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Zur Aktualität von Ernest Mandel

Eingereicht on 4. Januar 2016 – 19:28

Gilbert Achcar. Ernest Mandel starb am 20. Juli 1995, in der Mitte des letzten Jahrzehntes des 20. Jahrhunderts. Dies war eine Zeit des Zurückflutens der internationalen marxistischen Bewegung: die neoliberale Offensive des weltweiten Kapitalismus war im vollen Zuge. Währenddessen setzte Clinton die von Reagan begonnene Arbeit fort und die europäische Sozialdemokratie tat desgleichen hinsichtlich der durch ihre konservativen Konkurrenten begonnen Reformen, und dies obschon beide Strömungen ihre Wahl einem Reflex gegen die Auswirkungen dieser Gegenreformen verdankten. Die stalinistischen Regimes waren gerade zusammengebrochen und bestätigten so überzeugend und überraschenderweise – allerdings im umgekehrten Sinne – die «Dominotheorie». Eine Menge von Ideologen, die die Auffassung teilten, dass die UdSSR und der Marxismus so unauflöslich miteinander verquickt seien wie der Vatikan und der Katholizismus, verkündeten, dass Marx nun wirklich tot sei. Dies traf für die eingeschworenen Feinde Moskaus ebenso zu wie für dessen Speichellecker und dessen Verbündete.

Dieser politische und ideologische Kontext hat die Wahrnehmung des Todes von Mandel stark belastet. Die natürliche Tendenz ging dahin, in ihm lediglich einen Vertreter einer durch die Erfahrung mit der Sowjetunion überdeterminierten Generation zu sehen; einer Generation, die geboren wurde in den ersten Jahren des «kommunistischen» Regimes in Russland und die zeitgleich mit dessem Zusammenbruch gestorben ist. Mandel konnte so leicht als ein Vertreter eines spezifischen Marxismus des 20. Jahrhunderts erscheinen, dessen wichtigsten Tendenzen in einer Beziehung zur Sowjetunion standen, sei diese nun bewundernd oder kritisch.

Diejenigen, die an einem Kampf gegen den Kapitalismus festhalten wollten, der sich vom Marxismus inspirieren liess, empfahlen eine «Rückkehr zu Marx»; wie man recht bald feststellen konnte, war dieser noch sehr lebendig. Für einige bedeutete dies, dass sowohl das Erbe des «sowjetischen Marxismus» zum alten Eisen geworfen werden konnte wie auch dasjenige seiner Kritiker. Andere wiederum versuchten, einen aufgepeppten Marx mit einer kritischen Philosophie zu kombinieren, die von der Problematik der UdSSR ebenso weit entfernt war, wie vom wirklich stattfindenden Klassenkampf, und die aus diesem Grunde durch diese grosse historische Wende unberührt geblieben ist.

In Wirklichkeit aber bleibt jede Sichtweise, die das Erbe von Ernest Mandel an die Existenz der Sowjetunion bindet, notwendigerweise blind gegenüber seinem Werk. Welche Meinung man über die zahlreichen Beiträge von Mandel zur Frage der Sowjetunion auch haben mag – die als der am wenigsten originelle Teil seines Werkes angesehen werden können, da sie im Wesentlichen einer orthodoxen Verteidigung der Position von Trotsky gewidmet waren – so stellen sie lediglich einen kleinen Teil der umfangreichen Masse seiner Schriften dar. Mandel hat sich immer energisch dagegen verwahrt, und dies berechtigterweise, das theoretische und politische Profil der internationalen Bewegung, die er inhaltlich geprägt hat und infolgedessen sein eigenes Profil, als prinzipiell, wenn nicht gar als nur «antistalinistisch» zu definieren. Er hat immer darauf bestanden, dass die wichtigste Dimension des Kampfes von ihm und seinen Genossinnen und Genossen gegen den Kapitalismus gerichtet war, und dass der Stalinismus eine Erscheinung sei, die viel kurzlebiger wäre als der Kapitalismus.

