die Entlassungen in privaten und staatlichen Unternehmen, die Kriminalisierung des Protestes, das Verbot von Streiks, wie beispielsweeise in der staatlichen Stahlhütte Sidor oder die Verfolgung von kämpferischen Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern, wie etwa im Falle der Ferrominera oder im Erdölsektor; dort wurde beispielsweise Bladimir Carvajal, ein Kandidat der PSL aus der Arbeiterschaft, gefeuert.

Der Chavismus verlor in seinen historischen Hochburgen

Diese Zunahme des Mangels in der venezolanischen Bevölkerung hat den breiten Hass geschürt, der sich im Strafplebiszit vom 6. Dezember entladen hat. Vor allem wurde mit 78% eine rekordhohe Wahlbeteiligung erreicht. Das Symbol des politischen Debakels des Chavismus ist, dass er nach 17 Jahren vollständiger Vorherrschaft in 17 von 24 Provinzen verlor. Eine der symolträchtigsten Niederlagen musste er im Gliedstaat (Provinz) Barinas im westlichen Flachland hinehmen, seiner historischen Hochburg, der Gegend aus der Chávez stammte. Früher regierte dort sein Vater und nun ist dort der Bruder des verstorbenen Präsidenten Gouverneur.

Die Regierung verlor den wichtigen Gliedstaat Aragua, der durch Tarek El Assami, einer wichtigen Figur in der PSUV,  regiert wird. Auch in Mongas, der ehemaligen Hochburg von Diosdado Cabello, heute ex-Präsident der AN, dem kanpp die Wiederwahl als Abgeordneter glückte. Jorge Rodriguez, Kampagnenleiter des PSUV und Stadtpräsident von Caracas wurde abgesetzt. In der Hauptstadt verlor der Chavismus ebenfalls, beispielsweise in den von der einfachen Bevölkerung bewohnten Stadtteilen Catia und 23 de Enero.

Die extreme Polarisierung hat alle andere Listen ausser die des PSUV und der MUD hinweggefegt. Die Opposition der Unternehmer ist ein Konglomerat aus mehr als 30 Parteien unter denen Primero Justicia (Enrique Capriles), Acción Democrática (Henry Ramos Allup) und Voluntad Popular (Leopoldo López) die wichtigsten sind. Einige Pressemedien haben dieses Bündnis als mitte-links oder sozialdemokratisch beschrieben. Dies widersricht den Tatsachen. Es handelt sich um ein rechts-zentristisches Unternehmerbündnis, im Stile von Macri-Cambiemos in Argentinien, das den grössten Teil der Führer und Parteien der alten venezolanischen, an den US-Imperialismus gebundenen Oligarchie und Sektoren, die mit der europäischen Sozialdemokratie verbundenen sind, vereint. Es ist ein Bündnis der alten, mit den USA verbundenen Bourgeoisie, die versucht, die Erdölrente zu ihren Gunsten umzulenken und deren aktuellen Nutzniesser zu verdrängen, seien dies die sogenannte «boliburguesía» , die obere Hierarchie des PSUV, oder ein davon abhängiger Sektor der Armee.

Ein Strafverdikt für den verfehlten «Sozialismus des 21. Jahrhunderts»

Mit diesen Entwicklungen werden die Konzeptionen der reformistischen oder pro-chavistischen Linken in Venezuela zur Debatte gestellt. Um diese ungeheuere Niederlage zu rechtfertigen, argumentieren sie, dass diese aufgrund des Druckes des «Imperialismus und seinem Wirtschaftskrieg» zustande gekommen sei. Es sei der «Triumph einer Gegenrevolution», wie Maduro sagte. Andere führen sie darauf zurück, dass dieser Druck zu einer Rechtswende in der breiten Bevölkerung geführt habe, wie in Argentinien. In Wirklichkeit wollte die breite Bevölkerung die Regierung abstrafen.  Das Segment der Arbeiterklasse und der breiten Bevölkerung, die die MUD wählten, taten dies nicht aus einer Überzeugung, dass diese ihre Probleme lösen würde.

Die Massen der breiten Bevölkerung nutzen die elektoralen Alternativen jeweils, um abzustrafen. Um ihre Abscheu gegen soviel politischen Betrug auszudrücken. Es ist die Aufgabe der revolutionären Linken, den Kampf weiterzuführen, um eine Alternative für die Führung dieser Massen in den Kämpfen der Arbeiterklasse und der breiten Bevölkerung aufzubauen.

Der Chavismus ist verantwortlich für die Stärkung dieser Variante des rechten Zentrums. Das vollständige Scheitern seines politischen Projektes trägt dazu bei, im Bewusstsein von Millionen noch mehr Verwirrung über ein wirkliches sozialistisches Projekt hervorzurufen. Sie haben während 17 Jahren den Sozialismus besudelt. Dies ist die Grundsatzdebatte, die in Lateinamerika und weltweit auf der Tagesordnung steht. Deshalb ist es eine prioritäre Aufgabe der weltweiten Avantgarde, alle Schlussfolgerungen aus dem Scheitern des Chavismus zu ziehen.

