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Logistik: Was die Welt zusammenhält

Eingereicht on 6. September 2021 – 16:12

Die Beschäftigten in der Logistikindustrie haben eine enorme Verhandlungsmacht: Wenn sie streiken, steht die Weltwirtschaft still. Zumindest theoretisch. Im Interview erklärt die Soziologin Katy Fox-Hodess, woran es hakt. Interview mit Katy Fox-Hodess geführt von Alexander Brentler und Fabian Vugrin.

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Ist es überhaupt noch sinnvoll, von der Logistik als einem separaten Sektor neben der Produktion zu sprechen?

Früher fanden mehr Schritte eines Produktionsprozesses an ein und demselben Ort statt. Heute sind diese Etappen der Produktion in einem viel größeren Ausmaß über verschiedene Räume verteilt. Und jedes Mal, wenn der Prozess von einem Ort zum anderen wechselt, ergibt sich daraus eine Aufgabe für die Logistikindustrie. Wenn wir in der Vergangenheit über Arbeiterinnen und Arbeiter in der Logistik sprachen, dachten wir an Transportarbeiter, die fertige Güter zu den Märkten bringen. Heute müssen wir auch die Bewegungen innerhalb des Produktionsprozesses bedenken.

Welche Rolle spielt dabei die Just-in-Time-Produktion?

Die Just-in-Time-Produktion ist ein wichtiger Aspekt der sogenannten logistischen Revolution, also des Aufstiegs der Logistik zu einem zentralen Bestandteil kapitalistischer Akkumulationsstrategien. Diese Revolution hat vor allem seit den 1970er Jahren stattgefunden. Früher meinte Logistik nur Militärlogistik. Aber in der Nachkriegszeit zog der Sektor zunehmend das Interesse der Wirtschaft auf sich. Das berühmteste Beispiel für diese Verlagerung vom Militär hin zur Wirtschaft ist der Container. Die Verwendung von Containern wurde während des Zweiten Weltkriegs von der u.s. Army erfunden.

Woher kam das plötzliche Interesse der Wirtschaft für die Logistik?

In den 1970er Jahren gab es eine weltweite Rezession, verbunden mit niedrigeren Rentabilitätsraten von Unternehmen im Globalen Norden. Um ihre Profite zu erhöhen, machten die Firmen Kosteneinsparungen durch die Auslagerung der Produktion in den Globalen Süden, wobei sie die schwächeren Arbeitsrechte und niedrigeren Lohnkosten ausnutzten. Ein weiterer Faktor war das Wachstum der Verbrauchermärkte im Globalen Süden – die Entwicklungsländer verzeichneten damals einen Anstieg des Lebensstandards und des Konsums.

Beide Faktoren führten zu einer Zunahme der Komplexität globaler Lieferketten. Für das Kapital bedeutete das zunächst Kosteneinsparungen und Zugang zu neuen Märkten – aber damit auch logistische Herausforderungen sowie eine erhöhte Anfälligkeit für Störungen.

Wie veränderte das die Geschäftsstrategien der Unternehmen?

Viele Unternehmen gingen von der sogenannten »Push-Production« zur »Pull-Production« über. Bei der »Push-Production« drängen die Unternehmen den Verbraucherinnen durch Prognosen und Marketing ihre Waren auf – effektiv sagen die Firmen den Menschen, was sie kaufen wollen. Ab den 1970er Jahren hingegen nutzten Unternehmen vermehrt neue Technologien wie Barcodes, um schnell auf die Nachfrage der Verbraucher zu reagieren.

Diese Strategie wurde zu einer wichtigen neuen Grundlage für Wettbewerbsvorteile und steht in engem Zusammenhang mit dem Aufkommen der Just-in-Time-Produktion. Die Unternehmen sind bestrebt, ihre Produkte ständig in Bewegung zu halten, sodass diese so wenig Zeit wie möglich in Regalen liegen. Denn Zeit im Regal oder im Lager ist aus Sicht der Just-in-Time-Produktion verlorenes Geld. Stattdessen streben Unternehmen sogenannte »seamless flows« an, also ein möglichst nahtloses Übergehen der Waren aus den Händen der Produzentinnen in die Hände der Verbraucher.

All diese Entwicklungen bedurften einer globalen Logistikindustrie, die den Transport von Waren in verschiedenen Produktionsstadien so schnell und reibungslos wie möglich abwickelt. Nachdem eine Reihe von Unternehmen diese Strategien – Just-in-Time-Produktion, Pull-Production, Outsourcing und so weiter – übernommen hatte, kam es zu einem Dominoeffekt: Die Konkurrenz zwang immer mehr Firmen dazu, diesem Beispiel zu folgen.

