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Ein neuer politischer Zyklus in Lateinamerika

Eingereicht on 12. Januar 2016 – 18:11

Interview mit Claudio Katz über die neue politische Situation in Lateinamerika nach den Wahlsiegen der Rechten in Argentinien und Venezuela.

Claudio Katz ist Wirtschaftsprofessor an der Universität von Buenos Aires und arbeitet in verschiedenen akademischen und politischen Zusammenhängen und hat verschiedene Bücher publiziert, zuletzt Bajo el Imperio del Capital (2011). Er unterhält eine persönliche webseite.

Das Gespräch wurde auf der US-amerikanischen Webseite von Solidarity am 6. Januar 2016 publiziert. Es wurde ursprünglich von la llamarada auf Spanisch geführt und von Richard Fidler ins Englische übertragen, mit Fussnoten versehen und auf seinem Blog Life on the Left publiziert.

 Die Übersetzung ins Deutsche besorgte die Redaktion maulwuerfe.ch

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In Ihren Arbeiten zu Lateinamerika sprechen Sie von der Dualität, die die vergangene Dekade charakterisiert hat. Was verstehen Sie unter dieser Dualität?

Claudio Katz: Meiner Ansicht nach ist der sogenannte progressive Zyklus der vergangenen Dekade in Lateinamerika ein Ergebnis der teilweise erfolgreichen Volksaufstände (Argentinien, Bolivien, Venezuela) gewesen, die das Kräfteverhältnis in der Region verändert haben. Dadurch wurde es uns möglich, im grossen Unterschied zu anderen Perioden, Nutzen aus den höheren Preisen für Rohwaren und Dollareinkünften zu ziehen. In diesem Zeitraum existierten parallel zum neoliberalen Modell neue Varianten einer entwicklungspolitischen und auf Umverteilung orientierten Ausrichtung. Es gab rechte sowie linkszentristische Regimes. Es war dies eine Periode, in der die Handlungsmöglichkeiten des Imperialismus ernsthaft eingeschränkt waren und eine Zusammenarbeit mit Kuba und ein Rückzug von der OAS stattfand. David hat schlussendlich Goliath besiegt, und die Vereinigten Staaten mussten die Niederlage letztendlich hinnehmen.

Im vergangenen Jahrzehnt kam es in kaum einem lateinamerikanischen Land zu keinen Abbaumassnahmen, wie wir sie von Griechenland her kennen. Zudem gab es wichtige demokratische Siege. So ist es sehr aufschlussreich, diesbezüglich Südamerika mit Zentralamerika zu vergleichen. Der Grad der alltäglichen Gewalt etwa in Honduras, Mexico und Guatemala kontrastiert stark mit den eroberten öffentlichen Freiheiten in Argentinien, Bolivien, Brasilien. Dies ist ein klarer Hinweis auf den Umfang dieser Veränderung. Und der Chavismus rettete das sozialistische Projekt. Aus all diesen Gründen wurde Südamerika zu einer Referenz für die sozialen Bewegungen weltweit.

In einem neueren Aufsatz wies ich auf die Dualität in Lateinamerika hin, weil diese Veränderung des politischen Zyklus und der Kräfteverhältnisse einherging mit einer Festigung des Musters der auf Bergbau und Erdöl basierenden Akkumulation, die sich auf den Export von Rohmaterialien abstützt, und die weiterhin auf die Einordnung von Lateinamerika in die internationale Arbeitsteilung als Rohstofflieferanten baut. Dies ist die selbstverständliche Logik einer neoliberalen Regierung, ist Teil ihrer Strategie. Für eine progressive, linkszentristische Regierung jedoch, mit ihrer Orientierung auf eine radikale Umverteilung, eröffnet sich dabei ein Konflikt riesigen Ausmasses.

Es kam also zu erfolgreichen Aufständen, die andere Regimes an die Macht brachten, einige davon antiliberal; es ergab sich dabei eine neue Situation, die jedoch nur vorübergehend sein konnte. Das rohstoffbasierte Modell mit seiner Verstärkung der traditionellen wirtschaftlichen Abhängigkeitsstrukturen Lateinamerikas geriet in einen immer grösseren Konflikt mit den Orientierungen auf Umverteilung. Dieser Widerspruch verhinderte, dass diese Regierungen in den vergangenen Monaten Boden unter den Füssen bekommen konnten. Deshalb konnten die konservativen Kräfte Oberwasser gewinnen, und deshalb gelangte der progressive Zyklus an sein Ende. Zum Jahresende wurden wir diesbezüglich mit zwei entscheidenden Ereignissen konfrontiert.

