Schweiz
International
Geschichte und Theorie
Debatte
Kampagnen
Home » Debatte, Geschichte und Theorie, International, Kampagnen

Leo Trotzki: Die Schule der revolutionären Strategie

Eingereicht on 13. Januar 2017 – 16:54

Bericht vom 3. Kominternkongress auf einer Partei-Mitgliederversammlung in Moskau (1921). Mit Schule der revolutionären Strategie hat Trotzki hier den 3. Weltkongress der III. Internationale im Sinne, der vom 22. Juni bis zum 12. Juli 1921 in Moskau stattfand. Er stand vor allem im Zeichen der gescheiterten März-Aktion in Deutschland, aber auch des raschen Anwachsens der Kommunistischen Internationale und war von der Teilnehmerzahl her der erfolgreichste Kongress. Sein Motto lautete „Zu den Massen“. Siehe zum Kongress: John Riddel: To the Masses. Proceedings of the Third Congress of the Communist International, 1921.

[Nach Die Neue Etappe. Die Weltlage und unsere Aufgaben. Verlag der Kommunistischen Internationale, Auslieferungsstelle für Deutschland: Carl Hoym Nachf. Louis Cahnbley, Hamburg 1921, S. 49-98]

Die materiellen Voraussetzungen der Revolution.

Die marxistische Theorie hat zuerst die innere Bedingtheit und Gesetzmäßigkeit der historischen Entwicklung festgestellt. In Bezug auf die Revolution hat die Marxsche Theorie durch die Feder von Marx selbst (in der Vorrede zu seiner „Kritik der politischen Ökonomie“) ungefähr folgenden Satz aufgestellt: keine Gesellschaftsordnung tritt ab, so lange sie nicht ihre Produktivkräfte zu dem Maximum, das unter der betreffenden Gesellschaftsordnung zulässig ist, erreicht hat; und keine neue Gesellschaftsordnung tritt auf den Plan, wenn in der alten Gesellschaftsordnung für sie die notwendigen wirtschaftlichen Voraussetzungen nicht im Keime vorhanden sind. Diese für die revolutionäre Politik grundlegende Wahrheit behält absolut unbestritten auch jetzt für uns ihre ganze führende Bedeutung. Doch der Marxismus ist mehr als einmal mechanisch, gradlinig und daher irrtümlich aufgefasst worden. Auch aus dem angeführten Satze lassen sich irrige Schlüsse ziehen. Marx meint, dass eine Gesellschaftsordnung dann von der Bühne abtreten muss, wenn die Produktivkräfte – die Technik, die Beherrschung der Natur durch den Menschen – sich in ihrem Rahmen nicht weiter entwickeln können. Vom marxistischen Standpunkt ist die historische Gesellschaft als solche die Organisation des kollektiven, vielfältigen Menschen zum Ziel der Steigerung seiner Macht über die Natur. Dieses Ziel wird den Menschen natürlich nicht durch irgend jemanden von außen gesteckt, sondern sie selbst kämpfen in ihrer Entwicklung dafür, indem sie sich den objektiven Verhältnissen des Milieus anpassen und ihre Herrschaft über die elementaren Kräfte der Natur immer mehr und mehr vergrößern. Der Satz, dass für die Revolution – für die soziale, tiefere Revolution, nicht für die oberflächlichen politischen, wenn auch blutigen Umwälzungen, – für die soziale Revolution, durch die eine Wirtschaftsordnung durch eine andere wirtschaftliche Ordnung ersetzt wird, die Bedingungen erst in dem Moment geschaffen werden, da die alte soziale Ordnung keinen Raum mehr bietet für die Entfaltung der Produktivkräfte, – dieser Satz bedeutet keineswegs, dass die alte Gesellschaftsordnung von selbst in dem Moment unvermeidlich zusammenbricht, wo sie im wirtschaftlichen Sinne reaktionär wird, d. h. von dem Augenblick an, wo sie die Entwicklung der technischen Macht des Menschen zu hemmen anfängt. Keineswegs, denn bilden auch die Produktivkräfte die grundlegende bewegende Kraft der historischen Entwicklung, so vollzieht sich jedoch diese Entwicklung nicht außerhalb der Menschen, sondern durch sie. Freilich, die Produktivkräfte – die Macht des sozialen Menschen über die Natur, – bilden sich unabhängig vom Willen jedes einzelnen Menschen und bloß in geringer Abhängigkeit vom Gesamtwillen der Menschen, die jetzt leben, denn die Technik stellt ein angehäuftes Kapital dar, das wir von der Vergangenheit übernehmen und das uns vorwärts stößt oder unter gewissen Umständen auch hemmt, – aber wenn es den Produktivkräften der Technik allzu eng wird im alten Rahmen, sagen wir, der Sklavenhaltergesellschaft, der feudalen oder bürgerlichen Gesellschaft, und wenn zur Weiterentwicklung der menschlichen Macht eine Veränderung der Gesellschaftsformen notwendig geworden ist, dann vollzieht sich das nicht von selbst, wie der Sonnenauf- und -untergang, sondern muss sich durch die Menschen, durch den Kampf der zu Klassen vereinten Menschen vollziehen. Die Gesellschaftsklasse, die in der alten Gesellschaft dominiert und reaktionär geworden ist, muss von einer neuen Gesellschaftsklasse abgelöst werden, die über das Programm einer neuen Gesellschaftsordnung verfügt, die den Bedürfnissen der Entwicklung der Produktivkräfte entspricht und die Bereitschaft zeigt, dieses Programm zu verwirklichen. Aber es ist keineswegs immer so, dass, sobald die gegebene Gesellschaftsordnung sich überlebt hat, d. h. reaktionär geworden ist, eine neue Klasse auftaucht, die bewusst, organisiert und stark genug wäre, um die alten Herren des Lebens zu stürzen und den neuen gesellschaftlichen Beziehungen den Weg zu bahnen. Das ist keineswegs immer der Fall. Im Gegenteil, in dar Geschichte geschah es mehr als einmal, dass die alte Gesellschaft sich erschöpft hatte, z. B. die auf Sklaverei begründete Gesellschaft des alten Rom und früher noch die antiken Zivilisationen Asiens, wo das Sklavenfundament der Entfaltung der Produktivkräfte den Weg versperrte; – aber in dieser Gesellschaft, die sich überlebt hatte, gab es keine neue Klasse, die stark genug gewesen wäre, um die Sklavenhalter zu stürzen und ein neues, feudales Regime einzuführen, denn die Feudalordnung war, verglichen mit der Sklaverei, bereits ein Schritt vorwärts. Es stellte sich in der Sklavenhaltergesellschaft nicht immer im nötigen Momente die neue Klasse, die Bourgeoisie, ein, um die Sklavenhalter zu stürzen und der historischen Entwicklung freie Bahn zu schaffen. In der Geschichte geschah es wiederholt, dass eine bestimmte Gesellschaft, eine Nation, ein Volk, ein Volksstamm, einige Stämme und Nationen, die in gleichartigen historischen Verhältnissen lebten, auf die Unmöglichkeit einer Weiterentwicklung auf der gegebenen wirtschaftlichen, sklavischen oder feudalen Basis stießen; da es aber keine neue Klasse gab, die imstande gewesen wäre, ihnen einen neuen Weg zu weisen; so zerfielen sie; die betreffende Zivilisation, der betreffende Staat, die betreffende Gesellschaft zersetzte sich. Auf diese Weise bewegte sich die menschliche Gesellschaft nicht immer von unten nach oben, in aufsteigender Linie. Nein, es gab lange Perioden der Stagnation, Rückfälle in die Barbarei kamen vor. Gesellschaften stiegen empor, erreichten ein gewisses Niveau, aber konnten sich auf dieser Höhe nicht halten … Die Menschheit verharrt nicht auf einem Fleck, ihr Gleichgewicht ist infolge des Klassen- und Rassenkampfes labil; wenn die Aufwärtsentwicklung unmöglich wird, stürzt die Gesellschaft abwärts; wenn keine Klasse vorhanden ist, die imstande wäre, sie höher zu treiben, fällt sie auseinander und öffnet Tür und Tor der Barbarei.

Um sich diese außerordentlich komplizierte Frage klar vorzustellen, genügen die abstrakten Betrachtungen, die ich hier entwickle, nicht. Unsere jungen Genossen, die von diesen Fragen noch wenig berührt worden sind, müssen historische Werke lesen, um das tatsächliche Material aus der Geschichte der verschiedenen Länder und Völker und insbesondere und ganz speziell aus der Wirtschaftsgeschichte zu beherrschen. Nur dann kann man sich die innere Mechanik der Gesellschaft konkreter und deutlicher vorstellen. Diese Mechanik muss man vollkommen verstehen, damit man den Marxismus auf die Taktik, d. h. auf die Praxis des Klassenkampfes richtig anwenden kann.

Fragen revolutionärer Taktik.

Manche Genossen stellen sich die Sache allzu einfach vor, soweit vom Siege des Proletariats, die Rede ist. Wir haben jetzt in Europa, ja im Weltausmaß eine Situation, da wir vom marxistischen Standpunkt mit absoluter Bestimmtheit sagen können, dass die bürgerliche Ordnung sich restlos erschöpft hat. Die Produktivkräfte können sich im Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft nicht weiter entwickeln. Im Gegenteil, das, was wir im letzten Jahrzehnt wahrnehmen, ist ein Zerfall, eine Zersetzung der wirtschaftlichen Grundlagen der kapitalistischen Menschheit und eine mechanische Zerstörung der angehäuften Güter. Wir leben jetzt unter den Bedingungen einer entsetzlichen, in der Weltgeschichte noch nie dagewesenen Krise, die nicht eine einfache, programmäßige, „normale“, im kapitalistischen Entwicklungsprozess der Produktivkräfte unvermeidliche Krise darstellt, sondern den Zerfall und die Zersetzung der Produktivkräfte der bürgerlichen Gesellschaft bedeutet. Da können Schwankungen nach oben und unten eintreten und werden auch eintreten. Aber im Großen und Ganzen geht die Kurve der ökonomischen Entwicklung (wie ich bereits an anderer Stelle ausgeführt habe) durch alle Schwankungen hindurch, nicht aufwärts, sondern abwärts. Doch bedeutet das denn, dass der Untergang der Bourgeoisie automatisch und mechanisch besiegelt ist? Mitnichten. Die Bourgeoisie ist eine lebendige Klasse, die auf einer bestimmten wirtschaftlichen Produktionslage aufgewachsen ist. Diese Klasse ist nicht das passive Produkt der ökonomischen Entwicklung, sondern eine lebendige, wirkende, aktive historische Kraft. Diese Klasse hat sich überlebt, d. h. sie wurde zum schrecklichsten Hemmschuh der historischen Entwicklung. Aber dies bedeutet keineswegs, dass diese Klasse dem historischen Selbstmord zuneige, dass sie bereit sei, zu sagen: „Da die wissenschaftliche Theorie der historischen Entwicklung mich als reaktionär erkannt hat, so trete ich von der Weltbühne ab“. Davon kann natürlich nicht die Rede sein. Andererseits genügt es wiederum keineswegs, dass die Kommunistische Partei erkenne, die bürgerliche Klasse sei verurteilt und müsse beseitigt werden, damit der Sieg des Proletariats dadurch schon gesichert sei. O nein, die Bourgeoisie muss noch besiegt und gestürzt werden.

Wäre im Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft eine Weiterentwicklung der Produktivkräfte denkbar, so wäre die Revolution überhaupt unmöglich. Da aber eine Weiterentwicklung der Produktivkräfte im Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft undenkbar ist, so ist die Grundbedingung für die Revolution vorhanden. Aber die Revolution an sich bedeutet den lebendigen Klassenkampf. Selbst wenn die Bourgeoisie in einen völligen Gegensatz zu den Bedürfnissen der historischen Entwicklung geraten ist, bleibt sie immer noch die mächtigste Klasse. Noch mehr, man kann sagen, dass die Bourgeoisie in politischer Hinsicht erst in dem Moment ihre höchste Macht, die größte Konzentration an Kräften und Mitteln, an politischen und militärischen Mitteln, an Betrug, Vergewaltigung und Provokation, d. h. die höchste Blüte ihrer Klassenstrategie erreicht, wo ihr der soziale Untergang am unmittelbarsten droht. Der Krieg und seine furchtbaren Folgen entstanden ja gerade deshalb, weil die Produktivkräfte sich im Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft nicht weiter entwickeln konnten – der Krieg und die Folgen des Krieges, sage ich, offenbarten der Bourgeoisie die drohende Gefahr des Unterganges. Das hat ihren Selbsterhaltungstrieb als Klasse aufs höchste geschärft. Je größer die Gefahr ist, desto mehr verfeinert die Klasse wie die Einzelperson ihre Lebenskräfte zum Kampfe um die Selbsterhaltung. Wir dürfen ferner nicht vergessen, dass die Bourgeoisie sich in Lebensgefahr sah, nachdem sie eine gewaltige politische Erfahrung erworben hatte. Die Bourgeoisie schuf und zerstörte allerhand Regierungsformen. Sie entwickelte sich unter dem reinen Absolutismus, unter der konstitutionellen Monarchie, unter der parlamentarischen Monarchie, unter der demokratischen Republik, unter der bonapartistischen Diktatur, im Staate, der mit der katholischen Kirche verbunden war, im Staate, der von der Reformation abhing, im kirchenfreien Staate, wo die Kirche verfolgt wurde, usw. usw.; diese ganze mannigfaltige und reiche Erfahrung, die der regierenden Kaste der Bourgeoisie in Fleisch und Blut übergegangen ist, ist jetzt von ihr mobilisiert worden, um sich um jeden Preis am Ruder zu erhalten. Und sie handelt mit umso mehr Erfindungsgabe, Raffinement und Rücksichtslosigkeit, je klarer ihre Führer die drohende Gefahr erkennen.

