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Ellen Meiksins Wood (1942–2016): Die Verteidigung der Klassenanalyse

Eingereicht on 4. Februar 2016 – 19:59

Vivek Chibber*. Nach langem Kampf gegen den Krebs ist die marxistische Historikerin Ellen Meiksins Wood am 14. Januar gestorben.Wood war eine Denkerin von außerordentlichem Format, die mit großer Kompetenz über das antike Griechenland, das politische Denken der frühen Moderne, die zeitgenössische politische Theorie, den Marxismus und die Struktur und Entwicklung des modernen Kapitalismus schrieb.

Was jedoch noch bedeutender war: Sie gehörte zu den wenigen aus der Neuen Linken, die in ihrem Engagement für sozialistische Politik nie nachließen. Mit ihrem 1986 erschienenen Buch The Retreat from Class wurde sie zu einer der herausragendsten linken Intellektuellen. Dieses Buch war eine der ersten und sicher überzeugendsten Kritiken des gerade in der Neuen Linken entstehenden postmarxistischen Milieus. Intellektuell bot Woods Buch eine erfrischende Verteidigung des historischen Materialismus gegen die postmarxistischen Kritiker; politisch kündigte es Woods Tadel einer Generation an, die sich, nach kurzem Liebäugeln mit sozialistischer Politik, heftig gegen diese wandte.

Bei ihrer Verteidigung der Klassenanalyse bestand Wood darauf, dass sie empirischer Forschung unterworfen wird. Auf dieser Grundlage zögerte sie nie, sich auch mit den Historikern anzulegen, die ihr am nächsten standen.

In Peasant-Citizen and State (1989) setzt sie sich mit Geoffrey de Ste. Croix (1910–2000) auseinander, einem der vielleicht größten Althistoriker und sicher ihr bekanntester marxistischer Vertreter. Ste. Croix hatte in seinem Werk The Class Struggle in the Ancient Greek World die Sklavenarbeit als die Hauptquelle des Mehrprodukts im antiken Griechenland und Rom ausgemacht. Wood pflichtete Ste. Croix bei, was die Bedeutung der Sklavenarbeit in der Antike betraf, war aber der Auffassung, dass er ihren Stellenwert für die Produktion des Mehrprodukts drastisch übertrieben hatte. Wood untermauerte ihre Argumentation durch eine sorgfältige Untersuchung der Primärquellen, wobei sie nicht nur Ste. Croix widersprach, sondern auch eine der überzeugendsten materialistischen Analysen der Struktur der griechischen Demokratie lieferte.

Kaum mehr als ein Jahrzehnt später nahm sie sich Robert Brenner vor, ihren langjährigen Freund und Genossen. Es ging um die Ursprünge des modernen Kapitalismus. Während Wood stark von Brenners Argumentation über die Ursprünge des Kapitalismus in England beeinflusst war, beharrte sie jedoch darauf, dass seine Analyse des Aufstiegs des Kapitalismus in den Niederlanden sowohl empirisch fragwürdig als auch analytisch fehlerhaft sei. Erneut war ihre Argumentation gekennzeichnet durch eine sorgfältige, mit rasiermesserscharfer Präzision durchgeführte Untersuchung der Fakten. Ihre Kritik bleibt eine der wichtigsten Auseinandersetzungen mit Brenners einflussreicher Arbeit.

Ellen Meiksins Wood ist vielleicht am besten bekannt durch ihre Rolle bei der Entwicklung des «politischen Marxismus». So wurde eine Argumentation über den Ursprung und die Struktur des Kapitalismus bezeichnet, die größtenteils auf das Werk des Historikers Robert Brenner zurückgeht. Für Brenner und andere Vertreter dieser Richtung ist der Kapitalismus eine besondere Konstellation gesellschaftlicher Eigentumsverhältnisse, die nur der modernen Ära zu eigen sind und alle Akteure im Wirtschaftssystem in eine Abhängigkeit vom Markt zwingt. Während in allen früheren Epochen die Produktion an der Subsistenz orientiert war, ist der Kapitalismus das erste Wirtschaftssystem, das die Produzenten zwingt, auf dem Markt zu verkaufen und daher in Wettbewerb zueinander zu treten, um zu überleben. Für Wood hat dies zwei entscheidende Konsequenzen:

Erstens ist der Kapitalismus das erste Wirtschaftssystem, in dem der Markt eine zentrale Rolle spielt. Märkte gibt es seit Jahrtausenden, aber unsere Epoche ist die erste, in der sie tatsächlich die Produktion und den Austausch regeln und daher eine gesellschaftliche Arbeitsteilung hervorbringen. Dies ist nicht auf natürliche Weise zustande gekommen. Es gibt keine den Märkten inhärente Tendenz, sich bis zu dem Punkt vorzuschieben, an dem sie die vorkapitalistischen Formen der Produktion ersetzen. Sie mussten geschaffen werden, indem den Bauern das Land gewaltsam entrissen wurde.