Zuerst der Triumph von Macri in Argentinien. Dies ist das erste Beispiel einer Rückkehr der Rechten in das Präsidentenamt Argentiniens. Die Rechte begann ihre politische Macht mit den cacerolazos – dem Einschlagen auf Pfannen und Töpfen in Strassendemos – aufzubauen, schlug den Peronismus und formte ein Kabinett der «CEOkratie», für ein Land, das nun direkt durch seine Eigentümer regiert wird, ein Kabinett, das sich direkt aus der Kapitalistenklasse rekrutiert.

Das zweite Ereignis geht vielleicht nicht soweit, ist aber bedeutungsvoller. In Venezuela hat die Rechte zwar nicht die Regierung, aber das Parlament gewonnen, unter den durch sie hervorgerufenen Bedingungen eines brutalen Wirtschaftskrieges, Medienterrorismus, Wirtschaftschaos. Wobei Venezuela wohl das am weitesten vorgerückte Beispiel des radikalen Prozesses im progressiven Zyklus darstellt.

Wie stellt sich die Lage in den Ländern dar, die im Rahmen dieses kontinentalen Szenarios weit entfernt von der Dualität nicht nur das ökonomische Muster, sondern auch die neoliberale Politik fortsetzten?

Eine der wichtigsten Informationslücken über diese Periode geht auf das Stillschweigen zurück darüber, was in den Ländern vor sich geht, in denen der Neoliberalismus herrscht. Man könnte den Eindruck gewinnen, dass dort alles wunderbar läuft, und dass nur die anderen Ländern Probleme haben. Dieses Bild aber beruht auf einer massiven medialen Verdrehung. Dafür genügt schon ein Blick nach Mexico, einem Land, das eine extrem hohe Kriminalitätsrate hat, eine Zerstörung der sozialen Fabrik erleidet und in dem riesige Gebiete vom Drogenhandel beherrscht werden. Oder man schaue sich die Lage in den zentralamerikanischen Ländern an, die durch die Emigration, durch die Vorherrschaft des Verbrechens und durch Präsidenten wie demjenigen von Guatemala, der wegen Korruption aus dem Amte entfernt werden musste, ausgeblutet werden. Oder nehmen wir das chilenische Wirtschaftsmodell, das sich mit einem reduzierten Wachstum und der neuerlich aufflammenden Korruption in einer recht schwierigen Lage befindet – und das in einem Land, das bislang viel auf die Transparenz gegeben hat. Die Verschuldung der Familien, die Prekarisierung der Arbeit, die Ungleichheit und die Privatisierung der Bildung zeigen nun ihre Wirkung. Die Regierung Bachelet ist gelähmt. Die Reformen des Rentensystems und der Bildung, die sie angehen wollte, sind nun verschoben worden.

Blicken wir auf das neoliberale Universum, so werden des einzigen Falles eines Zahlungsausfalls über diese Zeitspanne gewahr, Puerto Rico, einer de-facto US-amerikanischen Kolonie, das die Kapitalflucht, die Plünderung der Ressourcen, den Zerfall der sozialen Fabrik durchgemacht hat. Während einer gewissen Zeit gab es öffentliche Überbrückungszahlungen, aber diese Unterstützung ist nun ausgelaufen und das Land ist zahlungsunfähig. So ist in den Ländern, wo die Rohmaterialien-Renten aus diesem Super-Zyklus nicht verteilt worden sind, die soziale, politische und wirtschaftliche Situation sehr schwierig. Niemand aber redet darüber.

Was wird Ihrer Ansicht nach in den auf Entwicklung und Umverteilung ausgerichteten Ländern, wie Brasilien und Argentinien im Rahmen dieses neuen, gerade eröffneten Szenario geschehen? Wird in diesen Ländern die konservative Restauration dahingehen, dass sie sich in den Block der offen neoliberalen Länder einordnen?

In dieser Hinsicht können wir sehr kategorisch sein in unserer Beurteilung dessen, was geschehen ist und sehr vorsichtig über das, was geschehen wird. Ich würde die Dinge auseinanderhalten, um zu unterscheiden zwischen dem, was wir wissen und dem, was wir uns vorstellen. Selbstverständlich ist der in Argentinien und Brasilien vor sich gehende Wandel das Ergebnis der Erschöpfung eines Modells, das auf Entwicklung ausgerichtet ist. Dies ist aber nicht der einzige Grund; ich bin mir nicht sicher, ob andere Faktoren eine noch grössere Rolle spielen, aber dies ist doch der Hintergrund des Problems.