Vom oberflächlichen Standpunkt aus gesehen, könnte man hier einen gewissen Widerspruch entdecken; wir haben die Bourgeoisie vom Gericht des Marxismus, d. h. vom Gericht der wissenschaftlichen Erkenntnis des historischen Prozesses, als überlebt anerkennen sehen, aber zugleich zeigt sie eine gewaltige Vitalität. In Wirklichkeit ist da kein Widerspruch enthalten. Es ist eben das, was man im Marxismus Dialektik nennt. Ihr Wesen besteht darin, dass die verschiedenen Seiten des historischen Prozesses: die Wirtschaft, die Politik, der Staat, das Anwachsen der Arbeiterklasse sich nicht gleichzeitig als parallele Fäden entwickeln. Die Arbeiterklasse entwickelt sich nicht parallel, Punkt für Punkt, in dem Grade, wie die Produktivkräfte anwachsen, und die Bourgeoisie verdorrt und verkümmert nicht parallel damit, wie das Proletariat wächst und erstarkt. Nein, die Geschichte geht anders. Die Produktivkräfte entwickeln sich sprungweise, stürmen mitunter voran, bleiben manchmal zurück. Die Bourgeoisie entwickelte sich ihrerseits stoßweise; ebenso die Arbeiterklasse. In der Periode, da die Produktivkräfte des Kapitalismus in eine Sackgasse geraten sind und nicht weiter können, sehen wir, wie die Bourgeoisie die Armee, die Polizei, die Wissenschaft, die Schule, die Kirche, das Parlament, die Presse, die weißen Garden in ihrer Hand sammelt, fest die Zügel spannt und in Gedanken zu der Arbeiterklasse sagt: „Jawohl, meine Lage ist gefährlich, ich sehe, dass vor meinen Füßen sich ein Abgrund auftut. Doch wir wollen noch abwarten, wer in diesen Abgrund zuerst stürzen wird. Vielleicht wird es mir vor meinem Untergange, wenn dies mir schon beschert ist, noch gelingen, dich, die Arbeiterklasse, in den Abgrund zu schleudern.“ Was würde das bedeuten? Den Untergang der europäischen Zivilisation überhaupt. Würde die Bourgeoisie, die historisch zum Untergang verurteilt ist, genügend Kraft, Energie und Macht in sich finden, um die Arbeiterklasse in dem furchtbaren Treffen, das herangerückt ist, zu besiegen, so würde es bedeuten, dass Europa zu einer wirtschaftlichen und kulturellen Zersetzung verurteilt ist, wie es in der Vergangenheit mit vielen Ländern, Nationen und Zivilisationen der Fall war. Mit anderen Worten, die Geschichte hat es so weit gebracht, dass zur Rettung Europas und der ganzen Welt die proletarische Revolution absolut notwendig geworden ist. Die Geschichte hat die Grundvoraussetzung zu dem Erfolg dieser Revolution gegeben, in dem Sinne, dass die Wirtschaft ihre Produktivkräfte auf bürgerlicher Basis nicht weiter entwickeln kann. Aber damit übernimmt nicht die Geschichte für die Arbeiterklasse, für die Politiker der Arbeiterklasse, für die Kommunisten die Lösung der ganzen Aufgabe. Nein, es ist, als würde sie zu der Arbeiteravantgarde (stellen wir uns für einen Augenblick die Geschichte als außenstehende Person vor), als würde sie zu der Arbeiterklasse sagen: „Du musst wissen, wenn du die Bourgeoisie nicht wirfst, gehst du unter den Trümmern der Zivilisation zugrunde. Nun versuche einmal, mach deine Sache!“ So stehen jetzt die Dinge.

Wir sehen, wie in Europa nach dem Kriege die Arbeiterklasse halb elementar, halb bewusst versucht, die ihr von der Geschichte gestellte Aufgabe zu lösen. Die praktische Schlussfolgerung, zu der alle denkenden Elemente der Arbeiterklasse in Europa und der ganzen Welt in diesen drei Jahren nach Beendigung des Weltkrieges kommen mussten, lautet: die Bourgeoisie, selbst von der Geschichte zum Tode verurteilt, ist nicht so leicht und einfach zu besiegen, wie es den Anschein hatte.

Die Periode, in der sich Europa und die ganze Welt befindet, ist einerseits eine Zeit des Verfalls der Produktivkräfte der bürgerlichen Gesellschaft, aber andererseits die Zeit der höchsten Blüte der konterrevolutionären Strategie der Bourgeoisie. Das muss man klar und deutlich erkennen. Noch niemals hatte die konterrevolutionäre Strategie d. h. die Kunst des kombinierten Kampfes gegen das Proletariat mit allen Methoden, angefangen mit der süßesten Professoren- oder Pfaffenpredigt bis zur Erschießung der Streikenden mit Maschinengewehren, eine solche Höhe erreicht, wie jetzt.

Der frühere amerikanische Staatssekretär Lansing erzählt in seinem Buch über den Versailler Frieden, dass Lloyd George keine Geographie kann, nichts von Wirtschaft versteht usw. usw. Wir wollen es ihm gerne glauben. Dass dieser selbe Lloyd George aber alle Methoden der Irreführung und der Vergewaltigung der Werktätigen, von den raffiniertesten und subtilsten bis zu den blutrünstigsten, in seinem Kopfe gesammelt hat, dass er alle Erfahrungen, die in dieser Hinsicht die englische Geschichte lieferte, sich angeeignet und all das weiter entwickelt und in der Erfahrung der letzten unruhigen Jahre verfeinert hat, – unterliegt für uns keinem Zweifel. Lloyd George ist in seiner Art ein ausgezeichneter Stratege der Bourgeoisie, die historisch vom Untergang bedroht ist. Und wir müssen sagen, ohne dass wir damit die Gegenwart und umso weniger die Zukunft der noch sehr jungen englischen Kommunistischen Partei schmälerten, – wir müssen sagen, dass das englische Proletariat einstweilen solche Strategen nicht hat. In Frankreich haben der Präsident der Republik, Millerand, der einstmals der Partei der Arbeiterklasse angehörte, und das Haupt der Regierung, Briand, der einmal unter den Arbeitern die Idee des Generalstreiks propagierte, sie haben die ganze reiche Erfahrung der französischen Bourgeoisie mitsamt der Erfahrung, die sie im Lager des Proletariats geschöpft hatten, in den Dienst der Bourgeoisie gestellt als ihre qualifizierten konterrevolutionären Strategen. In Italien und in Deutschland sehen wir, mit welcher Sorgfalt die Bourgeoisie aus ihrer Mitte einzelne Personen oder Gruppen aussondert, in denen sich die ganze Erfahrung des Klassenkampfes der Bourgeoisie um ihre Entfaltung, Bereicherung, Festigung und Selbstverwaltung konzentriert.

Die Schule der revolutionären Strategie.

Die Aufgabe der Arbeiterklasse, der europäischen sowie der internationalen, besteht darin, der restlos durchdachten Strategie der konterrevolutionären Bourgeoisie eine ebenso restlos durchdachte Strategie des Proletariats entgegenzustellen. Dazu muss man vor allem klar erfassen, dass es nicht gelingen wird, die Bourgeoisie automatisch, mechanisch zu stürzen, nur deshalb, weil sie von der Geschichte zum Tode verurteilt ist. Auf dem komplizierten Gebiet des politischen Kampfes stehen auf der einen Seite die Bourgeoisie mit allen ihren Hilfskräften und Mitteln und auf der andern die Arbeiterklasse mit ihren verschiedenen Schichten, Richtungen, Entwicklungsstufen, mit ihrer Kommunistischen Partei, die mit den anderen Parteien und Organisationen um den Einfluss auf die Arbeitermassen ringt. Die Kommunistische Partei, die faktisch sich immer mehr an die Spitze der Arbeitermassen Europas stellt, muss im Kampfe manövrieren, bald vorrücken, bald sich zurückziehen, ihren Einfluss befestigen, neue Positionen erobern, so lange bis ein günstiger Moment kommt, um die Bourgeoisie zu stürzen. Wie gesagt: dies ist eine komplizierte strategische Aufgabe, und der letzte Kongress hat diese Aufgabe in ihrer ganzen Größe aufgeworfen. Von diesem Gesichtspunkte aus darf man sagen, dass der dritte Kongress der Kommunistischen Internationale die hohe Schule der revolutionären Strategie war.

Der erste Kongress fand zu der Zeit statt, als nach dem Kriege der Kommunismus als europäische Bewegung erst im Entstehen begriffen war, und als man mit einem gewissen Rechte annehmen und hoffen durfte, dass der halb elementare Ansturm der Arbeiterklasse die Bourgeoisie überrennen würde, die noch nicht Zeit hatte, eine neue Orientierung und neue Stützpunkte nach dem Kriege zu finden. Diese Stimmung und diese Erwartung wurden durch den damaligen objektiven Stand der Dinge in gewissem Grade gerechtfertigt. Die Bourgeoisie war durch die Folgen ihrer eigenen Kriegspolitik, die ihrerseits ihr von der objektiven Lage aufgezwungen wurde, schrecklich eingeschüchtert. Ich sprach bereits davon in meinen Ausführungen zur Weltlage und will mich nicht wiederholen. Unzweifelhaft ist jedenfalls, dass wir alle um die Zeit des ersten Kongresses (1919) – die einen mehr, die anderen weniger – darauf rechneten, dass der elementare Ansturm der Arbeiter- und zum Teil auch Bauernmassen in der allernächsten Zukunft die Bourgeoisie stürzen würde. Und der Ansturm war wirklich gewaltig. Die Zahl der Opfer war sehr groß. Aber die Bourgeoisie hat diesem ersten Ansturm standgehalten und sich gerade deshalb in ihrer Selbstsicherheit als Klasse gefestigt.

Der zweite Kongress im Jahre 1920 trat an einem Wendepunkt zusammen: schon fühlte man, dass durch einen einzigen Anlauf, in wenigen Wochen oder Monaten die Bourgeoisie nicht zu stürzen ist, dass dazu eine ernstere politische und organisatorische Vorbereitung notwendig ist. Aber zu gleicher Zeit war die Situation sehr akut. Die Rote Armee marschierte, wie erinnerlich, auf Warschau, und man konnte damit rechnen, dass in Anbetracht der revolutionären Lage in Deutschland, Italien und den anderen Ländern der militärische Stoß, der natürlich keine selbständige Bedeutung haben kann, als Ergänzungskraft im Kampf der europäischen Kräfte die Lawine der Revolution von ihrem momentanen toten Punkte verrücken würde. Dies geschah nicht. Wir wurden zurückgeschlagen.

Nach dem zweiten Kongress der Kommunistischen Internationale stellte sich immer mehr und mehr die Notwendigkeit eine komplizierteren Strategie der revolutionären Arbeiterklasse heraus. Wir sehen, wie die Arbeitermasse, die bereits eine solide Erfahrung nach dem Kriege erworben hat, selbst in dieser Richtung drängt, und das Ergebnis davon ist vor allem die Tatsache, dass die kommunistischen Parteien überall wachsen. In der ersten Periode stürzten sich in Deutschland Millionen von Arbeitern im Sturm auf die alte Gesellschaft, fast ohne den Spartakusbund zu beachten. Was hatte das zu bedeuten? Die Arbeitermasse glaubte nach dem Kriege, sie brauche jetzt nur zu fordern, vorzudringen, zuzuschlagen, – und vieles oder gar alles würde anders werden. Deshalb glaubten die Millionen Arbeiter, dass man keine Zeit verlieren solle mit dem Aufbau einer Kommunistischen Partei. Im letzten Jahr verwandelten sich indes die Kommunistischen Parteien Deutschlands und Frankreichs, der zwei wichtigsten Länder des europäischen Kontinents, aus Zirkeln in Organisationen, die viele Tausende von Arbeitern umfassen. In Deutschland ca. 400.000, in Frankreich 120-130.000, eine für die französischen Verhältnisse sehr hohe Ziffer. Dieser Umstand zeigt, wie sehr die Arbeitermasse in dieser Periode erfasst hat, dass ein Sieg ohne eine besondere Organisation, wo die Arbeiterklasse ihre Erfahrungen überprüft und aus ihnen Schlussfolgerungen zieht, – kurzum, dass ohne eine zentralisierte Parteileitung ein Sieg unmöglich ist. Darin besteht die gewaltige Errungenschaft der verflossenen Periode: in der Schaffung von kommunistischen Massenparteien, zu denen noch die Tschechoslowakische Partei mit ihren 350.000 Mitgliedern zu zählen ist. (Nach der Vereinigung mit der deutschen kommunistischen Organisation der Tschechoslowakei wird die Partei 400.000 Mitglieder haben, bei einer Gesamtbevölkerung von 12 Millionen!)

Es wäre jedoch falsch zu erwarten, dass diese jungen kommunistischen Parteien, die erst entstanden sind, sich schon die Kunst der revolutionären Strategie zu eigen gemacht haben. O nein! Davon zeugt die taktische Erfahrung des letzten Jahres allzu klar. Und der dritte Kongress hatte diese Frage kategorisch zu beantworten.

Der letzte Kongress hatte, wenn man in allgemeinen Zügen sprechen will, zwei Aufgaben vor sich. Die eine bestand und besteht darin, die Arbeiterklasse und darunter auch unsere eigenen kommunistischen Reihen von jenen Elementen zu säubern, die den Kampf nicht wollen, die den Kampf fürchten, und ihre Unlust zu kämpfen, ihre innere Neigung zum Paktieren mit der bürgerlichen Gesellschaft, bemänteln mit diesen oder jenen Theorien. Die Säuberung der Arbeiterbewegung im Ganzen und umso mehr der kommunistischen Reihen von den reformistischen, zentristischen und halb zentristischen Elementen und Tendenzen hat einen doppelten Charakter: wenn es sich um bewusste Zentristen, vollendete Opportunisten und Halbopportunisten handelt, so ist ein direkter Ausschluss aus den Reihen der Kommunistischen Partei und der Arbeiterbewegung am Platze; insofern es sich aber um unbestimmte, halb zentristische Stimmungen handelt, ist eine feste, leitende Einwirkung auf diese Elemente und ihre Heranziehung zum revolutionären Kampfe geboten. Die erste Aufgabe der Kommunistischen Internationale ist die Säuberung der Partei der Arbeiterklasse von den Elementen, die den Kampf nicht wollen und dadurch den Kampf des Proletariats lähmen. Aber es gibt eine zweite Aufgabe, die nicht weniger wichtig ist: die Kunst des Kampfes erlernen, die Kunst, die der Arbeiterklasse oder ihrer Kommunistischen Partei keineswegs als Gabe vom Himmel herunterfällt. Die Kunst der Taktik und Strategie, die Kunst des revolutionären Kampfes kann man nur aus Erfahrung, durch Kritik und Selbstkritik lernen. Wir sprachen zu den jungen Kommunisten auf dem 3. Kongress: „Genossen! Wir wollen nicht nur heroischen Kampf – wir wollen vor allem den Sieg!“ Wir sahen in den letzten Jahren nicht wenige heroische Kämpfe in Europa, insbesondere in Deutschland. Wir sahen in Italien den großen revolutionären Kampf, den Bürgerkrieg mit allen seinen unvermeidlichen Opfern. Gewiss, nicht jeder Kampf führt zum Siege. Niederlagen sind unvermeidlich. Aber diese Niederlagen dürfen nicht durch die Schuld der Partei eintreten. Indes sahen wir viele Erscheinungen und Kampfmethoden, die zum Siege nicht führen und nicht führen können, denn sie sind durch und durch von revolutionärer Ungeduld, nicht aber von einer politischen Idee diktiert. Dadurch wurde der Kampf der Ideen auf dem 3. Kongress der Internationale bestimmt. Ich muss jedoch die Einschränkung machen, dass dieser Kampf keineswegs einen erbitterten, „fraktionellen“ Charakter getragen nat. Im Gegenteil, auf dem Kongress herrschte eine tief kameradschaftliche, ernsthafte, sachliche Atmosphäre und der Ideenkampf trug den Charakter eines streng prinzipiellen aber zugleich sachlichen Meinungsaustausches.

Der Kongress war ein großer revolutionär-politischer Rat der Arbeiterklasse und hier, in diesem Sowjet, haben wir, die Vertreter der verschiedenen Länder, aus der Erfahrung dieser Länder einerseits unsere Thesen über die Notwendigkeit der Säuberung der Arbeiterklasse von den Elementen, die kampfunlustig und -unfähig sind, praktisch geprüft, von neuem bestätigt und präzisiert, andererseits stellten wir kategorisch die Frage auf, dass der revolutionäre Kampf um die Macht seine Gesetze, seine Methoden, seine Taktik und seine Strategie hat, – und wer diese Kunst nicht beherrscht, dem wird der Sieg nicht beschieden werden.

Die zentristischen Tendenzen im italienischen Sozialismus.