In Wirklichkeit war Ernest Mandel über die vergangenen Jahrzehnte der aktuellste Marxist, sofern man die «Rückkehr zu Marx» als das charakteristische Merkmal des modernen Marxismus betrachtet. Der Hauptteil seines Werkes besteht in einer Neuaneignung und einer direkten Aktualisierung des ursprünglichen Marxismus. Mehrere seiner grösseren theoretischen Arbeiten gehören in diese Kategorie, insbesondere die ‘Marxistische Wirtschaftstheorie’, die ‘Entstehung und Entwicklung der ökonomischen Lehre von Karl Marx’ und seine Einleitung zur dreibändigen englischen Ausgabe von Marx’ Kapital (Penguin). Mandel hat sich so einen Platz geschaffen als einer der wichtigsten modernen Interpreten der ökonomischen Theorie von Karl Marx. Keine «Rückkehr zu Marx» kann sich erlauben, sollte sie denn ernst genommen werden, sich der Lektüre von Mandel als einer äusserst nützlichen und lehrreichen Verjüngung des ökonomischen Denkens von Marx zu entziehen.

Hätte Mandel nur die oben erwähnten Werke verfasst, so wäre seine Bedeutung Marxismus bereits offensichtlich. Er hat jedoch weit mehr geleistet: Er hat mit ‘Der Spätkapitalismus. Versuch einer marxistischen Erklärung’ ein Werk geschrieben, das Perry Anderson, der beste Kenner der Ideengeschichte des Marxismus, beschrieben hat als «die erste theoretische Analyse der globalen Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise seit dem Zweiten Weltkrieg und diese Analyse in den Rahmen der Kategorien des klassischen Marxismus stellt».[i]  Es handelt sich bei diesem Meisterwerk von Mandel zwar nicht um den ersten derartigen Versuch, die Entwicklung des Kapitalismus seit dem Zweiten Weltkrieg zu interpretieren. Aber es ist sicherlich der erste und bis heute der einzige Versuch, sich dieser grossen Aufgabe in einer totalisierenden Herangehensweise anzunehmen. Der Verfasser strengt sich an, die Kategorien von Marx in den aktuellen Zusammenhang zu stellen und sie zu nutzen, um nicht nur die ökonomische Sphäre, sondern auch die anderen Bereiche der Gesellschaft, das Soziale, die Politik und die Ideologie zu analysieren. Er erarbeitet so eine Analyse der «kapitalistischen Produktionsweise» nach dem Zweiten Weltkrieg im umfassendsten Sinne dieser marxistischen Formel.

Mandel hat daneben Schlüsselinstrumente für die Analyse der aktuellen Phase entwickelt, in die der Kapitalismus nach dem Ende des langen Nachkriegsbooms eingetreten ist. Dabei spielt insbesondere seine Wiederaufnahme und Aktualisierung der Theorie der «langen Wellen» der Entwicklung des Kapitalismus eine entscheidende Rolle. Er hat gleichermassen eine überragende Analyse der Natur der langen Rezession des globalen Kapitalismus seit den 1970er Jahren erarbeitet. Seine Interpretation ist einer der anregendensten und ernsthaftesten Versuche, die historische Entwicklung des globalen Kapitalismus über einen langen Zeitraum [longue durée] zu erklären, ein Versuch, der nicht ignoriert werden kann, will man nicht einen wesentlichen Aspekt der marxistischen ökonomischen Theorie verpassen. Einer der wichtigsten Beiträge Mandels in dieser Hinsicht hat in seiner starken Betonung der Rolle der Klassenkämpfe und der Formen der bürgerlichen Herrschaft als Hauptfaktoren der geschichtlichen Dynamik der kapitalistischen Ökonomien bestanden.

Richtigerweise ist er darauf bestanden, dass die Erfolge der kapitalistischen Bestrebungen, eine neue Form der (De)Regulierung der globalen Ökonomie durchzusetzen, das was heute gemeinhin als kapitalistische «Globalisierung» bezeichnet wird, zu einem grossen Teil von den gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen abhängt. Indem seinen Blick vor allem auf den europäischen Teil des Weltkapitalismus richtete, hat er am Ende seines letzten zu Lebzeiten herausgegebenen Buches, die erweiterte Neuauflage von The Long Waves of Capitalist Development (1995) die weiterhin aktuelle Voraussage gemacht:

«Wenn lange Perioden von Wohlstand günstigere Voraussetzungen für einen Kompromiss und den Konsens schaffen, so begünstigen längere Perioden von Niedergang eher Konflikte, in denen keine der Parteien wichtige Zugeständnisse machen will. Es überwiegen tendenziell steigende Konflikte und Widersprüche und nicht eine geglückte Regulierung.