In beiden Ländern wurde versucht, einen Teil der durch den Preisanstieg der Rohmaterialien erzeugten Rente für eine Erneuerung der Industrie und die Entwicklung eines Modells, das auf Konsum beruht, zu nutzen. Da dies aber im Rahmen des Kapitalismus umgesetzt werden muss, stösst man damit recht schnell an dessen Grenzen, weil das, was zu Beginn funktioniert, später verpufft, sobald die kapitalistische Profitabilität tangiert wird. Das Konzept des gegenseitigen Nutzens funktioniert nicht. Es ist eine Illusion der keynesianischen Heterodoxie, dass durch eine blosse Zunahme der zahlungsfähigen Nachfrage auch ein Wachstumszyklus einsetzen würde. Das Gegenteil geschieht. Zu einem gewissen Zeitpunkt stossen diese Regierungen an eine Grenze, und der klassische Prozess setzt ein mit Kapitalflucht und einem Abwertungsdruck auf die Währung. Genau dies geschah in diesen beiden Fällen.

Ich denke, dass sowohl in Argentinien wie in Brasilien eine wirtschaftliche Erosion und auch ein bedeutsamer politischer Verschleiss stattgefunden haben. Die Erosion wurde in beiden Fällen durch das Aufkommen eines sozialen Unbehagens verursacht, das keine der beiden Regierungen für sich nutzbar machen wollte, indem sie den Forderungen nachgeben würde. In diesem Klima stieg Macri auf und baute sich die brasilianische Rechte ihre soziale Basis auf.

Diese Einschätzung ist klar, aber was kommt, ist unklar. Der grosse Test wird mit der Regierung Macri stattfinden. Dies können wir momentan nicht einschätzen. Es handelt sich um eine klassische Rechts-Regierung mit allen reaktionären Charakteristiken einer Rechts-Regierung. Sie arbeitet jedoch in einem Umfeld von grosser Kampfbereitschaft. Damit besteht ein Widerspruch zwischen dem, was sie tun möchte und dem, was sie tun kann.

Wenden wir uns nun Venezuela zu. In einem Gespräch haben Sie eine unseres Erachtens wichtige Idee geäussert, dass die universelle Anwendung des Clichés «wo es keinen Fortschritt gibt, gibt es Rückschritt; wer sich nicht radikalisiere, umkehre» nicht sinnvoll auf jede Situation angewendet werden könne. Wir erinnern uns konkret an Fidels Empfehlung an Allende nach dem Tancazo: «Dies ist Deine Schweinebucht»[i]. Was für Perspektiven sehen Sie – nicht abstrakt, sondern konkret hinsichtlich der politischen und sozialen Kräfte – für eine Radikalisierung in Venezuela? Welche Schritte müssten dafür eingeleitet werden?

Solche Sätze hört man immer wieder. Viele aber, die sie äussern vergessen, sie vorzubringen, wenn dies notwendig wäre, gerade heute in Venezuela. In Venezuela werden der progressive Zyklus und die Zukunft festgelegt. Dies war der wichtigste Prozess und sein Resultat wird den regionalen Zusammenhang bestimmen.

Es ist offensichtlich, dass der Imperialismus sein Augenmerk auf Venezuela gerichtet hat. Die USA haben Kuba anerkannt, unterhalten freundliche Beziehungen mit den Regierungen – ausser mit Venezuela. Dort verhängen sie einen Zerfall des Ölpreises, versorgen sie die paramilitärischen Organisationen, finanzieren sie verschwörerische NGOs und führen sie militärische Operationen durch. Sie haben Strategien für einen in näherer Zukunft angesetzten Umsturz angeworfen. Die Wahlen fanden in diesem Kontext eines Wirtschaftskrieges statt und schlussendlich errang die Rechte ihren Sieg. Sie gewann vorerst die Parlamentsmehrheit und zielt nun darauf, mit einem Referendum Präsident Maduro abzusetzen.