Die Notwendigkeit des Kampfes mit den zentristischen oder halb zentristischen Elementen zeigte sich am deutlichsten an der Frage der Italienischen Sozialistischen Partei. Die Geschichte dieser Frage ist bekannt. Die Italienische Sozialistische Partei hatte noch vor dem imperialistischen Kriege einen bedeutenden inneren Kampf und eine Spaltung durchgemacht. Dadurch wurde sie von den schlimmsten Chauvinisten gesäubert. Außerdem war Italien in den Krieg neun Monate später als die anderen Länder getreten. Das erleichterte der Italienischen Sozialistischen Partei ihre Antikriegspolitik. Die Partei verfiel nicht in Patriotismus, sondern behielt ihre kritische Position gegenüber dem Kriege und der Regierung bei. Dadurch wurde sie in die antimilitaristische Konferenz von Zimmerwald gestoßen, obwohl ihr Internationalismus ziemlich formloser Natur war. Des Weiteren trieb die Vorhut der italienischen Arbeiterpartei die leitenden Parteikreise noch weiter nach links, und die Partei geriet in die Dritte Internationale – zusammen mit Turati, der in seinen Artikeln und Reden nachzuweisen versuchte, dass die Dritte Internationale nichts andres sei als eine diplomatische Waffe in den Händen der Sowjetmacht, die unter dem Deckmantel des Internationalismus für die „nationalen“ Interessen des russischen Volkes kämpfe. Ist es denn nicht ungeheuerlich, solche Betrachtungen von Seiten eines – mit Verlaub zu sagen – „Genossen“ aus der Dritten Internationale zu vernehmen? Das Unnatürliche am Eintritt der Italienischen Sozialistischen Partei in ihrer alten Gestalt in die Kommunistische Internationale zeigte sich am krassesten in der Massenaktion im September vorigen Jahres. Man muss sagen, dass die Partei in dieser Bewegung die Arbeiterklasse verraten hat. Wollte man fragen, wie und warum die Partei im Herbst vorigen Jahres den Rückzug angetreten und kapituliert hat, während des Massenstreiks, während die Arbeiter die Fabriken, Güter usw. besetzten; wollte man fragen, was an diesem Verrat größer war: böswilliger Reformismus, Unentschlossenheit, politischer Leichtsinn oder etwas anderes, – so wäre schwer darauf zu antworten. Die Italienische Sozialistische Partei stand nach dem Kriege unter dem Einflusse der Kommunistischen Internationale, indem sie ihrem linken Flügel die Möglichkeit gab, lauter hervorzutreten als der rechte Flügel – ganz entsprechend der Stimmung der Arbeitermassen –, aber der organisatorische Apparat lag hauptsächlich in den Händen des Zentrums und des rechten Flügels. Die Agitation wurde geführt im Namen der Diktatur des Proletariats, der Macht der Sowjets, für den Hammer und die Sichel, für Sowjetrussland usw. Die italienische Arbeiterklasse nahm das alles ernst und betrat den Weg offenen revolutionären Kampfes. Im September vorigen Jahres kam es zur Besetzung von Fabriken, Bergwerken, Latifundien usw. Aber gerade in dem Augenblick, wo die Partei alle politischen und organisatorischen, alle praktischen Folgerungen aus ihrer Agitation ziehen sollte, schreckte sie vor der Verantwortung zurück, entblößte das Proletariat, – und die Arbeitermassen wurden den faschistischen Banden ausgeliefert. Die Arbeiterklasse hatte gehofft, dass die Partei, von der sie in den Kampf gerufen wurde, den Erfolg ihres Ansturms befestigen würde. Und man konnte diesen Erfolg befestigen, die Hoffnung darauf war vollkommen begründet, denn die bürgerliche Regierung war damals demoralisiert und paralysiert, sie konnte sich weder auf die Armee, noch auf den Polizeiapparat verlassen. Wie gesagt, die Arbeiterklasse glaubte natürlich, dass die Partei, die an ihrer Spitze stand, den begonnenen Kampf bis zu Ende führen würde. Aber im entscheidendsten Moment zog sich die Partei im Gegenteil zurück, enthauptete und entkräftete die Arbeiterklasse. Damals wurde es endgültig und vollkommen klar, dass es in den Reihen der Kommunistischen Internationale für derartige Politiker keinen Platz geben darf. Die Exekutive der Internationale handelte vollkommen richtig, als sie nach der bald darauf stattgefundenen Spaltung in der italienischen Partei erklärte, der linke kommunistische Flügel allein gehöre zur Kommunistischen Internationale. Dadurch wurde die Partei Serratis, d. h. der führende Teil der alten Italienischen Sozialistischen Partei außerhalb der Kommunistischen Internationale gestellt. Leider, – das lässt sich durch die besonderen, ungünstigen Verhältnisse, aber vielleicht auch durch Fehler unsererseits erklären, – leider bekam die Kommunistische Partei Italiens im Moment ihrer Entstehung weniger als 50.000 Mitglieder, während die Partei Serratis ca. 100.000 Mitglieder behielt, davon 14.000 ausgesprochene Reformisten, die eine Fraktion bildeten (sie hatten ihre Konferenz in Reggio Emilio). Gewiss sind die 100.000 Arbeiter der Sozialistischen Partei keineswegs unsere Gegner. Wenn es bis jetzt uns nicht gelungen ist, sie ganz in unsere Reihen zu ziehen, so geschah es nicht durch unsere Schuld. Die Richtigkeit dieses Gedankens wird dadurch bestätigt, dass die aus der Internationale ausgeschlossene Sozialistische Partei Italiens zu unserem Kongress drei Vertreter geschickt hat. Was bedeutet das? Die führenden Kreise haben sich durch ihre Politik außerhalb der Internationale gestellt, aber die Arbeitermasse zwingt sie immer wieder, an die Tore der Internationale zu pochen. Die sozialistischen Arbeiter haben dadurch gezeigt, dass sie revolutionär gestimmt sind und mit uns sein möchten. Aber sie hatten Männer geschickt, die durch ihr Verhalten zeigten, dass sie die Gedankengänge und Methoden des Kommunismus sich nicht angeeignet hatten. Damit haben die italienischen Arbeiter, die der Serrati-Partei angehören, gezeigt, dass sie zwar der Stimmung nach in der Majorität revolutionär sind, aber die nötige politische Klarheit nicht erlangt haben. Auf unserem Kongress war der alte Lazzari. Er ist persönlich eine höchst sympathische Gestalt, ein durchaus ehrlicher alter Kämpfer, ein Mann ohne Tadel, aber keineswegs ein Kommunist. Er steht ganz im Bann demokratischer, humanitärer und pazifistischer Anschauungen. Er äußerte auf dem Kongress: „Ihr überschätzt Turatis Bedeutung. Ihr überschätzt die Bedeutung unserer Reformisten überhaupt. Ihr fordert von uns, dass wir sie ausschließen. Aber wie können wir sie ausschließen, wenn sie der Parteidisziplin gehorchen? Hätten sie uns“, sagte Lazzari, „irgend einen Fall offener Auflehnung gegen die Partei geliefert, wären sie gegen unseren Beschluss in die Regierung eingetreten, würden sie gegen unsere Bestimmung das Kriegsbudget bewilligen, dann hätten wir sie ausschließen können. Aber anders nicht.“ Wir zitierten ihm Turatis Artikel, die sich ganz gegen das ABC des revolutionären Sozialismus richten. Lazzari meinte, diese Artikel ergäben keine Tatsachen, ihre Partei hätte ja das Recht der freien Meinung usw. usw. Darauf antworteten wir ihm wiederum: „Gestatten Sie, wenn Sie zum Ausschluss Turatis brauchen, dass er eine „Tatsache“ vollziehe, d. h. von Giolitti ein Portefeuille erhalte, so ist es unzweifelhaft, dass Turati, der ein kluger Politiker ist, niemals einen solchen Schritt machen wird. Denn Turati ist keineswegs ein gemeiner Karrieremacher, der nach dem Ministersessel strebt. Turati ist ein erprobter Opportunist, ein unversöhnlicher Feind der Revolution, aber in seiner Art ein ideeller Politiker. Er will, koste es was wolle, die bürgerlich-demokratische „Zivilisation“ retten und dazu die revolutionäre Strömung in der Arbeiterklasse überwinden. Wenn Giolitti ihm ein Portefeuille anbietet, – und dies geschah wahrscheinlich an passender Stelle mehr als einmal, – so antwortet ihm Turati ungefähr: „Würde ich das Portefeuille nehmen, so wäre es jene „Tatsache“, von der Lazzari spricht. Sobald ich das Portefeuille nehmen würde, hätte man mich bei dieser „Tatsache“ erwischt und aus der Partei ausgeschlossen. Und sobald ich aus der Partei hinausgeworfen bin, kannst Du, Vetter Giolitti, mich auch nicht mehr brauchen, denn Du brauchst mich nur so lange, wie ich mit einer großen Arbeiterpartei verbunden bin; nach meinem Hinauswurf aus der Partei würdest Du mich auch aus dem Ministerium hinauswerfen. Deshalb werde ich das Portefeuille nicht nehmen, werde Lazzari die „Tatsache“ nicht liefern und werde der tatsächliche Führer der Sozialistischen Partei bleiben.“ Das ist ungefähr Turatis Argumentation. Und er hat recht, er ist viel weitblickender, als der Idealist und Pazifist Lazzari. „Ihr überschätzt die Gruppe Turati“, sprach Lazzari, „das ist eine kleine Gruppe, wie man französisch sagt, eine quantité negligeable.“ Darauf erwiderten wir ihm: „Aber wissen Sie, während Sie hier, vor dem Forum der Moskauer Internationale mit der Forderung auftreten, dass wir Euch aufnehmen, fragt Giolitti telefonisch an: „Weißt Du, Freundchen, dass Lazzari nach Moskau gereist ist und dort vielleicht im Namen Deiner Partei den russischen Bolschewiki irgendwelche gefährliche Versprechungen machen wird?“ Wissen Sie, was Turati darauf antwortet? Er antwortet gewiss: „Sei unbesorgt, Freund Giolitti, das ist eine quantité negligeable.“ Und er hat unvergleichlich viel mehr Recht, als Lazzari.“

Das war unser Dialog mit den schwankenden Vertretern eines großen Teiles der italienischen Arbeiter. Es wurde schließlich beschlossen, den italienischen Sozialisten ein Ultimatum zu stellen: In drei Monaten einen Parteitag einzuberufen, auf diesem Parteitag alle Reformisten auszuschließen (die sich selbst als solche bezeichneten dadurch, dass sie sich zur Konferenz in Reggio Emilia einfanden) und sich auf Grund der Beschlüsse des 3. Kongresses mit den Kommunisten zu vereinigen. Was die unmittelbaren praktischen Folgen dieses Beschlusses sein werden, kann man nicht genau sagen. Ob alle Serratianer zu uns kommen werden? Ich bezweifle es. Aber das ist auch nicht erforderlich. Darunter gibt es solche, die wir nicht brauchen können Aber der Schritt, den der Kongress getan hat, war richtig. Er ist dazu angetan, die Arbeiter zurückzugewinnen, dadurch, dass unter den schwankenden Führern eine Spaltung eintritt.

Der italienische Kommunismus – seine Schwierigkeiten, seine Aufgaben.

Unter den Delegierten der Italienischen Kommunistischen Partei, ebenso unter den Vertretern der Jugend, fanden sich jedoch höchst erbitterte Kritiker dieses Schrittes. Am meisten waren es die italienischen Kommunisten und vor allem die links Orientierten, die den Kongress kritisierten, dass er den Serratianern, Opportunisten und Zentristen „Tür und Tor geöffnet“ habe. Dieser Ausdruck: „Ihr habt die Tore der Kommunistischen Internationale geöffnet!“ wiederholte sich Dutzende von Malen.

Wir sprachen: „Genossen! Ihr habt einstweilen etwa 50.000 Arbeiter, die Serratianer aber ungefähr 100.000: man kann sich doch mit diesem Resultat nicht abfinden.“ Sie bestritten ein wenig die Zahlen und wiesen darauf hin, dass Massenaustritte aus der Sozialistischen Partei stattgefunden haben, was ja durchaus möglich ist, – aber ihr Hauptargument war: „Die ganze Masse der Italienischen Sozialistischen Partei, nicht nur ihre Führer, ist reformistisch, opportunistisch.“ Wir fragten: „Wieso, warum und wozu haben sie hierher nach Moskau Lazzari, Maffi und Riboldi geschickt?“ Die jungen italienischen Kommunisten gaben mir darauf eine höchst unbestimmte Antwort: „Ja, die italienische Arbeiterklasse als Ganzes inkliniere ja nach Moskau und treibe die opportunistische Serrati-Partei dahin. Das ist eine offenkundige Konstruktion. Wenn die Sache so wäre, dass die italienische Arbeiterklasse als Ganzes nach Moskau strebe, so wäre ihr die Tür nach Moskau geöffnet – man hat ja die Italienische Kommunistische Partei, die der Internationale angehört. Warum wählt die italienische Arbeiterpartei einen solchen Umweg nach Moskau und treibt die Serrati-Partei dahin, anstatt einfach in die Kommunistische Partei Italiens einzutreten? Es ist evident, dass alle diese Argumente der linken Kommunisten unzutreffend waren und der ungenügenden Erfassung unserer Grundaufgabe entsprangen, nämlich der Notwendigkeit, die Avantgarde der Arbeiterklasse und vor allem jene keineswegs schlechteren Arbeiter zu gewinnen, die in der Sozialistischen Partei Italiens verblieben. Namentlich diese Arbeiter hatten Lazzari nach Moskau geführt. Der Fehler der „Linken“ entspringt einer besonderen revolutionären Ungeduld, die die wichtigsten Vorarbeiten zu sehen hindert und immerfort der Sache schadet. Manche „Linken“ glauben, wenn die unmittelbare Aufgabe darin besteht, die Bourgeoisie zu stürzen, – wozu dann sich auf dem Wege aufhalten, Verhandlungen mit den Serratianern führen, den Arbeitern, die hinter Serrati stehen, die Türe öffnen usw. usw.? Indes ist das jetzt die Hauptaufgabe. Und das ist keineswegs eine einfache Aufgabe. Dazu braucht man sowohl Verhandlungen wie Kampf und Beschwichtigungen und neue Vereinigungen und wahrscheinlich neue Spaltungen. Aber einige ungeduldige Genossen möchten dieser Aufgabe und folglich auch den sozialistischen Arbeitern einfach den Rücken kehren. Wer für die III. Internationale sei, der möchte direkt in unsere Kommunistische Partei eintreten. Das ist anscheinend eine sehr einfache Lösung der Frage, aber eigentlich ist es eine Umgehung der Frage, denn die Frage besteht gerade darin, wie, mit welchen Methoden die sozialistischen Arbeiter für die Kommunistische Partei gewonnen werden sollen. Diese Aufgabe wird nicht gelöst durch das automatische „Türschließen“ der Internationale. Die italienischen Arbeiter wissen doch, dass die Sozialistische Partei auch in der Kommunistischen Internationale gewesen ist. Ihre Führer hielten revolutionäre Reden, riefen zum Kampfe auf, zur Sowjetmacht, und brachten es im Septemberstreik zur Besetzung der Fabriken. Dann kapitulierten sie, ohne den Kampf aufzunehmen, während die Arbeiter kämpften. Heute ist die Avantgarde des italienischen Proletariats dabei, diese Tatsache in ihrem Bewusstsein zu verarbeiten. Die Arbeiter sehen, dass aus der Sozialistischen Partei sich eine kommunistische Minorität ausgesondert hat, die sich mit genau solchen oder fast genau solchen Reden an sie wendet, mit welchen sich gestern an sie die Serrati-Partei wandte. Die Arbeiter sagen sich: „Man muss abwarten, wir wollen sehen, was das bedeutet, man muss es zuerst prüfen“ … Mit anderen Worten, sie fordern, vielleicht nicht ganz bewusst und klar formuliert, aber eigentlich sehr beharrlich, dass die neue, die Kommunistische Partei sich durch Taten einführt, dass ihre Führer in der Praxis beweisen, dass sie aus einem anderen Holz geschnitzt sind, als die Führer der alten Partei, dass sie unzertrennlich mit den Massen verknüpft sind in ihrem Kampfe, so schwer auch die Bedingungen dieses Kampfes sein mögen. Es gilt, durch Tat und Wort, durch Wort und Tat das Vertrauen der Tausende von sozialistischen Arbeitern zu erobern, die sich einstweilen noch auf dem Scheidewege befinden, die aber zu uns stoßen möchten. Wollte man ihnen einfach den Rücken kehren, angeblich im Namen eines sofortigen Sturzes der Bourgeoisie, so würde man damit der Revolution einen nicht geringen Schaden zufügen, während gerade in Italien die Verhältnisse für eine siegreiche Revolution des Proletariats schon für die nächste Zukunft sehr günstig sind.