Der sogenannte «Sozialismus des 21. Jahrhunderts» war ein gigantischer Betrug. Das Scheitern rührt nicht von Maduro her, wie nun viele behaupten, oder von den «bürokratischen Sektoren», die das Erbe von Chávez nicht weiterführen würden. Nein, das Scheitern geht auf das Projekt von Chávez selbst zurück, das nie irgendwelchen Sozialismus gefördert hat. Seit seinem Anfang bestand das Projekt darin, die Grundlagen der kapitalistischen Wirtschaft in Venezuela unangetastet zu lassen. Viele denken beispielsweise, dass dies durch die Verstaatlichung eines Teils des Erdölsektors geschehen sei, aber dem ist nicht so. So fragt man sich, weshalb es in einem Erdöl produzierenden Land Unterversorgung und Armut geben könne. Weshalb wurden die Rekordeinnahmen aus dem Erdöl, mit einem Preis von über 100 Dollar pro Barrel, während Jahren mit den Multinationalen geteilt und für die Geschäfte der «boliburguesia» benutzt und nicht zum Wohle der Arbeiterklasse und des Landes eingesetzt? Dies ist das Problem.

Chávez übergab die Erdölindustrie an gemischte Unternehmen, in denen die Beteiligung an der Pdvsa zu über 40% bei multinationalen Konzernen wie Chevron, Total, Repsol, Lukoil oder Mitsubishi liegt. Nie wurde der Bankensektor und der Aussenhandel unter staatliche Kontrolle gestellt. Zwischen 2002 und 2012 hat der Finanzsektor seinen Anteil am BIP verdreifacht. 2012 waren unter den grössten Unternehmen des Landes fünf Banken und Versicherungen und vier waren multinationale Unternehmen: Movistar, Procter and Gamble, General Motors und Coca Cola. Entgegen der «sozialistischen» Propaganda der Regierung ist der Anteil der Privatwirtschaft am BIP gewachsen. Beispielsweise von 1999 bis 2009 von 65 % auf 70%, während die sogenannte soziale Wirtschaft (Kooperativen und andere) lediglich 1% beitrug. Es kam zu keiner Agrarreform. Ein Prozent des landwirtschafltichen Besitzes umfasst 40% der Landwirtschaftsfläche.

Es gibt keinen Sozialismus und kaum Antiimperialismus, da einerseits mit den Multinationalen, den Grossgundbesitzern und den Banken paktiert wird. Andererseits werden diejenigen verfolgt, die kämpfen, die kollektiven Arbeitsverträge nicht anerkannt oder das Streikrecht eingeschränkt, wie etwa bei Sidor, Ferrominera und in vielen anderen Fällen.

Die politische und soziale Krise öffnet sich weiter

Die Wahlergebnisse des 6. Dezember stellen nur ein neues Kapitel in der politischen und sozialen Krise Venezuelas dar. Die Regierung Maduro ging sehr geschwächt aus denWahlen hervor und steht nun einer Zweitdrittelsmehrheit der politischen Kräfte der Unternehmer gegenüber. Ab dem 5. Januar 2016, beim Amtsantritt des neuen Paralamentes, werden wir sehen, wie weit die MUD gehen wird.  Sie besitzt nun die legale Macht, um Amnestien und Gesetze zu erlassen oder ein Referendum zur Amtsenthebung von Maduro anzuberaumen. Das politische Regime, in dem sich zwei Fraktionen der Bourgeoisie gegenüberstehen, befindet sich in einer Krise.

Für die Arbeiterklasse und die breite Bevölkerung wird sich die soziale Krise vertiefen, die tiefen Löhne, die Entlassungen, die langen Warteschlangen und die Unterversorgung. Einige denken, unter ihnen die MUD und die Führer des Chavismus, dass der Ausgang der Wahlen die Möglichkeit einer sozialen Explosion gedämpft hat. Es könnte aber das Gegenteil eintreten. Ist die Regierung einmal gestürzt und angesichts einer MUD, die keine Verbesserungen anbieten kann, werden die Bedingungen geschaffen für Proteste und Massenmobilisierungen für höhere Löhne, bessere Versorgung mit Grundnahrungsmitteln und für das Recht für ein würdiges Leben.

Quelle: web.laclase.info vom 11. Dezember 2015.

Von der Redaktion maulwuerfe.ch aus dem Spanischen übersetzt und gekürzt.

Der Autor ist Führer des Partido Socialismo y Libertad (PSL), Sektion der UIT-CI

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