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Deutschland: Spaltender Sozialstaat und die Rede von der Belastungsgrenze

Eingereicht on 18. Februar 2016 – 15:45

Ingo Stützle. Dass es CDU und CSU sowie ihre kleine Schwester, die AfD, sind, die immer wieder davon sprechen, dass es eine »Belastungsgrenze« bei der Aufnahme von Asylsuchenden gebe: geschenkt. In den Chor stimmen aber auch andere ein. Sigmar Gabriel (SPD): »Wir nähern uns den Grenzen unserer Möglichkeiten«; Boris Palmer (Die Grünen) beklagt ein Redeverbot: »Man darf nicht sagen: Wir schaffen das nicht«; Sahra Wagenknecht (DIE LINKE): »Wir können nicht jedes Jahr eine Million Menschen aufnehmen«, und Kontingente wären »auf jeden Fall eine Verbesserung«; Oskar Lafontaine (DIE LINKE): »Es ist doch klar, dass die Kapazitäten begrenzt sind«. Eine zentrale Prämisse dieser Aussagen ist, dass die deutsche Bevölkerung der Aufnahme von Geflüchteten nicht nur aus humanitären Gründen zustimmen muss, sondern dass die Wir-schaffen-das-Politik auch sozial-materiell mitgetragen werden muss. Humanitäre Hilfe darf nicht auf Kosten sozialstaatlicher Zuwendungen an deutsche Staatsbürger_innen gehen.

Wenn auch noch nicht alle Dämme gebrochen sind und »Schutzbedürftigen« prinzipiell Hilfe zugestanden wird, so wird doch Angst um die vermeintlichen »Errungenschaften« geschürt. Wer jedoch glaubt, dass das nur Zufall ist oder Ausdruck eines besonders bornierten Nationalismus, der täuscht sich. Vielmehr ist die Geschichte des deutschen Sozialstaats selbst eine Geschichte von nationalistischem Ausschluss und Spaltung. Die gegenwärtig verkorkste Debatte ist also auch ein Resultat ausgebliebener Sozialstaatskritik, die sich im Klaren darüber ist, dass der Sozialstaat kein Gegenprinzip zum Kapitalismus darstellt. Die sozialdemokratische Erzählung lautet demgegenüber, dass der Sozialstaat eine Errungenschaft der Arbeiterbewegung sei, gegen die kapitalistischen Zumutungen. Das ist jedoch nur die eine Seite der Medaille. Die andere Seite ist, dass der Sozialstaat die Antwort auf die »von oben« formulierte sogenannte soziale Frage war. Man kann hierbei grob drei Aspekte unterscheiden:

1) Die Sozialpolitik bearbeitet das Problem, dass der Eigentumslose mehr geneigt ist, »Vagabund und Räuber und Bettler (zu sein) als Arbeiter zu werden« (Marx). So beschreibt der französische Sozialphilosoph André Gorz in »Kritik der ökonomischen Vernunft« (1989), dass der »Widerwillen der Arbeiter, Tag für Tag einen ganzen Arbeitstag zu bestreiten, die … Hauptursache für den Bankrott der ersten Fabriken« war. Der »stumme Zwang der ökonomischen Verhältnisse« (Marx) reicht demnach nicht aus, dass das Kapital auch gefügige Arbeitskraft auf dem Markt vorfindet. Die Sozialpolitik löst das »Dauerproblem« der Integration in das Lohnarbeitsverhältnis: dass eben nicht nur Repression, sondern auch Sozialpolitik alternative Subsistenzweisen zur Lohnarbeit verhindern soll, Arbeitsmoral in Fleisch und Blut übergeht. (ak 556) Deshalb ist in der sozialpolitischen Gesetzgebung bis heute festgeschrieben, dass eine Voraussetzung für sozialstaatliche Unterstützung die Bereitschaft ist, die Arbeitskraft zu Markte zu tragen. Diese Bereitschaft wird in den letzten Jahren verstärkt eingefordert und auf die Probe gestellt (Agenda 2010), die Zumutbarkeiten, welche Arbeit angenommen werden muss, werden gesenkt.

Die »Arbeitsverweigerungsvermutung« (Heide Gerstenberger) ist also ein zentrales Organisationsprinzip staatlich geregelter Geldzahlungen. Dieses kommt zudem nicht aus seiner nationalen Haut. Der Sozialversicherungsstaat ist Nationalstaat. Die Europäische Sozialcharta ist zahnlos, und die Debatte um Globale Soziale Rechte, vor einigen Jahren noch präsentes Thema etwa bei attac, ist fast vergessen. Wie schlimm die Lage also ist, zeigt sich unter anderem daran, dass es nur wenige sozialdemokratische Stimmen gibt (meist aus der Partei DIE LINKE), die sich auch nur ansatzweise Gedanken darüber machen, wie soziale Absicherung auf europäischer oder gar globaler Ebene aussehen könnte. Es gibt nur wenige Stimmen, die so etwas wie eine europäische Arbeitslosenversicherung fordern. Aber selbst eine solche würde die Trennung von »Versicherungsschutz« und »Fürsorge« oder gar den Zwang zur Arbeit nicht aufheben.

2) Als in den 1880ern unter Otto von Bismarck die ersten sozialstaatlichen Maßnahmen beschlossen wurden, stellte eine wachsende Arbeiterbewegung den Zwang zur Lohnarbeit und den Kapitalismus als solchen infrage. Die antikapitalistischen Kräfte sollten demnach auch materiell damit versöhnt werden, dass sie ausgebeutet werden. Das führte unter Bismarck zur Zersetzung der solidarischen Strukturen von unten und zur Enteignung der Hilfskassen, die die Arbeiterklasse unabhängiger vom Arbeitsmarkt, der erpresserischen Macht des Kapitals und staatlichen Strukturen machte und zugleich einen Anreiz darstellte, sich gewerkschaftlich zu organisieren.