Man stelle sich einen Augenblick lang, nur beispielshalber, vor, dass die italienischen Kommunisten, sagen wir, im Mai dieses Jahres, die italienische Arbeiterklasse zu einem neuen Generalstreik und Aufstand aufgerufen hätten. Wenn sie gesagt hätten: „Da die Sozialistische Partei, aus der Ihr ausgetreten seid, im September Bankrott gemacht hat, so müssen wir Kommunisten jetzt um jeden Preis diesen Fleck abwaschen und die Arbeiterklasse unverzüglich in den entscheidenden Kampf führen.“ Oberflächlich betrachtet könnte man glauben, dass dies gerade die Pflicht der Kommunisten wäre. In Wirklichkeit aber ist dem nicht so. Die elementare revolutionäre Strategie besagt, dass ein solcher Appell unter den gegebenen Verhältnissen ein Wahnsinn und ein Verbrechen wäre, denn die Arbeiterklasse, die sich im September unter Führung der Sozialistischen Partei bitter geschnitten hat, würde nicht glauben, dass man diese Erfahrung im Mai mit Erfolg wiederholen könne unter Leitung der Kommunistischen Partei, die sie noch nicht gehörig kennen zu lernen Zeit hatte. Die Hauptschuld der Sozialistischen Partei bestand darin, dass sie zur Revolution „aufrief“, ohne daraus die nötigen Konsequenzen zu ziehen, d. h. ohne in Wirklichkeit sich auf die Revolution vorzubereiten, ohne den fortgeschrittenen Arbeitern die Fragen klar gemacht zu haben, die mit der Eroberung der Macht verknüpft sind, ohne ihre Reihen von denjenigen zu säubern, die die Eroberung der Macht ablehnen, ohne zuverlässige Kämpferkader auszuwählen und zu erziehen, ohne Stoßzellen zu schaffen, die imstande wären, im nötigen Moment die Waffen zu gebrauchen und zu ergreifen … Kurzum, die Sozialistische Partei rief zur Revolution auf, aber bereitete sich auf sie nicht vor. Hätten die italienischen Kommunisten sofort zur Revolution aufgerufen, so hätten sie den Fehler der Sozialisten wiederholt, nur unter unvergleichlich schwierigeren Verhältnissen. Die Aufgabe unserer italienischen Bruderpartei ist, die Revolution vorzubereiten, d. h. vor allem, die Majorität der Arbeiterklasse zu gewinnen und ihre Avantgarde richtig zu organisieren. Derjenige, der den ungeduldigen Teil der italienischen Kommunisten zurückgehalten hätte und gesagt hätte: „Bevor Ihr zum Aufstand aufruft, gewinnt die sozialistischen Arbeiter, säubert die Gewerkschaften, stellt dort an Stelle der Opportunisten die Kommunisten auf die verantwortlichen Posten, erobert die Massen“, – wer so gesprochen hätte, der hätte anscheinend die Kommunisten rückwärts gestoßen, in Wirklichkeit aber hätte er dadurch den wahren Weg zum Sieg der Revolution gewiesen.

Befürchtungen und Vermutungen der extremen „Linken“

Alles Gesagte ist vom Standpunkt ernsthafter revolutionärer Erfahrung eine Binsenwahrheit. Aber einige „linke“ Elemente des Kongresses sahen in dieser Taktik eine Verschiebung „nach rechts“, und manchen jungen, revolutionären Genossen ohne Erfahrung, aber voller Energie, Kampf- und Opferbereitschaft standen buchstäblich die Haare zu Berge, als sie von Seiten der russischen Genossen die ersten kritischen und warnenden Reden vernahmen. Von diesen jungen Revolutionären sollen manche, wie erzählt wurde, die Sowjeterde geküsst haben, als sie die Grenze überschritten hatten. Und obwohl wir immer noch allzu schlecht unsere Erde bearbeiten, als dass sie dieser Küsse würdig wäre, begreifen wir den revolutionären Enthusiasmus unserer jungen ausländischen Freunde wohl. Sie glauben sich in ihrer Seele schämen zu müssen, dass sie sich so verspäteten und bisher ihre Revolution nicht gemacht haben. Mit diesen Gefühlen betreten sie den Saal des Nikolaus-Palastes, und nun? – dort treten russische Kommunisten auf, die nicht nur einen sofortigen Appell zum Aufstand nicht fordern, sondern im Gegenteil auf jedwede Art vor jedem Abenteuer warnen und darauf beharren, dass man die sozialistischen Arbeiter heranziehe und die Majorität der Werktätigen erobere und sorgfältig vorbereite.

Manche extrem Linke schlossen sogar, dass die Sache da einen Haken habe. Die halb feindlichen Elemente, wie z. B. die Delegierten der Kommunistischen Arbeiterpartei Deutschlands (diese Gruppe gehört der Internationale mit beratender Stimme an) begannen in dem Sinne zu argumentieren, dass die russische Sowjetrepublik vor kurzem in der Tat auf eine Revolution in Europa gehofft hatte und darauf ihre Politik aufbaute, aber nun sei ihr die Geduld ausgegangen, sie habe begonnen Handelsverträge abzuschließen und habe durch ihr Volkskommissariat für Außenhandel einen schwungvollen Welthandel entfaltet. Der Handel aber ist ein ernstes Ding und verlangt ruhige und friedliche Beziehungen. Es ist längst bekannt, dass revolutionäre Erschütterungen dem Handel schaden, so seien wir vom Standpunkt des Kommissariats des Genossen Krassin daran interessiert, die Revolution möglichst hinauszuschieben und zu vertagen. Die Hypothese unserer Opposition von Gnaden des Volkskommissariats für Außenhandel gegen revolutionäre Erschütterungen ist um so kurioser, da erst im März dieses Jahres, als in Deutschland sich die tragischen Kämpfe abspielten, von denen ich gleich reden will, Kämpfe, die mit einer schweren Niederlage eines Teiles der deutschen Arbeiterklasse endeten, – die deutschen bürgerlichen und sozialdemokratischen Blätter und hinter ihnen die Presse der ganzen Welt zeterten, dass der Märzaufstand hervorgerufen worden sei auf Befehl von Moskau, dass die Sowjetregierung, die damals schwere Tage (Bauernunruhen, Kronstadt usw.) durchmachte, zu ihrer Rettung den Befehl erteilt hätte, in jedem Lande, unabhängig von der Situation, einen Aufstand ins Werk zu setzen. Nichts Dümmeres konnte ausgedacht werden! Aber kaum waren unsere Genossen-Delegierten aus Rom, Berlin und Paris nach Moskau gelangt, da war eine neue Theorie entstanden, diesmal aber auf dem anderen, extrem linken Flügel, die Theorie, dass wir nicht nur Aufstände sofort und unabhängig von der Situation nicht inszenieren, sondern im Gegenteil am glänzenden Verlauf unseres Handels interessiert seien und die Revolution hinausschieben möchten. Welche von diesen beiden entgegengesetzten Dummheiten die dümmere ist, ist kaum zu sagen. Wenn wir an den Märzfehlern Schuld haben, insofern man hier von Schuld überhaupt reden kann, so doch nur in dem Sinne, dass die Internationale als Ganzes und darunter auch unsere Partei die Erziehungsaufgabe auf dem Gebiet der revolutionären Strategie bisher nicht genügend erfüllt und daher die Möglichkeit von falschen Aktionen und Methoden nicht ausgeschaltet hat. Es wäre ja überhaupt eine Naivität, von einer vollkommenen Ausschaltung der Fehler zu träumen.

Die März-Ereignisse in Deutschland.

Die Frage der März-Ereignisse nahm auf dem Kongress im gewissen Sinne den Mittelpunkt ein, und zwar nicht zufällig: von allen kommunistischen Parteien ist die deutsche eine der stärksten und theoretisch reifsten, und in der Revolutionsreihenfolge – wenn man sich so ausdrücken darf – steht Deutschland jedenfalls an erster Stelle … Die inneren Verhältnisse Deutschlands als einem besiegten Lande sind für die Revolution am günstigsten. Die numerische Stärke und die ökonomische Bedeutung des deutschen Proletariats sind durchaus dazu angetan, dieser Revolution den Erfolg zu sichern. Es ist nur natürlich, dass die Methoden des Kampfes der deutschen Kommunistischen Partei von internationaler Bedeutung sind. Auf Deutschlands Boden spielten sich seit 1918 die größten Ereignisse des revolutionären Kampfes ab, und hier kann man Plus und Minus an lebendiger Erfahrung prüfen.

Worin bestanden die März-Ereignisse? Die Proletarier Mitteldeutschlands, die Arbeiter des Bergwerkreviers, stellten bis vor kurzem noch, auch noch während des Krieges, einen der rückständigsten Teile der deutschen Arbeiterklasse dar: sie folgten in ihrer Majorität nicht den Sozialdemokraten, sondern den bürgerlichen, patriotischen und kirchlichen Cliquen, waren kaisertreu usw. Ihre Lebens- und Arbeitsbedingungen waren ausnehmend schwer. Gegenüber den Arbeitern Berlins nahmen sie eine Stellung ein, wie z. B. unsere rückständigen Ural-Arbeiter gegenüber den Arbeitern Petrograds. In revolutionären Zeiten kommt es mitunter vor, dass der unterdrückteste und rückständigste Teil der Arbeiterklasse, zum ersten Mal aufgerüttelt durch den Donner der Ereignisse, mit der größten Energie in den Kampf geht und die Bereitschaft zeigt, sich unter allen Umständen zu schlagen und dabei nicht immer der Situation und der Möglichkeit des Sieges, d. h. den Forderungen der revolutionären Strategie Rechnung trägt. Während z. B. die Berliner oder die sächsischen Arbeiter nach den Erfahrungen der Jahre 1919-20 viel vorsichtiger geworden sind – was ja seine positiven und negativen Seiten hat, – fahren die mitteldeutschen Arbeiter auf der Linie stürmischer Aktionen, Streiks und Demonstrationen fort, entfernen ihre Werkmeister auf Karren, halten während der Arbeitszeit Versammlungen ab usw. Natürlich ist das mit den geheiligten Gesetzen der Ebert-Republik unvereinbar. Was Wunder, dass diese konservative Polizeirepublik in Gestalt ihres Polizeiagenten, des Sozialdemokraten Hörsing, beschlossen hatte, eine gewisse „Reinigung“ vorzunehmen, d. h. die revolutionärsten Elemente fortzujagen, diese und jene Kommunisten zu verhaften u. a. m.

Die Zentrale der deutschen Kommunistischen Partei hatte sich gerade um jene Zeit (Mitte März) stark mit dem Gedanken befasst, dass eine aktivere revolutionäre Politik zu verfolgen sei. Die deutsche Partei war kurz vordem entstanden aus dem alten Spartakusbund und der Majorität der Unabhängigen und hatte damit die Frage der Massenaktionen praktisch angeschnitten. Der Gedanke, dass es notwendig sei, eine aktivere Politik einzuschlagen, war unbedingt richtig. Doch welchen Ausdruck fand er in der Tat? Im Moment des Erlasses des Polizeisozialdemokraten Hörsing, der von den Arbeitern das verlangte, was bei uns wiederholt und vergebens die Kerenski-Regierung verlangte, nämlich dass während der Arbeitszeit keine Versammlungen abgehalten werden, dass man das Eigentum der Fabriken als Heiligtum behandele usw., – in dem Moment erlässt die Zentrale der Kommunistischen Partei den Appell zum Generalstreik zur Unterstützung der mitteldeutschen Arbeiter. Der Generalstreik ist eine Sache, zu der sich die Arbeiterklasse nicht so leicht auf den ersten Ruf der Partei entschließt, insbesondere wenn sie eine Reihe von Niederlagen hinter sich hat und um so mehr in einem Lande, wo neben der Kommunistischen Partei zwei sozialdemokratische Massenparteien bestehen, und wo der Gewerkschaftsapparat gegen sie ist. Wenn wir jedoch das Zentralorgan der Kommunistischen Partei „Die Rote Fahne“ in dieser ganzen Zeit von Tag zu Tag verfolgen, sehen wir, dass der Appell zum Generalstreik vollkommen unvorbereitet war. In Deutschland hat es im Verlauf der Revolution genügend Aderlasse gegeben, und die Polizeiattacke auf Mitteldeutschland konnte an sich nicht sofort die ganze deutsche Arbeiterklasse auf die Beine bringen. Einer ernsthaften Massenaktion hätte offenbar eine weitgehende, und energische Agitation mit bestimmten Parolen vorangehen müssen, die auf einen Punkt hinarbeitete, und die Agitation hätte nur dann zu einem entschlosseneren Aktionsappell führen können, wenn sie den Beweis erbracht hätte, dass die Masse bereits lebendig erfasst und bereit ist, den Weg revolutionärer Aktionen vorwärts zu gehen. Das ist das ABC der revolutionären Strategie, aber gerade dieses ABC wurde während der Märzaktionen vollkommen übertreten. Kaum waren die Polizeitruppen in den mitteldeutschen Betrieben und Bergwerken angelangt, als dort in der Tat der Generalstreik erfolgte. Ich sagte bereits, dass in Mitteldeutschland die Bereitschaft zum sofortigen Kampfe vorhanden war, der Appell der Zentrale wurde sofort aufgenommen. Ganz anders im übrigen Lande. Weder die innere noch die äußere Lage Deutschlands bedingte einen solchen jähen Übergang zur Aktivität. Die Masse hatte den Appell einfach nicht verstanden.