Es gibt von daher keine weiche Landung aus der langen Depression heraus, nur kurze Phasen der Expansion, gefolgt von neuen Rezessionen, mit einem regelmässigen Anwachsen der Arbeitslosigkeit und mittelfristigen Wachstumsraten, die weit unterhalb derjenigen in der langen Boomphase liegen».[ii]

Mandel, der in dieser Hinsicht vollständig Marx folgte, betrachtete den Klassenkampf als einen bestimmenden Faktor der Geschichte und der Prognose der wirtschaftlichen Entwicklung. Er stellte sich gegen jede marxistische Version des Glaubens an die Allmacht der «unsichtbaren Hand» des Marktes, wie sie von der klassischen Schule der bürgerlichen politischen Ökonomie gepflegt wird oder dann einer merkantilistischen Auffassung, in der die konkurrierenden Staaten im Rahmen der Weltwirtschaft die entscheidenden Wirkungsgrössen sind. Er teilte die Sichtweise von Marx, da er, wie Marx selbst, zutiefst im Klassenkampf engagiert war, weit entfernt von jedem Salon-Marxismus. Er war zeitlebens war ein engagierter Militanter der Arbeiterbewegung, der den grössten Teil seiner Zeit der politischen Intervention in der wirklichen Bewegung widmete.

Unglücklicherweise lebte Mandel nicht lange genug, um an der Entwicklung der neuen Bewegung gegen den Neoliberalismus und die imperialistischen Kriege teilzuhaben. Wäre er noch an unserer Seite und bei guter Gesundheit, so hätte er zweifelsohne einen grossen Beitrag zum Aufbau dieser Bewegung geleistet und dieser nicht nur seine Gelehrsamkeit und seine immense Erfahrung beigesteuert, sondern auch seinen unerschöpflichen revolutionären Enthusiasmus einfliessen lassen. Er wäre in vielerlei Hinsicht mit der neuen Bewegung und der neuen Welle der Radikalisierung der Jugend völlig einverstanden, wie er dies bereits mit der 1968er Bewegung war, als er bereits 45 Jahre zählte.

Das Erbe von Mandel ist heute weit mehr in Einklang mit den jungen Segmenten der neuen weltweiten Bewegung, als dies für viele von deren älteren Segmenten zutrifft. Dies aufgrund seines seit je zutiefst ethischen, revolutionären Engagements: weit entfernt von der zynischen Weltsicht der Bürokraten und der berufsmässigen Mauschler und Mauschlerinnen war das Engagement von Mandel immer zutiefst ethisch. Sein revolutionärer Humanismus ist eine Eigenschaft, die er mit der Ikone des jugendlichen revolutionären Eifers, mit der er in freundschaftlicher Verbindung stand und die denselben Vornamen trug: Ernesto Guevara. Diese wesentliche Charaktereigenschaft prägte seine Persönlichkeit und seine theoretische Produktion.

Mandel stand ferner umso mehr im Einklang mit der jungen Generation, als dass die Freiheit und Demokratie in seinen Augen zu den höchsten Werten zählten. Diesbezüglich zählte er ohne Zweifel zu den Marxisten der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die dem Geiste der Frau am nächsten standen, die er sehr stark bewunderte und die der Prüfung der Geschichte so bemerkenswert standgehalten hat: Rosa Luxemburg. Alle, die mit den politischen Schriften von Mandel vertraut sind, wissen, dass er auf vielerlei Weise ein «Luxemburgist» war, nicht nur wegen seines tiefen Glaubens in das revolutionäre Potential der Massen, sondern aufgrund seines ausgeprägten Internationalismus und seiner Überzeugung, dass die demokratischen Freiheiten für die revolutionäre Bewegung ebenso unverzichtbar sind wie für die Menschen die Luft zum Atmen.

Ernest Mandel ist eine einzigartige Quelle für die Weiterentwicklung des Marxismus im 21. Jahrhundert.

Quelle: www.contretemps.eu vom 28. Dezember 2015. Die Übertragung aus dem Französischen erfolgte durch die Redaktion maulwuerfe.ch

Das Original erschien 2005, nach dem Tode von Ernest Mandel in der Zeitschrift Inprecor.

[i] Perry Anderson, Über den westlichen Marxismus, Frankfurt/M.: Syndikat, 1978, S. 145.

[ii] Ernest Mandel, Long Waves of Capitalist Development. A Marxist Interpretation, 2. Aufage, London u. New York: Verso, 1995, S. 137/138.

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