Die »Verstaatung« (Agnoli) der Sozialpolitik ist demnach nicht einfach eine Errungenschaft, sondern eine gewisse Zurückdrängung der Arbeiterautonomie. Mit der Einführung der Krankenversicherung (1883), Unfallversicherung (1884) und Invaliditäts- und Altersversicherung (1889) wurden die Arbeiter_innen an den Nationalstaat gebunden. Die Reproduktion der Arbeitskraft ist damit nicht nur familiär-patriarchal, sondern auch staatlich organisiert, der Zugriff auf eine gesunde und disziplinierte Arbeit langfristig gesichert. Mehr noch: Mit der Etablierung des Sozialstaats ging eine weitere Spaltung einher, die bis heute in ihn eingeschrieben ist: die Trennung von Armenpolitik und Arbeiterpolitik, die zugleich die Arbeiterklasse spaltet. Der Sozialstaat als Sozialversicherungsstaat funktioniert, weil die Arbeiter_innen von ihrem Lohn einen Teil als Sozialversicherung zahlen. Der Beitrag verbrieft einen Rechtsanspruch auf Sozialleitungen. Die Armenpolitik organisiert hingegen die Fürsorge für all diejenigen, die nicht arbeiten können oder wollen.

Sozialpolitik schreibt also einerseits den Schein der gerechten Entlohnung fort, indem Lohnabzüge, die Sozialabgaben, einen Rechtsanspruch auf sozialstaatliche Unterstützung verbriefen – der Arbeitsleistung steht eine gerechte Gegenleistung gegenüber. Andererseits sind mit der Trennung von Arbeiter- und Armenpolitik die »Arbeitsverweigerungsvermutung« und die Spaltung der Arbeiterklasse nochmals in besonderer Weise institutionalisiert: Der Sozialstaat ist wesentlich Sozialversicherungsstaat.

3) Mit der sogenannten Junius-Broschüre (1916) legte Rosa Luxemburg Rechenschaft darüber ab, wieso die Sozialdemokratie mit wehenden Fahnen in den Ersten Weltkrieg ziehen konnte. Luxemburg machte deutlich, was die Politik des »Burgfriedens« bedeutet, »das heißt die Einstellung des Klassenkampfes für die Dauer des Krieges«. Sie kritisierte die »moralische Mitverantwortung für den Krieg« und die »Säbeldiktatur im Inneren«. Die Sozialdemokratie habe eine »Militärdiktatur« von bisher unbekanntem Ausmaß miterrichtet, in der sie willfährig die »Rolle des Gendarmen der Arbeiterklasse« übernommen habe.

Ein paar Jahre später zog sie die Konsequenz und bracht mit der SPD. Eine Entscheidung, bei der jedoch nicht reflektiert wurde, was die »sozialstaatlichen Errungenschaften« mit dem Kriegsgeschrei zu tun hatten. Der Burgfrieden war kein nur ideologischer, sondern auch ein materieller – mitgetragen vom deutschen Militär, das sich mitunter gegen die Interessen der deutschen Schwerindustrie für den Sozialstaat und die Interessensvertretung in Betrieben starkmachte. Für das Militär sind zerschlissene Köper untauglich. Ebenso taugen Arbeiter, die sich Sorgen über die Zukunft machen, nicht als zuverlässige Soldaten.

Der Sozialstaat bringt es demnach mit sich, dass all diejenigen, die nicht arbeiten können oder wollen – Arbeitslose, Obdachlosen, Menschen mit Behinderung, Bettler_innen – zum Abschuss freigegeben sind, wenn sich nicht eine kritische Masse permanent mit ihnen solidarisiert. Das ist nicht im Namen »sozialstaatlicher Errungenschaften« möglich, sondern nur gegen die Organisationsprinzipien des Sozialstaats. Oskar Lafontaine kritisierte an der Agenda 2010, dass ein verbriefter Anspruch auf Arbeitslosengeld entwertet wird, indem man sehr viel schneller aus einer Versicherungsleistung in Hartz IV rutscht: Die Sozialdemokratie (und die Gewerkschaften) haben eben fast nie die Nicht-Arbeiter_innen im Auge, wenn es um Solidarität geht: Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen.

Und die Spaltung geht weiter: Asylbewerber_innen bekamen bis vor etwa einem Jahr nur etwa 60 Prozent dessen, was als Existenzminimum für Sozialhilfeempfänger_innen galt. Das wurde zwar mit der Reform des Asylbewerberleistungsgesetzes geändert, aber Verweigerung der Existenzgrundlage wird de facto weiter praktiziert – und von unten mitgetragen: Tafeln, die diejenigen mit ernähren, die mit Hartz IV nicht überleben können, fragen sich, ob ihr Essen auch für Geflüchtete reicht. Im bayrischen Dachau wollte die Tafel, die Bedürftige mit Lebensmittel versorgte, nichts an Flüchtlinge ausgeben. Die Begründung des Kreisvorsitzenden des Bayrischen Roten Kreuzes, Bernhard Seidenath: Diese sollten lernen, mit ihrem Geld umzugehen.

Wie die Sozialdemokratie dank »sozialstaatlicher Errungenschaften« mit dem wilhelminischen Deutschland ihren Frieden schloss, um 1914 für Kaiser und Vaterland in den Krieg zu ziehen, so wird derzeit dafür mobilisiert, dass für »soziale Errungenschaften« in den Krieg gegen die Flüchtlinge gezogen wird.

Quelle: www.akweb.de vom 16. Februar 2016

ak – analyse & kritik – zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 613 / 16.2.2016

 

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