Unterdessen haben einige einflußreiche Theoretiker der Kommunistischen Partei Deutschlands, anstatt den Fehler des Appells anzuerkennen, zu dessen Erklärung eine Theorie aufgestellt, wonach wir in revolutionären Zeiten ausschließlich eine Politik der Offensive, d. h. eine Politik des revolutionären Angriffes verfolgen müssen. Die Märzaktion wird also der Masse als Offensive präsentiert. Man beurteile nun die Situation im Ganzen. Der Angriff ist in Wirklichkeit vom Sozialdemokraten Hörsing unternommen. Das muss ausgenutzt werden, um sämtliche Arbeiter in der Verteidigung, im Schutz, in der Abwehr, – sei es zuerst auch nur in bescheidener Abwehr, zu vereinigen. Wenn der Boden günstig ist, findet die Agitation einen günstigen Widerhall, – man kann in den Generalstreik treten. Entfalten sich die Ereignisse weiter, so erheben sich die Massen, der Zusammenhang der Arbeiter wächst, die Stimmung hebt sich, im Lager der Gegner herrscht Unentschlossenheit oder Zwiespältigkeit, – dann kann die Parole der Offensive ausgegeben werden. Erweist sich jedoch der Boden als ungünstig und die Bedingungen und Stimmungen der Massen entsprechen entscheidenderen Parolen nicht, dann muss ein möglichst geordneter Rückzug angetreten werden, und unser Gewinn ist der, dass wir die Arbeiterklasse abgetastet haben, ihren inneren Zusammenhang gestärkt und, – was die Hauptsache ist, – die Autorität der Partei als deren weise Führerin in jeder Situation erhöht haben. Was tut aber das führende Zentrum der deutschen Partei? Es klammert sich gewissermaßen an die erste beste Gelegenheit, und bevor diese Gelegenheit den Arbeitern zum Bewusstsein kommt und von ihnen angeeignet wird, wirft die Zentrale die Losung des Generalstreiks aus. Und bevor es der Partei gelungen ist, die Arbeiter in Berlin, Dresden, München zur Unterstützung der mitteldeutschen Arbeiter aufzurütteln, – und das kann in wenigen Tagen geschehen, wenn man, ohne sich zu überstürzen, die Masse planmäßig und fest vorwärts führt, – bevor die Partei diese Arbeit geleistet hat, wird verkündet, unsere Aktion sei eine Offensive

Das heißt nun schon, die ganze Sache verpatzen und von vornherein die Bewegung lähmen. Evident, dass die Offensive in diesem Stadium ganz und gar vom Feinde ausging. Man hätte das moralische Element der Verteidigung ausnutzen, man hätte das Proletariat des ganzen Landes aufrufen sollen, den Arbeitern Mitteldeutschlands zu Hilfe zu eilen. Die Form der Unterstützung konnte in der ersten Zeit verschieden sein, bevor die Partei imstande gewesen wäre, eine verallgemeinernde Aktionslosung aufzustellen. Die Aufgabe der Agitation bestand darin, die Massen aufzurütteln, ihre Aufmerksamkeit auf die mitteldeutschen Ereignisse zu konzentrieren, politisch den Widerstand der Arbeiterbürokratie zu brechen und dadurch einen wirklichen Generalstreik zu sichern, als eventuelle Basis einer weiteren Entwicklung des revolutionären Kampfes. Aber was sah man anstatt dessen? Die revolutionäre und aktive Minorität des Proletariats sah sich in der Aktion der Majorität gegenübergestellt, bevor diese Majorität Zeit gehabt hatte, sich über den Sinn der Ereignisse klar zu werden. Als die Partei auf die Passivität und das Zaudern der Arbeiterklasse stieß, machten die ungeduldigen Elemente hie und da den Versuch, nicht durch Agitation, sondern durch mechanische Maßnahmen die Majorität der Arbeiter auf die Straße zu treiben. Gewiss, wenn die Majorität der Arbeiter für den Streik ist, kann sie immer die Minorität zwingen, indem sie die Betriebe gewaltsam stilllegt und den Generalstreik zur Wirklichkeit macht. Das war wiederholt der Fall und wird stets der Fall sein, und nur Schwachköpfe können etwas dagegen einwenden. Wenn aber die überwiegende Majorität der Arbeiterklasse sich über die Bewegung keine Rechenschaft gibt, mit ihr nicht sympathisiert oder an ihren Erfolg nicht glaubt, die Minorität aber vorwärts stürmt und mit mechanischen Mitteln die Arbeiter in den Streik zu treiben sucht, – dann kann diese ungeduldige Minorität in Gestalt der Partei mit der Arbeiterklasse in feindliche Kollision geraten und sich den Kopf einrennen.[i]

Die Strategie der deutschen Konterrevolution und die abenteuerlichen Elemente von links.

Betrachten wir unter diesem Gesichtswinkel die ganze Geschichte der deutschen Revolution. Im November 1918 findet der Sturz der Monarchie statt, und die Revolution des Proletariats tritt auf die Tagesordnung. Im Januar 1919 spielen sich die blutigen revolutionären Kämpfe der proletarischen Vorhut gegen das bürgerlich-demokratische Regime ab; diese Kämpfe wiederholen sich im März 1919. Die Bourgeoisie orientiert sich rasch und arbeitet ihre Strategie aus: sie zerschmettert das Proletariat teilweise. Dabei gehen die besten Führer der Arbeiterklasse zu Grunde, Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht. Im März 1920, nach dem konterrevolutionären Kapp-Putsch, der vom Generalstreik hinweggefegt worden ist, findet eine neue Teilaktion, der bewaffnete Kampf der Bergarbeiter des Ruhrgebietes, statt. Die Bewegung endet mit einer neuen Niederlage und neuen unzähligen Opfern. Endlich, im März 1921, ein neuer Bürgerkrieg, wieder eine Teilaktion, und eine neue Niederlage.

Als im Januar und März 1919 die deutschen Arbeiter sich teilweise erhoben, geschlagen wurden und ihre besten Führer verloren, sagten wir eingedenk unserer eigenen Erfahrungen: das sind die Julitage der deutschen kommunistischen Partei. Man erinnere sich an die Julitage Petrograds im Jahre 1917 … Petrograd war dem Lande voran geeilt, stürmte vorwärts, die Provinz ließ es an Unterstützung fehlen, und in Kerenskis Armee fanden sich noch rückständige Regimenter genug, um die Bewegung zu brechen. Aber in Petrograd selbst war die überwiegende Majorität des Proletariats bereits mit uns. Die Julitage in Petrograd wurden zur Voraussetzung des Oktober. Freilich, auch wir haben im Juli gewisse Torheiten begangen. Doch wir erhoben sie nicht zum System. Die Januar- und Märzkämpfe 1919 betrachteten wir als den deutschen „Juli“. Aber darauf folgte in Deutschland nicht der „Oktober“, sondern der März 1920 – eine neue Niederlage, ganz abgesehen von den kleineren Teilniederlagen und von der systematischen Vernichtung der besten lokalen Führer der deutschen Arbeiterbewegung. Als wir, sage ich, die Märzbewegung 1920 und dann die Märzbewegung 1921 verfolgten, konnten wir nicht umhin, zu sagen: nein, Deutschland hat allzu viele Julitage, – wir wollen den Oktober.

Ja, der deutsche Oktober, der Sieg der deutschen Arbeiterklasse, muss vorbereitet werden. Und hier erheben sich vor uns die Fragen der revolutionären Strategie in ihrer ganzen Größe. Es ist klipp und klar, dass die deutsche Bourgeoisie, d. h. ihr führender Klüngel, die konterrevolutionäre Strategie restlos entfaltet hat; sie provoziert einzelne Teile der Arbeiterklasse zu Aktionen, sie isoliert sie auf den einzelnen Gebieten, sie lauert ihnen mit geladenem Revolver auf und zielt stets nach dem Kopf, nach den besten Vertretern der Arbeiterklasse. Auf der Straße oder im Polizeigewahrsam, im offenen Kampf oder bei angeblichen Fluchtversuchen, durch die Hände des Kriegsgerichtes oder die einer illegalen Bande, gehen Hunderte und Tausende von Kommunisten zu Grunde, die die besten Erfahrungen des Proletariats verkörpern. Das ist eine streng berechnete Strategie, die kalten Blutes durchgeführt wird und die sich auf die ganze Erfahrung der herrschenden Klasse stützt.

Und nun, unter diesen Verhältnissen, da die deutsche Arbeiterklasse in ihrer Gesamtheit instinktiv fühlt, dass man mit bloßen Händen einem solchen Feinde nicht beikommen kann, dass hier nicht nur Enthusiasmus erforderlich ist, sondern auch kühle Berechnung, ein klarer Standpunkt und eine ernsthafte Vorbereitung und sie all das von ihrer Partei erwartet, – da wird ihr von oben dargeboten: unsere Pflicht ist, nur eine Offensivstrategie zu führen, d. h. in allen Fällen anzugreifen, denn wir sind ja in die revolutionäre Periode getreten. Das ist ungefähr dasselbe, als wenn der Armeeführer sagen wollte: da wir in den Krieg getreten sind, so ist es unsere Pflicht, überall stets anzugreifen. Ein solcher Führer würde unvermeidlich geschlagen werden, selbst bei einer Überlegenheit seiner Kräfte … Noch mehr, es finden sich Theoretiker, wie der deutsche Kommunist Maslow, die hinsichtlich der Märzereignisse sich in geradezu ungeheuerliche Dinge hineinreden: „Unsere Gegner“, sagt Maslow, „rechnen unserer Märzaktion das zur Schuld an, was wir als unser Verdienst betrachten, nämlich dass die Partei in den Kampf getreten ist, ohne sich zu fragen, ob die Arbeiterklasse ihr folgen wird oder nicht.“ Das ist ein fast wörtliches Zitat. Vom Standpunkt des subjektiven Revolutionismus oder der linken Sozialrevolutionäre ist dies ausgezeichnet. Aber vom Standpunkt des Marxismus ungeheuerlich!

Die abenteuerlichen Tendenzen und die … vierte Internationale.

„Unsere revolutionäre Pflicht erfordert von uns eine Offensive gegen die Deutschen“, proklamierten die linken Sozialrevolutionäre im Juli 1918. Wir werden geschlagen werden? Aber unsere Pflicht ist, vorwärts zu marschieren. Die Arbeitermasse will nicht? Nun, man kann eine Bombe auf Mirbach werfen, um den russischen Arbeitern den Kampf aufzuzwingen, in dem sie unvermeidlich untergehen müssen. Derartige Stimmungen sind sehr stark in der Kommunistischen Arbeiterpartei Deutschlands vertreten. Das ist eine kleine Gruppe proletarischer Links-Sozialrevolutionäre. Unsere linken Sozialrevolutionäre haben, oder richtiger hatten hauptsächlich ihre Wurzeln in der Intelligenz und im Bauerntum; darin besteht ihr sozialer Unterschied, aber die politischen Methoden sind dieselben: ein hysterischer Revolutionismus, die Bereitschaft, in jedem beliebigen Moment die extremsten Methoden und Mittel anzuwenden, ohne die Masse und die allgemeine Situation zu berücksichtigen, Ungeduld statt Berechnung, eine Berauschung durch revolutionäre Phrasen, – all das charakterisiert die KAPD zur Genüge. Auf dem Kongress sagte einer der Redner im Namen der Partei ungefähr folgendes: „Was wollen Sie? Die Arbeiterklasse Deutschlands ist durchdrungen (er sagte sogar: „verseucht“) von Philisterhaftigkeit, Spießbürgertum, kleinbürgerlichem Geist, – was wollen Sie mit ihr anfangen? Ohne wirtschaftliche Sabotage kriegt man sie nicht auf die Straße“ … Und als man ihn fragte, was das bedeute, erklärte er: sobald die Arbeiter anfangen, besser zu leben, beruhigen sie sich und wollen die Revolution nicht; würde man aber mechanisch den Gang der Produktion stören, die Fabriken, Eisenbahnen usw. sprengen, so würde es die Lage der Arbeiterklasse verschlechtern und sie infolgedessen revolutionsfähiger machen. Man vergesse nicht, dass dies der Vertreter einer „Arbeiterpartei“ sagt. Das ist ja absoluter Skeptizismus! … Es geht darauf hinaus, dass, wenn man dieselbe Schlussfolgerung für die Dorfbevölkerung ziehen wollte, die fortgeschrittenen Bauern Deutschlands die Dörfer anstecken und im ganzen Lande den roten Hahn aufs Dach setzen sollten, um so die Landbevölkerung zu revolutionieren. Man muss unwillkürlich daran denken, dass in der allerersten Periode der revolutionären Bewegung in Russland, in den 60er Jahren, als die revolutionären Intellektuellen völlig machtlos waren, sich in der Aktion zu zeigen, in Zirkel gepresst waren und beständig auf die Passivität der Bauernmassen stießen, – dass namentlich damals gewisse Gruppen (die sogenannten Netschajewzi) auf den Gedanken verfielen, Brandstiftungen wären ein wirklicher Faktor der russischen politischen Entwicklung … Es ist ja klar, dass eine solche Sabotage, die sich im Grunde genommen gegen die Majorität der Arbeiterklasse richtet, ein antirevolutionäres Mittel ist, das die „Arbeiterpartei“ mit der Arbeiterklasse in Kollision bringt, eine Arbeiterpartei, deren Mitgliederzahl sich schwer bestimmen lässt, aber jedenfalls höchstens 30-40.000 beträgt, während die VKPD. bekanntlich ca. 400.000 Mitglieder hat.

Der Kongress behandelte die Frage der KAPD kategorisch und stellte dieser Organisation die Forderung, in den nächsten drei Monaten einen Parteitag einzuberufen und sieh mit der VKPD zu verschmelzen oder endgültig sich außerhalb der Kommunistischen Internationale zu stellen. Vieles spricht dafür, dass die KAPD in Gestalt ihrer jetzigen anarchistisch-abenteuerlichen Spitzen sich dem Beschluss der Internationale nicht fügen wird und, nachdem sie sich außerhalb der Internationale sehen wird, wahrscheinlich den Versuch unternehmen wird, gemeinsam mit anderen „extrem linken“ Elementen eine vierte Internationale zu gründen. In dieselbe Trompete hat auf dem Kongress auch unsere Genossin Kollontai ein bisschen geblasen. Es ist ein offenes Geheimnis, dass unsere Partei einstweilen den Grundstock der Kommunistischen Internationale bildet. Indessen hat Genossin Kollontai die Lage in unserer Partei so dargestellt, als müssten die Arbeitermassen früher oder später mit der Genossin Kollontai an der Spitze, die „dritte Revolution“ machen, um ein „wirkliches“ Sowjetregime einzuführen. Warum jedoch die dritte und nicht die vierte? Die dritte Revolution fand ja im Namen des „wirklichen“ Sowjetregimes im Februar in Kronstadt statt. … Es gibt auch noch „Erzlinke“ in Holland. Vielleicht auch in den anderen Ländern. Ich weiß nicht, ob alle mitgezählt sind. Aber jedenfalls ist ihre Zahl nicht übermäßig groß, und die 4. Internationale, – wenn eine solche entstehen sollte, – würde von der Gefahr der allzu großen Zahl am wenigsten bedroht sein. Natürlich wäre es schade, auch eine kleine Gruppe zu verlieren, denn darunter gibt es unzweifelhaft gute Arbeiterkämpfer. Wenn aber diese sektiererische Spaltung eintreten sollte, werden wir in der nächsten Zeit nicht nur zur rechten Hand eine Internationale Nr. 2½ haben, sondern auch von links eine Internationale Nr. 4, wo Subjektivismus, Hysterie, Abenteuerlust und revolutionäre Phrase in vollendeter Gestalt vertreten sein werden. Wir haben so einen „linken“ Popanz erhalten, an dem wir die Arbeiterklasse Strategie lehren werden. Jedes Ding hat also zwei Seiten: eine positive und eine negative.

Die linken Fehler und die russische Erfahrung.