Die Rechte wird versuchen, auf zwei Pferde zu setzen, auf Capriles und auf López.[ii] Letzterer fördert eine Rückkehr zu den guarimbas, während Capriles einen Abnützungskrieg gegen Maduro befürwortet. Und es ist sehr aufschlussreich, dass in Argentinien Macri zuerst versteckt einen Angriff mit der «Demokratieklausel»[iii] vorschlug, obwohl er sich später dafür aussprach, dies zu verschieben. Macri manövriert zwischen den beiden Strategien (bemerkenswerterweise aber war Corina López, die Gattin von Leopoldo, bei seinem Wahlsieg anwesend). Er wird dem Weg der sich durchsetzenden Partei folgen. Einerseits Capriles, andererseits López, denn dies sind zwei Seiten derselben Medaille. Und Macri ist einer derjenigen, der diese Verschwörung international orchestriert.

Gegenwärtig wird auf Maduro ein starker Druck ausgeübt, in Verhandlungen einzuwilligen, die ihm jede Handlungsmöglichkeit nehmen würden. Er könnte darauf mit dem berühmten Satz reagieren: «Ein Prozess, der sich nicht radikalisiert, wird zurückfluten». Er kann einen Gegenschlag landen. Ein grosser Konflikt steht bevor, da das unter rechter Führung operierende Parlament Entscheidungsgewalt verlangen wird, die ihm der Präsident nicht überlassen wird. Das Parlament wird für eine Amnestie zugunsten von López stimmen und die Exekutive wird dagegen das Veto einlegen. Die Exekutive wird ein Gesetz gegen die Hortung erlassen und das Parlament wird dies nicht zulassen. Entweder regiert die Exekutive oder das Parlament, ein überaus typischer Machtkonflikt.

Es wird unausweichlich zu einem ausgewachsenen Konflikt kommen, denn sie werden mindestens ein Jahr benötigen, um Maduro mittels Referendum abzusetzen: Sie müssen die nötigen Unterschriften sammeln, diese offiziell beglaubigen lassen[iv], das Referendum ansetzen und dieses dann auch noch gewinnen. Und darin liegt das Dilemma. Es gibt einen konservativen Sektor innerhalb des Chavismus, sozialdemokratisch oder in die Korruption verwickelt, der kein Interesse daran hat, durch eine Radikalisierung der Massen irgendetwas gegen dieses Dilemma zu unternehmen.

Dieser Sektor steht einer angemessenen Antwort auf die Aggression des Imperialismus im Wege. Es liegt auf der Hand, dass der Imperialismus einen Wirtschaftskrieg gegen Venezuela führt; das Problem aber ist, dass es Maduro nicht geglückt ist, diese Angriffe zurückzuschlagen. Das Problem liegt in der fortdauernden Abhängigkeit Venezuelas von Petrodollars über die PDVSA (Petróleos de Venezuela, S.A.), die staatliche Erdölgesellschaft. Diese Dollars gelangen in die Hände der korrupten Sektoren der öffentlichen Verwaltung und der Kapitalisten, die sie wieder in Umlauf setzen und damit die venezolanische Wirtschaft ruinieren. Diese Dollars werden nach Kolumbien geschmuggelt, mit ihnen werden Versorgungsengpässe generiert, Wechselkursspekulationen ausgeführt, während das Land unter Warteschlangen und einer allgemeinen Verunsicherung leidet. Des Weiteren ist Venezuela mit erheblichen öffentlichen Schulden belastet. Es verfügt nicht über genügend Dollars, um alle Einfuhren zu bezahlen und gleichzeitig die Schulden abzuzahlen.

Unter diesen Bedingungen beschränken sich die sozialdemokratischen und konservativen Sektoren der Regierung darauf, sich über die «durch den Imperialismus auferlegte schreckliche Lage» zu beklagen, ohne aber wirkliche Massnahmen zur Abwehr dieser Aggression zu ergreifen. Und dieses Verhalten hat Folgen, da es die Demoralisierung weiter verstärkt. Die Rechte war siegreich, nicht so sehr, weil sie die Stimmen vom Chavismus gestohlen hat, sondern weil die Leute nicht wählen gingen. Dies geschah bereits früher. Es ist eine Art des Protestes, zu dem die Venezolanerinnen und Venezolaner gelegentlich greifen. Viel problematischer, viel ernster ist das Verhalten der Führer, die sich vom Chavismus verabschieden oder sich ins Privatleben zurückziehen. Sie äussern sich nicht oder kritisieren die Regierung, ohne jedoch radikale Massnahmen gegen die Rechte vorzuschlagen. Dieses Verhalten wird ihrerseits durch die Regierung noch akzentuiert, die linke Strömungen in ihrer Entwicklung behindert. Anstatt sie zu ermutigen, anstatt deren Handlungsmöglichkeiten zu begünstigen, schränkt sie sie ein und stärkt gleichzeitig die vertikalen Strukturen der staatlichen Einheitspartei PSUV.

