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Ukraine: Orchestrierte Eskalation beim Maidan- Massaker

Eingereicht on 19. Januar 2016 – 10:53

 

»Regime-Change« in der Ukraine: Vor zwei Jahren wurde der Oppositionsprotest auf dem Kiewer Maidan  im Rahmen des imperialistischen Aufmarsches in Osteuropa radikalisiert.

Die Ukraine steht mittlerweile am Rande des Staatsbankrotts. Die von der EU finanzierte Regierung in Kiew steht vor dem Zerfall.

Robert Allertz. Der Staatsstreich in der Ukraine vor zwei Jahren war der Beginn des Bürgerkriegs im Osten und auch des Engagements Russ­lands für seine Landsleute auf der Krim und im Donbass. Das Poroschenko-Jazenjuk-Regime setzte damals die Lüge in die Welt, das Massaker in Kiew sei von Scharfschützen der gestürzten Macht und Spezialkräften der Polizei auf Befehl von Janukowitsch verübt worden. Diese Darstellung wurde im Westen – von Politikern wie Medien – akzeptiert und kolportiert. Bundeskanzlerin Merkel versprach zwar unmittelbar nach dem Putsch Aufklärung, weil einige Fragen entstanden waren. Aber es gibt bis dato nicht einmal den Ansatz einer Anstrengung hierzulande, die Ereignisse kritisch aufzuklären. Experten sind sich inzwischen jedoch einig: Hier wurde ein minutiös geplanter Regimewechsel gewaltsam vollzogen.

Auch hier sind sich die Fachleute einig: Die Initiative für den neuen Kalten Krieg ging nicht von den Russen aus, sondern von den Amerikanern – im Bunde mit der EU. Der nationale Konflikt in der Ukraine lieferte nur den propagandistischen Nebel für den antirussischen Kurs. Putin hat recht, wenn er in dem erwähnten Interview erklärte: »Die Sanktionen des Westens sollen nicht der Ukraine helfen, sondern Russland geopolitisch zurückdrängen. Sie sind töricht und richten auf beiden Seiten nur Schaden an.«

Januar 2014 – wer zieht die Fäden?

Weißgepudert, vom Strahl eines Trockenfeuerlöschers getroffen, steht er in Kiew bei einer Massendemonstration da wie ein New Yorker Firefighter an »Nine Eleven«. Der von der Konrad-Adenauer-Stiftung aufgebaute Oppositionsführer, der doch Präsident der Ukraine werden soll, versinkt in Hohn und Spott. Die Bilder des von den eigenen Leuten Gedemütigten gehen sofort um die Welt. Witali Klitschkos Gesicht offenbart Ratlosigkeit und Unverständnis. Nein, er hat noch immer nicht begriffen, dass ganz andere Kräfte am großen Rad drehen und er allenfalls der nützliche Idiot ist, das prominente Aushängeschild, das Feigenblatt, der vermeintliche Saubermann im Drecksgeschäft der ukrainischen Politik.

Es ist der 19. Januar 2014. Die aufgeputschte Masse auf dem Maidan versucht erfolglos, Regierungsgebäude zu stürmen, Klitschko will sie bremsen. Später würde es in Kommentaren heißen: Die Opposition habe ihre eigenen Leute nicht mehr unter Kontrolle. Klitschko als Parteichef von UDAR, Arsenij Jazenjuk von Batkiwschina und Oleg Tjagnibok von Swoboda – also die Vertreter der »Opposition« – hatten tagsüber mit dem Präsidenten Wiktor Janukowitsch über einen geordneten Übergang verhandelt. Aber Chaoten wischen nun einfach über das Schachspiel und werfen die Figuren um … Wer zieht da im Hintergrund die Fäden?

Es ist der erste massive Zusammenstoß zwischen Obrigkeit und »Opposition«, die seit Ende November 2013 auf dem Kiewer Maidan-Platz ausharrt. Propagandistisch benutzter Anlass für den Protest: die von Präsident Wiktor Janukowitsch verweigerte Unterschrift unter ein Assoziierungsabkommen mit der EU. Für das Nein der ukrainischen Regierung gab es sowohl ökonomische als auch politische Gründe. Und der Westen, der sich schon kurz vorm Einfahren der Ernte wähnte, begann nun verärgert, Druck zu machen. Auf der internationalen Bühne, über Kanäle der Diplomatie, mit Hilfe des sogenannten Euromaidan und der »Opposition«. Das vorgeblich russlandhörige Janukowitsch-Regime sollte durch eine konzertierte Aktion gestürzt und durch ein prowestliches ersetzt werden.

Nachdem Millionär Klitschko sich also den Staub von der Kleidung geklopft hatte, griff er zu einem Zettel – ein Redner ist er nicht –, und warnte, nein, eigentlich drohte er, dass Janukowitsch das Schicksal von Muammar Al-Ghaddafi in Libyen oder Nicolae Ceausescu in Rumänien erleiden könnte.