Aber auch innerhalb der‘ VKPD gab es antimarxistische Tendenzen, die sich im März und nach dem März deutlich zeigten. Ich zitierte bereits die merkwürdigen Betrachtungen Maslows Doch Maslow steht nicht vereinzelt da. In Wien erscheint eine Zeitschrift, „Kommunismus“, ein Organ der Kommunistischen Internationale in deutscher Sprache. Im Juni-Heft dieser Zeitschrift, in einem Artikel, der sich mit der Lage in der Internationale befasst, kann man ungefähr folgendes lesen: „Das Hauptmerkmal unserer jetzigen Revolutionsperiode ist, dass wir auch Teilaktionen, darunter auch Wirtschaftskämpfe, d. h. Streiks, mit Mitteln des Endkampfes, d. h. mit der Waffe in der Hand ausfechten müssen.“ Das ist eine auf den Kopf gestellte Strategie! … Während die Bourgeoisie uns zu blutigen Teilkämpfen provoziert, möchten einige unserer Strategen diese Kämpfe zur Regel erheben. Ist das nicht ungeheuerlich? Die objektive Lage ist in Europa tief revolutionär. Die Arbeiterklasse fühlt es und drängt während der ganzen Nachkriegsperiode vorwärts in den Kampf mit der Bourgeoisie. Aber den Sieg hat sie nirgends, außer in Russland, erlangt. Dann fing sie an einzusehen, dass sie es mit einer schwierigen Aufgabe zu tun hat und begann, sich einen Apparat zum Siege, die kommunistische Partei, auszubauen. In dieser Richtung hat sie im letzten Jahre in Europa Siebenmeilenschritte vorwärts getan. Gerade jetzt entstehen wirkliche kommunistische Massenparteien in Deutschland, in Frankreich, in der Tschechoslowakei, in Jugoslawien, in Bulgarien … Ein ungeheures Wachstum! Worin besteht die nächste Aufgabe? Darin, dass diese Parteien in kürzester Frist die Majorität der Industriearbeiter und einen beträchtlichen Teil der Landarbeiter und sogar die armen Bauern erobern, wie wir sie vor dem Oktober erobert haben, – sonst hätten wir ja keinen Oktober gehabt. Anstatt dessen behaupten gewisse traurige Strategen, da die Periode jetzt revolutionär sei, so hätten wir die Pflicht, bei jeder Gelegenheit den Kampf, wenn auch nur den Teilkampf, mit den Methoden des bewaffneten Aufstandes zu führen. Die Bourgeoisie kann sich nichts Besseres wünschen! Zu der Zeit, da die kommunistische Partei mit vortrefflicher Schnelligkeit anwächst und ihre Fittiche immer mehr und mehr über die Arbeiterklasse ausbreitet, provoziert die Bourgeoisie den ungeduldigen und kampfbereiten Teil der Arbeiter zu voreiligem Kampfe, ohne Unterstützung der Grundmasse der Arbeiter, damit im teilweise geschlagenen Proletariat der Glaube und die Fähigkeit des Siegens untergraben werde. Unter diesen Umständen ist die Theorie der beständigen Offensive und der Teilkämpfe mit Mitteln des bewaffneten Aufstandes Wasser auf die Mühle der Konterrevolution. Das ist der Grund, warum auf dem 3. Kongress die russische Partei, unterstützt von ihren reifsten Elementen, zu den Genossen des linken Flügels mit fester Stimme sprach: „Ihr seid ausgezeichnete Revolutionäre, und Ihr werdet für die Sache des Kommunismus Euch zu schlagen und unterzugehen wissen, aber dies genügt uns nicht. Es genügt nicht, sich zu schlagen, man muss siegen.“ Und dazu muss man die Kunst der revolutionären Strategie beherrschen.

Eine der Hauptursachen der Unterschätzung der Schwierigkeiten des revolutionären Kampfes und Sieges in Europa war der Verlauf der proletarischen Revolution in Russland und teilweise in Ungarn. Wir hatten in Russland eine historisch verspätete, politisch schwache Bourgeoisie, in großer Abhängigkeit vom europäischen Kapital und politisch nur schwach im russischen Volke wurzelnd. Andererseits hatten wir eine revolutionäre Partei mit einer großen Vergangenheit unterirdischer Arbeit, mit einer starken Erziehung und Ausdauer im Kampfe, eine Partei, die die ganze Erfahrung des europäischen und internationalen revolutionären Kampfes bewusst ausnutzte. Die Lage des russischen Bauerntums – in Bezug auf die Bourgeoisie und in Bezug auf das Proletariat, – der Charakter und die Verfassung der russischen Armee nach dem militärischen Zusammenbruch des Zarismus, – all das machte die Oktober-Revolution unvermeidlich und erleichterte den revolutionären Sieg außerordentlich (obwohl dieser Sieg weiteren Schwierigkeiten nicht enthob, sondern, im Gegenteil, sie im gigantischen Ausmaß bereitete). Infolge der relativen Leichtigkeit der Oktoberrevolution stellte sich der Sieg des russischen Proletariats den Augen der leitenden Kreise der europäischen Arbeiter nicht genügend als politisch-strategische Aufgabe dar und wurde in dieser Hinsicht von ihnen nicht genügend erfasst.

Die nächste Erfahrung in der Machtergreifung durch das Proletariat wurde in kleinerem Maße, aber näher an Europa – in Ungarn – gesammelt. Dort ergaben sich solche Verhältnisse, dass die Macht fast ohne revolutionären Kampf den Kommunisten zufiel. Dadurch allein reduzierten sich die Fragen der revolutionären Strategie während des Kampfes um die Macht auf ein Minimum.

Aus den Erfahrungen Russlands und Ungarns erkannten nicht nur die Arbeitermassen, sondern auch die kommunistischen Parteien der anderen Länder vor allem die Unvermeidlichkeit des Sieges des Proletariats und dann gingen sie unmittelbar zur Erfassung der Schwierigkeiten über, die sich aus dem Sieg der Arbeiterklasse ergeben. Was aber die Strategie des revolutionären Kampfes im Namen der Machtergreifung betrifft, so stellte sie sich ihn allzu einfach und gewissermaßen selbstverständlich vor. Es ist kein Zufall, dass einige hervorragende ungarische Genossen mit großen Verdiensten vor der Internationale die Tendenz aufweisen, die Fragen der Taktik des Proletariats in der revolutionären Epoche außerordentlich zu vereinfachen und diese Taktik durch eine Offensivparole zu ersetzen.

Der 3. Kongress sagte zu den Kommunisten aller Länder: der Gang der russischen Revolution ist ein sehr wichtiges historisches Beispiel, aber keineswegs eine politische Regel. Und ferner: nur ein Verräter kann die Notwendigkeit der revolutionären Offensive leugnen, aber nur ein Dummkopf kann die ganze revolutionäre Strategie auf die Offensive zurückführen.

Die positiven und negativen Seiten der Französischen Kommunistischen Partei.

Anlässlich der Politik der Französischen Kommunistischen Partei hatten wir weniger stürmische Debatten, als in der der deutschen Politik, wenigstens auf dem Kongress selber; aber in der Sitzung der Exekutive entspannen sich bei uns einmal bei der Diskussion der Fragen der französischen Arbeiterbewegung ziemlich erregte Debatten. Die Französische Kommunistische Partei ist ohne die äußeren und inneren Erschütterungen der deutschen Partei entstanden. Infolgedessen sind in ihr die zentristischen Stimmungen und die alten Methoden des parlamentarischen Sozialismus unzweifelhaft noch sehr stark. Das französische Proletariat kannte in der jüngsten Vergangenheit keinen revolutionären Kampf, der seine alten revolutionären Traditionen neu belebt hätte. Die französische Bourgeoisie ist aus dem Kriege siegreich hervorgegangen; das verlieh ihr die Möglichkeit, bis zur letzten Zeit auf Kosten der Ausplünderung Deutschlands dem privilegierten Teil der Arbeiterklasse Almosen zuzuwerfen. Der revolutionäre Klassenkampf ist jetzt in Frankreich erst im Entstehen begriffen. Vor Beginn der ersten ernsthaften Kämpfe hatte die Französische Kommunistische Partei die Möglichkeit, sich die revolutionäre Erfahrung Russlands und Deutschlands zunutze zu machen und anzueignen. Es genügt daran zu erinnern, dass in Deutschland der Bürgerkrieg bereits in vollem Gange war, als die Kommunisten erst ein kleines Häuflein Spartakisten darstellten, während dagegen in Frankreich es nach dem Kriege noch keinen offenen revolutionären Kampf gab, und die Kommunistische Partei schon 120.000 Arbeiter in ihren Reihen vereinigt. Berücksichtigt man die revolutionären Syndikalisten Frankreichs, die die Partei „nicht anerkennen“, obwohl sie den Kampf um die Diktatur des Proletariats unterstützen, berücksichtigt man, dass in Frankreich die Organisation niemals so stark war, wie in Deutschland, so wird es einleuchten, dass diese 120.000 organisierten Kommunisten für Frankreich nicht weniger aber vielleicht sogar mehr bedeuten, als die 400.000 für Deutschland. Dies geht am deutlichsten daraus hervor, dass in Deutschland rechts von diesen 400.000 die Parteien der Unabhängigen und der Sozialdemokraten stehen, die zusammengenommen mehr Mitglieder und Anhänger aufweisen, als die Kommunisten, während in Frankreich rechts von den Kommunisten nur die geringfügige Gruppe der abgesplitterten Anhänger von Longuet und Renaudel steht. Auch in der Gewerkschaftsbewegung Frankreichs ist das Kräfteverhältnis für den linken Flügel günstiger. Dafür aber ist das Verhältnis der Klassenkräfte in Deutschland unzweifelhaft günstiger für eine siegreiche Revolution. Mit anderen Worten: in Frankreich stützt sich die Bourgeoisie noch in bedeutendem Grade auf ihren eigenen Apparat – Armee, Polizei usw.; in Deutschland stützt sie sich vorwiegend auf die Sozialdemokratie und die Gewerkschaftsbürokratie.

Die Französische Kommunistische Partei hat die absolute und ungeteilte Möglichkeit, die Führung der Arbeiterbewegung zu übernehmen, bevor entscheidende Ereignisse eingetreten sein werden. Dazu müsste aber der französische Kommunismus endgültig seine alte Schale der politischen Konventionen und Halbheiten abstreifen, die in Frankreich kompakter war als irgendwo. Die französische Partei braucht ein entschlosseneres Anpacken der Ereignisse, einen energischeren und unpersönlicheren Charakter und Ton der Agitation, eine schärfere Stellungnahme zu allen möglichen Erscheinungen der demokratisch-parlamentarischen Ideologie des intellektuellen Individualismus und des advokatischen Strebertums. Bei der Besprechung der Politik der französischen Partei wurde in der Exekutive der Kommunistischen Internationale darauf hingewiesen, dass die Partei diese und jene Fehler beging, dass die kommunistischen Abgeordneten im Parlament mitunter sich allzu sehr mit ihren bürgerlichen Feinden „unterhalten“, anstatt sich über ihre Köpfe hinweg an die Massen zu wenden; dass die Parteizeitungen eine viel klarere und schärfere Sprache führen sollten, damit die unterdrückten und niedergehaltenen französischen Arbeiter hier einen Widerhall ihrer Leiden, Forderungen und Hoffnungen fühlen. Während dieser Debatten trat ein junger französischer Genosse auf und verschob in einer leidenschaftlichen Rede, die die Zustimmung eines Teiles der Versammlung auslöste, die Kritik der Parteipolitik auf eine ganz andere Ebene. „Als die französische Regierung zu Beginn dieses Jahres das Ruhrgebiet besetzen wollte“, sagte dieser Vertreter der Jugend, „und die Neunzehnjährigen mobilisiert wurden, da rief die Partei nicht zum Widerstande auf und zeigte dadurch ihre völlige Unzulänglichkeit.“ Was für einen Widerstand? fragten wir. „Die Partei appellierte nicht an die Neunzehnjährigen, sich dem Mobilmachungsbefehl zu widersetzen.“ Was verstehen Sie unter Widersetzen? fragten wir. Heißt es, sich nicht freiwillig melden und warten, bis ein Gendarm oder ein Polizist in die Wohnung kommt? Oder bedeutet es, einen aktiven Widerstand mit der Waffe in der Hand gegen den Gendarmen und den Polizisten? Dieser junge Genosse, der auf uns alle einen ausgezeichneten Eindruck machte, rief sogleich: „Gewiss, bis zu Ende gehen, mit der Waffe in der Hand Widerstand leisten …“ Da erst zeigte sich, wie unklar und verworren die Vorstellungen über revolutionäre Taktik noch im Bewusstsein gewisser Elemente sind. Wir fingen dann mit unserem jungen Opponenten an zu diskutieren: Bei Euch in Frankreich stehen jetzt unter der Trikolore der imperialistischen Armee einige Jahresklassen. Eure Regierung glaubt, sie müsste noch eine Klasse, die Neunzehnjährigen, einberufen. Diese Klasse zählt im Lande, sagen wir 200.000 Jünglinge, darunter sind, angenommen, 3-5 Tausend Kommunisten. Sie sind zersplittert, unorganisiert, der eine auf dem Lande, der andere in der Stadt. Wir wollen einen Moment lang zugeben, dass die Partei sie in der Tat aufruft, bewaffneten Widerstand zu leisten. Wie viel Agenten der Bourgeoisie dabei erschlagen werden würden, kann ich nicht sagen, aber sicher ist, dass alle Kommunisten der Jahresklasse der Neunzehnjährigen ohne Ausnahme ausgehoben und vernichtet worden wären. Warum ruft Ihr die Jahresklassen, die in der Armee sind, nicht, zum Aufstand auf? Sie haben ja Waffen und sind vereinigt. Darum, weil Ihr offenbar einseht, dass die Armee nicht gegen die Konterrevolution losgehen wird, so lange die Arbeiterklasse in ihrer Majorität nicht die Bereitschaft zeigt, den Kampf um die Macht aufzunehmen, mit anderen Worten, so lange die proletarische Revolution nicht begonnen hat. Wieso verlangt Ihr, dass die Revolution nicht von der ganzen Arbeiterklasse, sondern allein von der Jahresklasse 19 gemacht werde? Hätte die kommunistische Partei einen solchen Befehl erlassen – wir wollen es für einen Augenblick zugeben – so wäre es ein gefundenes Fressen für Millerand, für Briand, für Barthou, für alle Kandidaten der Unterdrückung der proletarischen Revolution. Denn es ist vollkommen klar, dass sobald der stürmische Teil der Jugend vernichtet und der rückständigere eingeschüchtert worden wäre, die Partei isoliert, und ihr Einfluss für Jahre hindurch untergraben worden wäre. Mit solchen Methoden, d. h. durch die ungeduldige Anwendung der schärfsten Formen des revolutionären Kampfes kann man bloß negative Resultate erzielen unter Verhältnissen, die für das entscheidende Treffen nicht reif sind, und es sogar zu einer revolutionären Frühgeburt anstatt einer kräftigen revolutionären Entbindung bringen.

Ein klassisches Beispiel eines vollkommen unvorbereiteten Appells zur Massenaktion bietet der Versuch des Generalstreiks im Mai 1920. Bekanntlich wurde die Idee dieses Streiks in verräterischer Weise von den Syndikalisten-Reformisten stark „unterstützt“. Ihr Bestreben ging dahin, die Bewegung nicht aus der Hand zu verlieren und sie bei der ersten besten Gelegenheit umso leichter preiszugeben. Sie hatten Erfolg darin. Aber in ihrem verräterischen Unterfangen sind diese Leute nur ihrer Natur treu geblieben. Nichts anderes war von ihnen auch zu erwarten. Unterdessen hatte die andere Seite, die revolutionären Syndikalisten und Kommunisten, die Bewegung gar nicht vorbereitet. Die Initiative ging vom Eisenbahnerverband aus, von dem damals die Linken zuerst Besitz ergriffen hatten, mit Monmousseau an der Spitze. Bevor sie Zeit hatten, sich einigermaßen zu befestigen und die nötigen Positionen zu sichern, bevor sie Zeit hatten, sich einigermaßen umzusehen, beeilten sie sich, die Massen zur entscheidenden Aktion aufzurufen, mit verworrenen und unbestimmten Parolen bei verräterischer „Unterstützung“ von rechts. Das war eine in jeder Hinsicht unvorbereitete Aktion. Die Resultate sind allbekannt; lediglich eine kleine Minorität machte mit, die Opportunisten würgten die weitere Entwicklung des Streikes ab, die Gegenrevolution nützte die zum Vorschein gekommene Schwäche der Linken durch die Bank aus und befestigte ihre Positionen außerordentlich.