So sieht die Lage aus. Viele Leute sagen, dass dies die letzte Möglichkeit sei. Jetzt oder nie. Und diese letzte Chance läuft darauf hinaus, in zwei sehr klaren Bereichen Entscheide zu treffen. Wirtschaftlich: eine Verstaatlichung der Banken und des Aussenhandels, um mit diesen beiden Instrumenten die Nutzung der Dollareinnahmen anders definieren zu können. Es gibt viele gute Wirtschaftswissenschafter, die ein solches Vorgehen seit nunmehr über zehn Jahren empfehlen. Sie haben Programme ausgearbeitet, wo das genaue Vorgehen vorgeschlagen wird. Dies sind mithin keine unbekannten Massnahmen. Und der andere Pfeiler ist politischer Natur: um die Radikalisierung voranzubringen, muss die Macht der Gemeinden gestärkt werden. Venezuela verfügt mittlerweile über eine Gesetzgebung, Gesetze, eine Struktur, die eine Verwaltung des Landes mit einer neuen Form der Gemeindeorganisation sicherstellt. Von unten und von oben, mit unterschiedlichen Behörden, in denen Demokratie eine Realität ist und die Macht des Volkes nicht auf defensive Institutionen beschränkt bleibt. Es ist dies ein Gebilde, das im Kampf gegen das rechte Parlament eine entscheidende Rolle spielen könnte. Sofern Maduro und die venezolanische Führung den bolivarischen Prozess retten wollen, ist jetzt die Zeit für die Macht der Gemeinden gekommen. Wir werden sehen. Ich denke, die Karten liegen auf dem Tisch und nun muss entschieden werden.[v]

Für Intellektuelle wie auch für Aktivistinnen und Aktivisten wurde es üblich, mit ihren Hoffnungen eher auf die Initiative der Regierungen, denn auf die Initiative der Massenorganisationen zu setzen. Wie sind die Aussichten für künftige soziale Kämpfe? Welche Rolle kommen dabei dem Anti-Kapitalismus und Anti-Imperialismus zu?

In jeder Diskussion darüber, ob der progressive Zyklus nun beendet ist oder nicht, ist es sehr wichtig, nicht nur auf die Regierungen zu blicken, sondern auch darauf, was sich unten abspielt. Viele intellektuelle tendieren dazu, einen Zyklus danach zu beurteilen, wer nun in der Regierung sitzt. Diese aber ist lediglich ein Element im ganzen Prozess. Der Zyklus hat seinen Ursprung in der breiten Rebellion, und es sind diese Rebellionen, die das Kräfteverhältnis bestimmen. Der Prozess der vergangenen Dekade war neuartig, da viele Regierungen durch die Verteilung eines Teiles der Renten aus den Rohwaren Systeme von sozialer Sicherheit und von Massenkonsum entwickelten, die die sozialen Kämpfe in Grenzen halten konnten. Das ist eine der Gründe, dass wir seit 2004 keine Rebellionen mehr hatten. Nun aber gibt es eine Veränderung im Wirtschaftszyklus, durch den die sozialen Kämpfe neu auf der Agenda stehen werden. Dabei wird die Debatte um das linke Projekt neu aufleben. Vieles hängt davon ab, was in Venezuela vor sich geht,; Venezuela ist über die vergangene Periode die Referenz für den wichtigsten Teil der Linken gewesen. Ähnlich, wie dies für die kubanische Revolution oder den Sandinismus zu anderen Zeit zutraf. Die Referenzen für emanzipatorische Projekte haben globale Ausstrahlung. Sie geschehen in einem Land und werden zum Brennpunkt für alle anderen.

Das grosse strategische Problem liegt in der Tatsache, dass viele Intellektuelle der Ansicht sind, dass die Linke sich auf die Entwicklung eines post-liberalen Kapitalismus konzentrieren sollte. Diese Konzeption blockiert den Prozess der Radikalisierung. Sie geht von der Auffassung aus, dass links sein bedeutet, post-liberal zu sein, dass links zu sein, bedeutet, sich voll einzusetzen für einen organisierten, humanen, produktiven Kapitalismus. Diese Auffassung hat die Linke über mehrere Jahrzehnte geschwächt, da links sein bedeutet, gegen den Kapitalismus zu kämpfen. Für mich ist dies das ABC. Sozialist zu sein heisst, für eine kommunistische Welt zu kämpfen. Dabei verändert sich der Horizont mit jedem Stadium und die strategischen Parameter werden erneuert. Wenn aber die Identität der Linken beschnitten wird, endet dies in Frustration.