Zweitens ist Profitmaximierung etwas, das den Produzenten aufgezwungen wird, wenn sie überleben wollen. Unternehmen machen keinen Profit, weil sie gierig sind – sie tun dies, weil sie vom Markt vertrieben werden, wenn sie es nicht tun.

Der Markt ist deshalb nicht eine Institution, die auf der glücklichen Ausübung eines unternehmerischen Geistes beruht, sondern vor allem eine Zwangseinrichtung, die nicht nur die Lohnabhängigen beherrscht, sondern auch die Kapitalisten. Dies hat eine klare politische Konsequenz. Solange die Produktion auf Marktkonkurrenz beruht, kann der Antagonismus zwischen Arbeitern und Unternehmern nicht beseitigt werden. Solange Unternehmer nur überleben können, indem sie in Konkurrenzkämpfen siegen, müssen sie sich rücksichtslos darauf konzentrieren, die Kosten zu minimieren. Das bedeutet, dass die Unternehmer als Teil ihrer Überlebensstrategie ständig die Arbeitslöhne und sonstigen Zuwendungen an die Beschäftigten einschränken müssen. Der Markt treibt die Kapitalisten ständig in die Konfrontation zu den eigenen Belegschaften.

Woods Schlussfolgerung daraus lautet: Solange die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse bestehen, wird der Klassenkampf eine zentrale Achse der Auseinandersetzung sein.

In den Jahren nach dem Erscheinen von The Retreat from Class veröffentlichte Wood Dutzende Essays, in denen sie diese Argumentationsweise vertiefte und zeigte, wie die politische Theorie das Spezifische am Kapitalismus nur zu ihrem Schaden ignorieren kann.

In ihren letzten Jahren begann Wood eine außerordentlich ambitionierte Analyse der Entwicklung des politischen Denkens, von der Antike bis zur Moderne. Sie war bestrebt, die zentralen Denker jeder Epoche in ihren gesellschaftlichen, besonders ihren klassenmäßigen, Kontext zu stellen und aufzuzeigen, wie ihre Hauptthemen und Hauptargumente mit den zentralen Entwicklungen ihrer Zeit verknüpft sind. Damit versuchte sie, die politischen Ideologien jeder Epoche in die ihnen zugrundeliegende Klassenstruktur einzubetten.

Wood hatte zwei Bände dieser Serie vollendet, sie umfassen die Zeit vom antiken Griechenland bis zur Aufklärung. Ein dritter Band, der bis in die Gegenwart reichen sollte, war in Vorbereitung und wird nun nicht mehr vollendet werden.

Ellen Meiksins Wood war nicht nur eine fantastisch begabte Theoretikerin – vielleicht die brillanteste ihrer Generation –, sie hielt in der zweifellos schwierigsten Periode für die Linke seit ihrer Entstehung auch moralisch und politisch die Stellung. Sie zeigte vielen von uns, was es bedeutet, eine engagierte Intellektuelle zu sein: Dass es möglich ist, eine moralische Haltung mit analytischer Schärfe zu verbinden; leidenschaftlich zu sein und gleichzeitig mit kühler Aufmerksamkeit für Details zu arbeiten; tief verwurzelt zu sein in einer Bewegung und das eigene unabhängige Urteil zu bewahren.

* Der Beitrag erschien ursprünglich auf der Webseite des linken US-Magazins Jacobin (www.jacobinmag.com).

Von Ellen Meiksins Wood erschienen in der SoZ:

– «Was ist die ‹postmoderne› Tagesordnung?», SoZ Bibliothek, Beilage zur SoZ, Nr.13, 27.6.1996, S.2–5

– «Der Ursprung des Kapitalismus. Ellen Meiksins Wood über die Naturalisierung des historischen Blicks», SoZ, Nr.12, Dezember 2002, S.24

– «Unbegrenzter Krieg. Die neue Ideologie des Krieges aus historischer Sicht», Sozialistische Hefte, Nr.3, Februar 2003, S.3–10

– «Die Rückgewinnung der Geschichte. Zum Tode von Christopher Hill», SoZ, Nr.7, Juli 2003, S.24

– «Kapitalismus und soziale Rechte», SoZ+, Nr.2, September 2010, S.33–38

Ellen Meiksins Woods Hauptwerke:

– The Retreat from Class: A New ‘True’ Socialism. London: Verso, 1986

– Peasant-Citizen and Slave. The Foundations of Athenian Democracy. London, New York: Verso, 1988

– Citizens to Lords. A Social History of Western Political Thought from Antiquity to the Middle Ages. London, New York: Verso, 2008

– Demokratie contra Kapitalismus. Beiträge zur Erneuerung des historischen Materialismus. Köln: Neuer ISP Verlag, 2010

– Der Ursprung des Kapitalismus. Eine Spurensuche. Hamburg: Laika, 2015

Ellen Meiksins Woods Demokratie contra Kapitalismus – Beiträge zur Erneuerung des historischen Materialismus (304 S.) kann auf der Webseite des Neuen ISP Verlags kostenlos als PDF-Datei heruntergeladen werden:

http://www.neuerispverlag.de/vergriffen.php

Quelle: Soz Nr. 02/2016

 

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