Derartige leichtsinnige Improvisationen sind in der Bewegung unzulässig. Man muss die Situation viel besser beurteilen können, man muss die Bewegung beharrlich, energisch, mit allen Gebieten koordiniert vorbereiten, damit man sie nachdem, sobald das Signal gegeben ist, fest und entschlossen durchführen kann. Aber dazu braucht man eine kommunistische Partei, die die Erfahrungen des Proletariats auf allen Kampfgebieten vereinigt.

Natürlich befreit uns allein das Vorhandensein der Partei nicht von Fehlern. Aber der Mangel der Partei als leitender Avantgarde macht Fehler unvermeidlich und verwandelt den ganzen Kampf in eine Reihe von Improvisationen, Experimenten und Abenteuern.

Kommunismus und Syndikalismus in Frankreich.

Das Verhältnis der Kommunistischen Partei zur Arbeiterklasse ist, wie gesagt, in Frankreich günstiger als in Deutschland. Doch der politische Einfluss der Partei auf die Arbeiterklasse, der dank der Linksorientierung der Partei außerordentlich gewachsen ist, hat in Frankreich nicht genug Form gewonnen, insbesondere in organisatorischer Hinsicht. Das ist am klarsten an der Frage der Gewerkschaften zu erkennen.

In Frankreich bilden die syndicats (Gewerkschaftsverbände) weniger eine Organisation der Millionenmassen als in Deutschland und den angelsächsischen Ländern. Aber auch in Frankreich[ii] hat die numerische Stärke der Gewerkschaften in den letzten Jahren außerordentlich zugenommen. Das Verhältnis der Partei zur Klasse drückt sich vor allem im Verhältnis der Partei zu den Gewerkschaften aus. Schon allein daraus, aus dieser einfachen Formulierung der Frage, geht hervor, wie unrichtig, unrevolutionär und gefährlich die Theorie der sogenannten Neutralität, der völligen „Unabhängigkeit“ der Gewerkschaften von der Partei usw. ist. Sind die Gewerkschaften ihrer Tendenz nach eine Organisation der ganzen Arbeiterklasse, – wie kann dann die Arbeiterklasse gegenüber der Partei neutral oder „unabhängig“ sein? Das würde ja ihre Neutralität, d. h. ihre völlige Gleichgültigkeit gegenüber der Revolution selbst bedeuten. Unterdessen vermissen wir bis jetzt in der ganzen französischen Arbeiterbewegung in dieser Grundfrage die nötige Klarheit, und vor allem fehlt diese Klarheit in der Partei selbst.

Die Theorie der vollkommenen und unbedingten Arbeitsteilung zwischen Partei und Gewerkschaften sowie der absoluten gegenseitigen Nichteinmischung ist in diesem extremen Ausdruck ein Produkt namentlich der französischen politischen Entwicklung. Die Grundlage dieser Theorie ist der reinste Opportunismus. So lange wie die gewerkschaftlich organisierte Arbeiteraristokratie Tarifverträge abschließt und die sozialistische Partei im Parlament Reformen verficht, sind Arbeitsteilung und gegenseitige Nichteinmischung noch einigermaßen möglich. Doch sobald die wirklich proletarische Masse in den Kampf hineingezogen wird und die Bewegung einen wirklich revolutionären Charakter annimmt, artet das Prinzip der Nichteinmischung in reaktionäre Scholastik aus. Die Arbeiterklasse kann nur dann siegen, wenn an ihrer Spitze eine Organisation steht, die die lebendige historische Erfahrung, theoretisch verallgemeinert, und praktisch ihren ganzen Kampf lenkend, verkörpert. Dem Sinne ihrer historischen Aufgabe nach kann die Partei nur die bewusstere und aktivere Minorität der Arbeiterklasse umfassen. Die Gewerkschaften streben nicht, die Arbeiterklasse in ihrer Gesamtheit zu erfassen. Wer zugibt, dass das Proletariat einer geistigen und politischen Leitung ihrer zur Kommunistischen Partei zusammengeschlossenen Avantgarde bedarf, der erkennt damit an, dass die Partei auch innerhalb der Gewerkschaften, d. h. der Massenorganisationen der Arbeiterklasse zur führenden Macht werden muss. In der französischen Partei gibt es jedoch Genossen, die diese elementare Wahrheit nicht erfasst haben, und die, wie z. B. Verdier, einen unversöhnlichen Kampf um die ,,Unantastbarkeit“ der Gewerkschaften gegenüber den Parteieinflüssen führen. Evident, dass solche Genossen aus purem Missverständnis in die Partei eingetreten sind, denn ein Kommunist, der die Aufgabe und die Verpflichtung der Kommunistischen Partei gegenüber den Gewerkschaften leugnet, ist kein Kommunist.

Es versteht sich von selbst, dass dies nicht eine organisatorische oder äußerliche Unterwerfung der Gewerkschaften unter die Partei bedeutet. In organisatorischer Hinsicht sind die Gewerkschaften unabhängig. Innerhalb der Gewerkschaften hat die Partei den Einfluss, den sie sich durch ihre Arbeit, ihre geistige Einwirkung und ihre Autorität erobert. Aber damit sagen wir, dass die Partei verpflichtet ist, eine möglichste Steigerung ihres Einflusses in den Gewerkschaften anzustreben, sie muss sich mit allen Fragen befassen, die sich aus der Gewerkschaftsbewegung ergeben, muss sie klar beantworten und ihre Auffassungen durch die Kommunisten, die in den Gewerkschaften arbeiten, propagieren, ohne die organisatorische Autonomie der letzteren zu durchbrechen.

Bekanntlich hatte in Frankreich innerhalb der Gewerkschaften der sogenannte revolutionäre Syndikalismus einen großen Einfluss Obwohl der revolutionäre Syndikalismus die Partei leugnete, so war er eigentlich nichts anderes, als eine antiparlamentarische Partei der Arbeiterklasse. Die syndikalistische Partei führte stets einen energischen Kampf um ihren Einfluss auf die Gewerkschaften und leugnete die Neutralität oder Unabhängigkeit der Gewerkschaften in Bezug auf Theorie und Praxis der syndikalistischen Partei. Sieht man von den theoretischen Fehlern und Extremen des französischen Syndikalismus ab und nimmt man seinen revolutionären Sinn, so unterliegt es keinem Zweifel, dass dieser Sinn seine volle Entfaltung gerade im Kommunismus gefunden hat.

Den Kern des revolutionären Syndikalismus in Frankreich bildete die Gruppe „La vie ouvrière“. Ich hatte im Kriege Gelegenheit, diese Gruppe näher kennen zu lernen. Im Mittelpunkt standen Monatte und Rosmer, rechts schlossen sich Merrheim und Dumoulin an. Die zwei Letzteren wurden später zu Renegaten. Rosmer vollzog den natürlichen Übergang vom revolutionären Syndikalismus zum Kommunismus. Monatte nimmt bis jetzt eine unbestimmte Position ein, nach dem 3. Kongress der Internationale und dem Kongress der Roten Gewerkschaften machte Monatte einen Schritt, der mir ernsthafte Befürchtungen einflößt. Gemeinsam mit dem Sekretär des Eisenbahnerverbandes, Monmousseau, veröffentlichte Monatte einen Protest gegen die Resolution der Kommunistischen Internationale zur Gewerkschaftsfrage und lehnte den Anschluss an die Rote Gewerkschaftsinternationale ab. Es muss gesagt werden, dass selbst der Text des Protestes von Monatte und Monmousseau das beste Argument gegen ihre geteilte Stellungnahme bildet. Monatte erklärt seinen Austritt aus der Amsterdamer Gewerkschaftsinternationale wegen ihrer Zusammengehörigkeit mit der II. Internationale. Ganz richtig. Aber die Tatsache, dass die überwiegende Majorität der Gewerkschaften entweder mit der II, oder III. Internationale zusammengeht, bildet den besten Beweis dafür, dass es neutrale, apolitische Gewerkschaften überhaupt und gar in revolutionären Zeiten nicht gibt und nicht geben kann. Wer sich von Amsterdam loslöst und sich Moskau nicht anschließt, der riskiert, eine Gewerkschaftsinternationale 2½ zu bilden.

Ich hoffe bestimmt, dass dieses traurige Missverständnis sich beheben wird und dass Monatte den Platz einnehmen wird, der ihm seiner ganzen Vergangenheit nach zukommt, nämlich in der Französischen Kommunistischen Partei und in der Moskauer Internationale.

Vollkommen begreiflich und richtig ist die vorsichtige und sanfte Behandlung, die die revolutionären Syndikalisten von der Französischen Kommunistischen Partei erfahren, die eine Annäherung an sie sucht. Aber absolut unbegreiflich ist die Nachsicht, mit der die Partei die Quertreiberei gegen die Politik der Kommunistischen Internationale von Seiten ihrer eigenen Mitglieder, wie Verdier, duldet. Monatte repräsentiert die Tradition des revolutionären Syndikalismus, Verdier repräsentiert aber nur den Wirrwarr.

Aber höher als diese persönlichen und Gruppen-Interessen steht die Frage nach dem führenden Einfluss der Partei auf die Gewerkschaften. Ohne ihre Autonomie anzutasten, die ganz und gar von den Bedürfnissen der laufenden praktischen Arbeit diktiert wird, muss die Partei jedoch auf diesem wichtigsten Gebiete allen Streitigkeiten und Schwankungen ein Ende machen und der französischen Arbeiterklasse in der Praxis zeigen, dass sie eine revolutionäre Partei besitzt, die auf allen Gebieten des Klassenkampfes führend ist. In dieser Hinsicht werden die Beschlüsse des 3. Kongresses, so vorübergehende Verwirrungen und Konflikte sie in den nächsten Monaten auch hervorrufen mögen, auf den weiteren Gang der französischen Arbeiterbewegung einen gewaltigen und höchst fruchtbaren Einfluss ausüben. Nur auf Grund dieser Resolutionen wird das richtige Wechselverhältnis zwischen der Partei und der Arbeiterklasse eintreten, und ohne dasselbe gibt es keine siegreiche Revolution des Proletariats und kann es nicht geben.

Nicht Wendung nach rechts, sondern ernsthafte Vorbereitung zur Machtergreifung.

Ich will von den kommunistischen Parteien der anderen Länder nicht reden, denn ich wollte nur die Grundlinien der Politik der Kommunistischen Internationale dartun, wie sie sich auf dem letzten Kongress entwickelt und herausgebildet haben.

Deshalb habe ich jene Parteien gekennzeichnet, die das meiste Material zur Ausarbeitung der taktischen Linie der Internationale in der nächsten Zeit beigetragen haben.

Es erübrigt sich zu sagen, dass der Kongress nicht vorgeschlagen hat, den Kampf mit den Zentristen und Halbzentristen „einzustellen“, wie manche linke Genossen grundlos befürchteten. Der ganze Kampf der Kommunistischen Internationale gegen das kapitalistische Regime richtet sich vor allem gegen seine reformistisch-opportunistischen Schützengräben. Diese müssen vor allem genommen werden. Andererseits kann man den Kampf gegen die Internationale II und II½ nicht führen, bevor man nicht die eigenen kommunistischen Reihen von zentristischen Tendenzen und Stimmungen gereinigt hat. Das ist absolut unzweifelhaft.[iii]

Aber diesen Kampf nach rechts, der zu unserem grundsätzlichen Kampfe mit der bürgerlichen Gesellschaft durchaus gehört, können wir nur dann erfolgreich führen, wenn wir in kürzester Zeit die linken Verirrungen überwinden, die sich aus der Unerfahrenheit und Ungeduld ergeben und mitunter die Form gefährlicher Abenteuer annehmen. In dieser Richtung hat der 3. Kongress eine große Erziehungsarbeit geleistet, die ihn, wie gesagt, zur Hochschule, zur Akademie der revolutionären Strategie gemacht hat.

Anlässlich unserer Resolutionen reden Martow, Bauer und die anderen Stubenstrategen des Kleinbürgertums von einem Zerfall des Kommunismus, einem Zusammenbruch der III. Internationale u. a. m. Dieses Gerede verdient theoretisch nur Verachtung. Der Kommunismus ist nicht und war nicht ein dogmatisches Kalenderprogramm der Revolution. Der Kommunismus ist die lebendige, aktive, wachsende, manövrierende Armee des Proletariats, die im Prozess ihrer Arbeit sich der veränderlichen Bedingungen des Kampfes bewusst wird, ihre eigene Waffe überprüft, sie von Neuem schärft, falls sie stumpf geworden ist, und alle ihre Handlungen den Bedürfnissen der Vorbereitung zum revolutionären Sturz der bürgerlichen Ordnung anpasst

Die Tatsache, dass wir uns auf dem 3. Kongress so eingehend und ausführlich, so konkret mit Fragen der Taktik befasst haben, ist an und für sich ein gewaltiger Schritt vorwärts: sie zeugt davon, dass die III. Internationale das Stadium der geistigen und organisatorischen Selbstbestimmung verlassen und sich als lebendige und leitende Massenorganisation den Fragen der unmittelbaren revolutionären Aktion zugewandt hat. Wenn einer der jüngeren und weniger erfahrenen Genossen aus meinen Ausführungen eine pessimistische Schlussfolgerung ziehen wollte in dem Sinne, dass die Lage der Internationale ungünstig sei, und dass bei Vorhandensein so irriger Auffassungen und Methoden in den kommunistischen Parteien selbst die Bourgeoisie kaum zu besiegen sei, – hätte er einen grundfalschen Schluss gezogen. Zu einer Zeit der scharfen Veränderungen der Weltpolitik, in einer Zeit der tiefen sozialen Erschütterungen, mit einem Wort, in der revolutionären Zeit, in der wir leben, vollzieht sich die Erziehung der revolutionären Parteien außerordentlich rasch, besonders bei einem gegenseitigen Austausch an Erfahrungen, bei gegenseitiger Kontrolle und einer gemeinsamen zentralisierten Leitung, deren Ausdruck ja unsere Internationale bildet. Wir dürfen nicht vergessen, dass die stärksten kommunistischen Parteien in Europa erst – buchstäblich! – Monate alt sind. In unserer Zeit zählt ein Monat für ein Jahr, und mancher Monat für ein Jahrzehnt.

Obwohl ich auf dem Kongress dem sogenannten „rechten“ Flügel angehörte und mich an der Kritik der pseudorevolutionären Linksrichtung beteiligte, die ich Ihnen in der Gefährlichkeit für die wirkliche Entwicklung der proletarischen Revolution zu zeigen suchte, so habe ich den Kongress in einer viel optimistischeren Stimmung verlassen, als ich zu ihm hingegangen war. Die Eindrücke, die ich aus dem Meinungsaustausch mit den Delegationen unserer Bruderparteien Europas und der ganzen Welt gewonnen habe, kann ich so zusammenfassen: im verflossenen Jahr hat die Kommunistische Internationale einen gewaltigen Schritt vorwärts getan, sowohl in ideeller, als auch organisatorischer Beziehung. Der Kongress hat das Signal zum allgemeinen Angriff nicht gegeben und konnte es auch nicht geben. Er formulierte die Aufgabe der kommunistischen Parteien als Aufgabe der Vorbereitung zum Angriff, und vor allem als Aufgabe der ideellen Eroberung der Majorität der Werktätigen in Stadt und Land. Das bedeutet keineswegs, dass die Revolution auf unbestimmt lange Zeit „hinausgeschoben“ wird. Nichts derartiges: wir beschleunigen die Revolution und, vor allem, wir sichern ihren Sieg dadurch, dass wir uns tief gehend, allseitig und sorgfältig auf sie vorbereiten.