An jenem Sonntag im Januar 2014 starben die ersten Milizionäre, viele wurden verletzt. »Einen solchen Exzess im Zentrum einer europäischen Metropole hatte es seit Jahrzehnten nirgendwo gegeben«, schrieb Expremier Nikolai Asarow in seinen Erinnerungen (»Die Wahrheit über den Staatsstreich«, Das Neue Berlin 2015). »Doch nicht in einer einzigen westeuropäischen Hauptstadt regte sich Unmut über die Randalierer, gab es gar Protest wegen dieser Übergriffe. Kein Wort der Kritik an den militanten, profaschistischen Kräften kam über die Lippen der sonst so umtriebigen Außenpolitiker und Diplomaten, eine Verurteilung im Westen unterblieb.«

Der Präsident opferte seinen Premier, Asarow trat im Januar zurück. Nicht nur diesem hatte Victoria Nuland, die Europabeauftragte im US-Außenministerium, direkt ins Gesicht gesagt, dass sie Jazenjuk – ihren Mann – auf seinem Stuhl haben wollte.

Februar 1014 – Fuck the EU

Am 19. Januar war man noch gescheitert. Fortan berannte »dieser militante, aggressive Mob, der sich außerhalb von Recht und Gesetz stellte« (Asarow), täglich Regierungsgebäude. Das Justizministerium wurde besetzt, das Landwirtschaftsministerium, dann das Verteidigungs- und das Innenministerium. Selbst das Gesundheitsministerium wurde lahmgelegt. Nuland telefonierte mit dem US-Botschafter in Kiew, am 4. Februar stellten Hacker den Mitschnitt ins Netz. Man müsse jetzt die Sache festmachen, keine Zurückhaltung: »Fuck the EU«, scheiß auf die EU. Schließlich hatten die USA, laut Nuland, bereits fünf Milliarden Dollar »Entwicklungshilfe« investiert, da wollte man Rendite. Der Sturm der Entrüstung währte nur kurz im westeuropäischen Wasserglas. Die Gewalt auf dem Maidan aber eskalierte. Zwischen dem 18. und 20. Februar wurden etwa hundert Menschen getötet, viele von unbekannten Scharfschützen, während man einen »Waffenstillstand« verhandelte. Am 21. Februar 2014 unterzeichneten die drei Chefs der »Oppositionsparteien« und der Präsident eine »Vereinbarung über die Beilegung der Krise in der Ukraine«. An den Verhandlungen waren maßgeblich drei EU-Außenminister (Frank-Walter Steinmeier, Laurent Fabius, Radoslaw Sikorski) und der russische Menschenrechtsbeauftragte Wladimir Lukin beteiligt. Das geschah am Freitag – und gegen die Interessen der USA. Am Samstag setzten die Rechten zum Sturm auf den Präsidentensitz an, Janukowitsch floh. Asarow dazu: In Kiews Zentrum erfolgte im Februar 2014 »organisierter Massenmord, verübt von bezahlten Profis«. Bis heute ist das Verbrechen nicht aufgeklärt.

Der Europarat monierte schon nach Jahresfrist, dass nichts unter der Führung von Präsident Petro Poroschenko und Premier Arsenij Jazenjuk zur Ermittlung der Mörder unternommen worden sei. Die Haltung des Kiewer Innenministeriums gegenüber den internationalen Ermittlern sei »unkooperativ und verschleppend«, der Geheimdienst SBU »blockiere«. Kiew sei erkennbar nicht an Aufklärung interessiert, erklärte Brüssel.

Was geschah beim Maidan-Massaker?

Ein kanadischer Wissenschaftler legte im vergangenen September seine Untersuchungsergebnisse vor. Professor Ivan Katchanovski (47) lehrt an der Universität Ottowa, nachdem er bereits in Harvard, Toronto und auch in Potsdam tätig war. Für seine 79 Seiten umfassende Studie »The Snipers’ Massacre on the Maidan in Ukraine« hat er alle öffentlich zugänglichen Quellen ausgewertet: etwa anderthalbtausend Videoaufnahmen aus TV und Internet, Berichte von etwa hundert Journalisten, die in nationalen und internationalen Medien verbreitet wurden, Hunderte Fotos, 30 Gigabyte Funkverkehr zwischen den Einsatzkräften und Kommandeuren, Zeugenaussagen, Erklärungen von Beamten und Milizionären, Gutachten über Munition und Waffen, Arztbefunde, Protokolle und dergleichen mehr (siehe auch jW vom 16. Oktober 2015).

Wie nicht anders zu erwarten: Die Untersuchungsergebnisse wurden und werden weitgehend ignoriert. Was auch nicht überrascht. Die, die den Staatsstreich propagandistisch vorbereiteten, haben an der Aufklärung so wenig Interesse wie dessen Nutznießer.

Quelle: Junge Welt vom 19. Januar 2016. Der Beitrag wurde durch die Redaktion maulwuerfe.ch leicht gekürzt und mit Zwischentiteln versehen.

 

 

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