Für den Aufbau der Linken müssen die Ideen des späteren Chávez wiederaufgenommen werden. Dies erfordert ein starkes Engagement für ein sozialistisches Projekt, das die Traditionen des lateinamerikanischen Marxismus und der kubanischen Revolution aufnimmt. Mir scheint, dass diese strategische Linie durch starke Illusionen in die Annehmlichkeit einer Ersetzung dieses Horizontes durch eine Annäherung beispielsweise an Papst Franziskus verdreht wurde. Dies beruht auf der Annahme, dass wir nach dem Tode von Chávez eine andere Referenz benötigen und dass Papst Franziskus dafür geeignet sei. Dies ist meiner Einschätzung nach ein strategischer Fehler. Wir können nicht die Sozialdoktrin der Kirche als Leitfaden in unserem Kampf gegen den Kapitalismus übernehmen. Papst Franziskus wird nun mit der Absicht herumgeboten, den Einfluss des Volkes in einer sehr geschwächten lateinamerikanischen Kirche wiederherzustellen. Ich denke, es erfordert eine grosse Naivität, sich vorzustellen, dass eine solche Wiederherstellung die Linke begünstigen würde, die auf der Gegenseite des Projektes des Vatikans steht. Wir sollten vielmehr in diesem entscheidenden Moment der lateinamerikanischen Geschichte auf unsere eigenen Ideen bauen.

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[i] Eine vom CIA unterstützte konterrevolutionäre Militäreinheit setzte am 16. April 1961 in der Schweinebucht (Playa de Girón) zu einer Invasion Kubas an. Sie wurde schnell geschlagen, die Invasoren gaben auf und die Anführer vor Gericht gestellt und hingerichtet oder ins Gefängnis gesteckt.  Die anderen wurde später von Kuba an die Vereinigten Staaten überstellt, im Austausch gegen benötigte Medizin und Nahrungsmittel. Unmittelbar vor der Invasion, am 15. April, als kubanische Flughäfen durch acht CIA B-26 Bomber bombardiert worden waren, die daraufhin in die USA zurückkehrten, verkündete Fidel Castro den sozialistischen Charakter der kubanischen Revolution; dies sollte, so seine Überzeugung, die kubanischen Massen motivieren für die Verteidigung ihres Landes zu kämpfen.

[ii] Henrique Capriles Radonski trat 2012 und 2013 als Kandidat der Rechten an und wurde zuerst von Chávez und dann von Nicolás Maduro geschlagen.  Leopoldo López ist ein Politiker der Rechten, der vergangenen September zu einer Gefängnisstrafe von 13 Jahren und 9 Monaten verurteilt wurde. Er wird beschuldigt, anlässlich der guarimbas, den gegen die Regierung gerichteten Strassenunruhen die 2013 in verschiedenen Teilen Venezuelas einsetzten, zur Gewalt gegen die Regierung aufgerufen zu haben.

[iii] Argentiniens neuer Präsident Macri hat gedroht, die «Demokratieklausel» des Mercorsur anzurufen, um das Handelsbündnis dazu zu bewegen, Venezuela auszuschliessen. Dies mit der absurden Anschuldigung, dass Venezuela nicht demokratisch sei und deshalb seine Mitgliedschaft nicht berechtigt sei.

[iv] Katz bezieht sich da auf den Art. 72 der venezolanischen Verfassung, der für die Ausrufung eines Referendums zur Absetzung eines öffentlichen Beamten die Unterschrift von 20 % der Wahlberechtigten fordert.

[v] Dieses Interview wurde kurz bevor das vergangene Parlament in Venezuela zur ersten Sitzung des «Nationalen Parlamentes der Gemeinden» aufrief, einer gesetzgebenden Struktur von Abgeordneten aus den über 1´400 Gemeinden, Basisstrukturen aus den städtischen und ländlichen Gemeinden in ganz Venezuela. Präsident Maduro soll sich dazu folgendermassen geäussert haben: «Ich übergebe alle Macht dem Parlament der Gemeinden…. Dieses Parlament wird ein gesetzgebender Mechanismus für die Basis sein. Alle Macht dem Parlament der Gemeinden.»

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