Selbstverständlich kann man in keinem Sinne die revolutionäre Politik der Arbeiterklasse und die Kriegsarbeit der Roten Armee auf einen Generalnenner bringen, das wissen wir wohl, – und es erscheint mir besonders „riskant“, selbst zu Vergleichen aus diesem Gebiete zu greifen, in Anbetracht der fast traditionellen Gefahr, einer „militärischen“ Geistesrichtung verdächtigt zu werden (die deutschen Cunows und die russischen Martows haben ja längst schon festgestellt, dass ich bestrebt bin, die Politik und Ökonomik der Arbeiterklasse durch einen „Befehl“ zu ersetzen, der durch einen militärischen „Apparat“ weitergegeben wird), – dennoch will ich, mit dieser Vorrede als Rückendeckung, riskieren, einen gewissen militärischen Vergleich zu gebrauchen, der, wie ich glaube, für die Beleuchtung der revolutionären Politik des Proletariats sowie der Tätigkeit der Roten Armee nicht unangebracht ist.

Als wir uns an einer unserer unzähligen Fronten zu entscheidenden Operationen vorbereiten mussten, schickten wir dahin vor allem frische, von der Kommunistischen Partei mobilisierte Regimenter, Munitionsvorräte usw. usw. Ohne genügend materielle Mittel konnte natürlich von einem entscheidenden Kampfe gegen Koltschak, Denikin oder Wrangel nicht die Rede sein.

Aber nun sind die materiellen Vorbedingungen für entscheidende Aktionen mehr oder weniger da. Wir kommen an die Front und erfahren, dass das Frontkommando einen allgemeinen Angriff – sagen wir für den 5. Mai – beschlossen habe, der, sagen wir, in drei Tagen sein wird. In der Sitzung des Revolutionär-Militärischen Frontsowjets, im Stabe, in der politischen Sektion erfahren wir, dass auf unserer Seite ein gewisses Übergewicht in der Zahl von Gewehren, Säbeln und Kanonen vorhanden ist, dass der Gegner uns im Flugwesen überlegen, dass aber im großen und ganzen die Überlegenheit auf unserer Seite ist. Die Soldaten sind mehr oder weniger bekleidet und ausgerüstet, die Kommunikation ist gesichert. In dieser Hinsicht ist alles recht gut bestellt. „Und wie stand es mit der Agitation vor dem Angriff? Wie lange wurde sie geführt? In welchen Formen, unter welchen Parolen? Wie viel Kommunisten wurden für die Agitation hinaus geschickt? Zeigt uns Eure Flugblätter, Proklamationen, die Artikel Eurer Frontzeitungen, Eure Plakate und Karikaturen. Ist jedem Soldaten Eurer Armee an Eurer Front bekannt, wer Wrangel ist, mit wem er in Verbindung steht, wer ihn deckt und woher er Artillerie und Flugzeuge hat?“ – Darauf bekommen wir eine ungenügend bestimmte Antwort. Eine Agitation wurde natürlich geführt. Über Wrangel wurden selbstverständlich Aufklärungen erteilt. Aber einige Regimenter sind erst gestern oder vorgestern aus dem Zentrum oder von anderen Fronten angelangt, und über ihre politische Gesinnung und Stimmung liegen noch keine genauen Informationen vor. „Wie hat man die von der Partei mobilisierten paar Tausend Kommunisten auf die Divisionen und Regimenter verteilt? Hat man bei der Verteilung der kommunistischen Elemente dem Charakter und der Zusammensetzung jedes einzelnen Truppenteils Rechnung getragen? Sind die Kommunisten selbst genügend bearbeitet worden? Hat man jeder Gruppe erklärt, welchem Teile sie zugewiesen werden wird, was die Eigentümlichkeiten dieses Teiles sind und welche speziellen Bedingungen der politischen Arbeit dort vorherrschen? Und schließlich, ist das Vorhandensein einer kommunistischen Zelle, die selbst bereit wäre, sich bis zu Ende zu schlagen und die anderen vorwärts zu treiben, in jeder Kompanie gesichert?“

Es stellt sich heraus, dass diese Arbeit bloß in allgemeinen Zügen, ohne die nötige Berücksichtigung der konkreten Bedingungen und der speziellen Eigenschaften der politischen Agitation in der Armee überhaupt und in jedem Regiment speziell, verrichtet worden ist. Die Agitation hatte nicht den konzentrierten, intensiven Charakter, der einer unmittelbaren Vorbereitung zum Kampfe entspräche. Das macht sich sowohl an den Zeitungsartikeln, wie an den Aufrufen bemerkbar … Endlich, ist das Kommando- und Kommissariatspersonal überprüft worden? In den letzten Kämpfen sind viele Kommissare gefallen und wurden zunächst durch zufällige Elemente ersetzt. Wurde das Personal der Kommissariate gehörig aufgefüllt? Wie verhält es sich mit den Führern? Genießen wir genügend Vertrauen? Wo die Führer ungenügend geprüft worden sind, – hat man da durchaus zuverlässige und energische Kommissare? Gibt es nicht unter den Führern, unter den früheren Zarenoffizieren Personen, deren Familien sich in dem von Wrangel besetzten Gebiete oder im Auslande aufhalten? Es ist nur natürlich, wenn diese Führer gefangen genommen werden wollen, und das kann für den Ausgang einzelner Operationen fatale Folgen haben. Hat man sich das Kommando-Personal unter diesem Gesichtswinkel angesehen? Ist es erneuert, befestigt worden? Nicht? – Zurück! Den Angriff absagen! In materieller Hinsicht ist der Moment vorteilhaft, wir haben ein Übergewicht an Kräften, der Gegner hat seine Kraft noch nicht konzentrieren können. Dies ist unzweifelhaft. Aber die moralische Vorbereitung ist von ebenso großer Bedeutung, wie die materielle. Indes ist die moralische Vorbereitung oberflächlich und salopp durchgeführt worden. Unter diesen Umständen ist es besser, dem Gegner einen Teil des Territoriums abzutreten, sich soundso viele Kilometer zurückzuziehen, Zeit zu gewinnen, den Angriff auf zwei, drei Wochen hinauszuschieben und die politische und organisatorische Vorarbeit zu Ende zu führen. Dann ist der Erfolg garantiert“ …

Wer in unserer Armee gedient hat, der weiß, dass ich dieses Beispiel nicht ausgedacht habe. Strategische Rückzüge nur deshalb, weil die Armee in moralisch-politischer Hinsicht auf entscheidende Kämpfe nicht vorbereitet war, kamen bei uns wiederholt vor. Indessen ist die Armee eine Zwangsorganisation. Jeder, der geschickt wird, muss in den Kampf gehen. Gegen die Zuwiderhandelnden werden harte Maßnahmen angewandt, sonst kann eine Armee nicht bestehen. Aber die wichtigste bewegende Kraft der revolutionären Armee ist das politische Bewusstsein, der revolutionäre Enthusiasmus, der Sinn der Majorität der Armee für die ihr bevorstehende Aufgabe und die Bereitwilligkeit, diese Aufgabe zu erfüllen.

Wie viel mehr hat all das auf die entscheidenden revolutionären Kämpfe der Arbeiterklasse Bezug! Hier kann von einem Zwang zur Revolution nicht die Rede sein. Hier fehlt der Apparat der Zwangsmaßnahmen. Der Erfolg kann nur auf der Bereitwilligkeit der Majorität der Werktätigen basieren, am Kampfe direkt oder indirekt teilzunehmen, und seinen glücklichen Ausgang zu fördern.[iv] Der 3. Kongress hatte einen Charakter, als ob die Kommunistische Internationale in Gestalt ihrer leitenden Vertreter an die Front der internationalen Arbeiterbewegung gekommen wären, die sich zu entscheidenden Kämpfen um die Macht vorbereitet. Der Kongress fragte: „Genossen, Kommunisten, deutsche, italienische, französische und andere! Besitzt Ihr die Majorität der Arbeiterklasse Europas? Was habt Ihr getan, damit jeder Arbeiter weiß, in wessen Namen der Kampf geführt wird? Habt Ihr dies den werktätigen Massen bis zu den rückständigsten mit einfachen, klaren und verständlichen Worten klar gemacht? Was habt Ihr unternommen, um zu prüfen, dass diese Rückständigen Euch verstanden haben? Zeigt Eure Zeitungen, Eure Broschüren, Eure Flugblätter. Nein, Genossen, das genügt nicht. Das ist noch nicht die Sprache, die den wirklichen Zusammenhang mit der millionenköpfigen Masse der Werktätigen zeugt … Was habt Ihr zu einer richtigen Verteilung der kommunistischen Kräfte in den Gewerkschaften unternommen? Habt Ihr in allen wichtigen Organisationen der Arbeiterklasse zuverlässige Zellen? Was habt Ihr getan zur Überprüfung des „Kommando-Personals“ in den Gewerkschaften, zur tatsächlichen Säuberung der Arbeiterorganisationen von zweifelhaften, unzuverlässigen oder gar offen verräterischen Führern? Habt Ihr im Feindeslager gute Kundschafter? … Nein, Genossen, Eure Ausbildung genügt nicht, in gewisser Hinsicht habt Ihr noch nicht einmal die Aufgaben der Vorbereitung richtig erfasst …“

Bedeutet dies denn, dass der entscheidende Kampf auf Jahrzehnte oder auch nur auf viele Jahre hinausgeschoben wird? Nichts derartiges! Einen Angriff im Kriege kann man manchmal in zwei, drei Wochen oder noch weniger Zeit vorbereiten. Zerstreute Divisionen, mit schwankender Stimmung, mit einem unstabilen Kommando- und Kommissar-Apparat können bei genügend intensiver Vorarbeit in zehn bis fünfzehn Tagen in eine mächtige Armee umgewandelt werden, die im Bewusstsein und Willen fest zusammengekittet ist. Es ist unvergleichlich schwieriger, die proletarischen Massen zum entscheidenden Kampf zusammenzuschließen. Aber diese Arbeit wird durch unsere ganze Epoche außerordentlich erleichtert, – unter der Bedingung, dass wir nicht nach rechts ablenken und nach links stolpern werden. Ob die Vorarbeit bloß einige Monate oder gar ein Jahr oder zwei und noch mehr erfordern wird, darüber sich den Kopf zu zerbrechen, wäre unklug. Das hängt von vielen Bedingungen ab. Aber unzweifelhaft ist, dass in der jetzigen Situation eine der Hauptbedingungen für den Anbruch der Revolution und ihre siegreiche Vollendung unsere Vorarbeit zu ihr ist. An die Massen! – ruft die Kommunistische Internationale allen ihren Parteien zu. Erfasst sie tiefer und weiter! Knüpft zwischen Euch und ihnen ein unlösbares Band! Verteilt die Kommunisten auf die verantwortlichsten und gefährlichsten Posten in der ganzen Masse der Arbeiterklasse! Mögen sie das Vertrauen der Massen gewinnen. Möge die Masse zusammen mit ihnen aus ihren Reihen die opportunistischen Führer entfernen, die schwankenden Führer und die streberischen Führer. Nützt jeden Augenblick für die Vorbereitung zur Revolution aus. Die Zeit arbeitet für uns. Fürchtet nicht, dass die Revolution Euch zwischen den Fingern zerrinnen wird. Organisiert Euch, befestigt Euch, – und dann wird die Stunde schlagen, die zur Stunde der wirklich entscheidenden Offensive werden wird, und dann wird die Partei nicht nur „Vorwärts!“ kommandieren, sondern auch den Angriff führen bis zum siegreichen Ende!

Quelle: Sozialistische Klassiker… vom 11. Januar 2017

[i] Der frühere Vorsitzende der Zentrale der VKPD., Paul Levi, ist mit einer Kritik der Taktik der Partei in den Märztagen hervorgetreten. Aber er verlieh seiner Kritik einen völlig unzulässigen, desorganisatorischen Charakter und brachte der Sache nicht Nutzen, sondern Schaden. Der innere Kampf führte zum Ausschluss Levis aus der Partei und zur Bestätigung des Ausschlusses durch den Kongress der Internationale.

[ii] Im Original steht irrtümlich „Deutschland“, im englischen Text steht „France“. [Anm. Herausgeber]

[iii] Aus den Artikeln des Genossen Curt Geyer über den 3. Kongress, die ich während der Drucklegung dieser Schrift erhalte, ersehe ich, dass dieser Vertreter der Opposition nicht nur zum Zentrismus hinab rutscht, sondern sich selbst dessen bewusst ist. Er geht davon aus, dass der 3. Kongress eine neue historische Perspektive eröffnet und dadurch seine Taktik in eine geringere Abhängigkeit von der Erwartung der Revolution in der nächsten Zeit gebracht hat. Daraus zieht Geyer den Schluss, dass die taktischen Meinungsverschiedenheiten zwischen der III. Internationale und den Zentristen …an Schärfe verlieren. Eine solche Schlussfolgerung ist geradezu ungeheuerlich! Die III. Internationale ist eine Kampfesorganisation, die durch alle veränderten Verhältnisse hindurch zum revolutionären Ziele fortschreitet. Die 2½ Internationale will die Revolution nicht. Sie ist aufgebaut auf die entsprechende Auswahl von Führern und Halbführern, Gruppierungen und Tendenzen, Gedankengängen und Methoden.

Zur selben Zeit, wo Curt Geyer eine Milderung der Meinungsverschiedenheiten zwischen den Kommunisten und Unabhängigen konstatiert, konstatieren die Unabhängigen – mit viel mehr Recht – eine Milderung der Meinungsverschiedenheiten zwischen ihnen und den Sozialdemokraten. Würde man daraus alle Konsequenzen ziehen, so würde man dadurch zum Programm der Wiederherstellung der alten Sozialdemokratie gelangen, wie sie bis zum August 1914 bestand, mit allen sich daraus ergebenen Folgen. Lehnen wir auch das dogmatische Sicheinrichten auf die Revolution in den nächsten Wochen oder Monaten ab, – aus dem praktisch die putschistischen Tendenzen entspringen, – so bleiben wir noch in unserem Kampfe mit dem Putschismus unserer Grundaufgabe treu: der Schaffung einer revolutionären, aktiven, intransigenten Kommunistischen Partei, die allen reformistischen und zentristischen Gruppierungen im Proletariat entgegenarbeitet. Curt Geyer schiebt die Revolution dogmatisch in unbestimmte Ferne hinaus und zieht daraus Schlüsse im Sinne einer Annäherung an die Zentristen. Man hat allen Grund zu befürchten, dass diese „Perspektive“ Geyer und seine Gesinnungsgenossen viel weiter führen wird, als sie jetzt selber glauben.

[iv] Ein Spaßvogel „erwiderte“ mir auf dem Kongress in dem Sinne, dass man die Arbeiterklasse nicht wie eine Armee kommandieren könne. Eben! Aber ich bewies, dass man nicht einmal die Rote Armee so kommandieren kann, wie manche Politiker die Arbeiterklasse zu kommandieren suchten.

Tags: , , , , ,