Die gewerkschaftliche Organisierung in der Logistikindustrie wird von vielen als eine verpasste Chance der Linken angesehen. Angeblich könnten diese Arbeiterinnen und Arbeiter eine Menge Druck auf das System ausüben. Stimmt das?

Die Betonung sollte darauf liegen, dass Arbeiterinnen und Arbeiter in der Logistik potenziell eine Menge strukturelle Macht haben. Aber es braucht immer noch viel Organisierung, um reelle Macht daraus zu machen. Diese Macht ergibt sich aus der Art und Weise, wie die Logistikbranche beschaffen ist: Sie bildet ein Netzwerk globaler Lieferketten mit vereinzelten – aber dafür sehr hohen – Konzentrationen von Infrastruktur, die in Arbeitskämpfen als Angriffspunkte dienen können. Dabei denken wir typischerweise an Mega-Häfen oder große Distributionszentren – aber es gibt auch andere mögliche wunde Punkte in der Logistikindustrie.

Diese Arbeiterinnen und Arbeiter spie len also eine zentrale Rolle in der globalen Wirtschaft und bei der Akkumulation von Kapital und ihnen stehen strategische Angriffspunkte zur Verfügung. Das sind beides notwendige, aber noch keine hinreichenden Bedingungen für einen erfolgreichen Arbeitskampf.

Was hindert die Logistikarbeiterinnen daran, sich erfolgreich zu organisieren?

Erstens spielen gesetzliche Faktoren wie das Arbeitsrecht eine Rolle. Zweitens werden Gewerkschaften oft von Staaten, Unternehmen oder außerstaatlichen Akteuren an ihrer Arbeit gehindert. Und drittens kommt es auf den Grad an politischer und sozialer Stabilität in den jeweiligen Ländern an – der Staat und seine Wirtschafts-, Infrastruktur- und Arbeitsmarktpolitik sind also absolut zentral.

Das gilt für die gesamte Logistikbranche, aber insbesondere für die Häfen. Diese sind für das globale Kapital strategisch enorm wichtig. Ob die Häfen in öffentlichem oder privatem Besitz sind, hat einen großen Einfluss darauf, wie die Arbeiterinnen und Arbeiter in Konflikten Druck ausüben können. Und auch in der Bahnindustrie spielt die Frage von öffentlichem oder privatem Eigentum eine große Rolle. Die immense strategische Macht von Eisenbahnerinnen oder Hafenarbeitern ist für sie aber sowohl ein Vorteil als auch ein Nachteil. Denn je größer die potenzielle Macht der Logistikarbeiterinnen ist, die Wirtschaft durch Streiks zu stören, desto wahrscheinlicher ist es, dass der Staat effektive kollektive Aktionen zu unterbinden versuchen wird. Viele Staaten gehen dabei sehr repressiv vor.

Ein Beispiel für staatliches Handeln mit dem Ziel, die strukturelle Macht von Logistikarbeiterinnen zu untergraben, ist die Deregulierung der Straßentransportindustrie in den usa. Die LKW-Fahrer waren dort früher stark gewerkschaftlich organisiert und hatten auch deutlich bessere Arbeitsbedingungen als heute. Es war eine einzige staatliche Entscheidung zur Deregulierung dieses Sektors, welche innerhalb kürzester Zeit dazu führte, dass die meisten LKW-Fahrer zu unabhängigen Auftragnehmern ohne die Rechte der klassischen Lohnarbeiter wurden.

Gibt es Beispiele für erfolgreiche Mobilisierungen oder Bündnisse zwischen Logistikarbeiterinnen und der Linken?

In den letzten zehn Jahren gab es unter anderem in Chile Hafenarbeiterkämpfe, die gute Beispiele für die Integration in die größere Arbeiterbewegung darstellen. Vor der Pinochet-Diktatur war die chilenische Gewerkschaftsbewegung eine der stärksten in Lateinamerika – das Land hatte einen sehr hohen gewerkschaftlichen Organisationsgrad sowie eine militante, politisch aktive Gewerkschaftsbewegung. Doch während der Diktatur wurden tiefgreifende Reformen des Arbeitsrechts durchgeführt. Neben der Ermordung, Inhaftierung und dem »Verschwinden« von Hunderten von Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern kam es auch zu einem Systemwechsel auf dem Arbeitsmarkt: Sektorale Tarifverhandlungen – wie sie in Nordeuropa üblich sind – wurden durch Gewerkschaften auf Ebene der einzelnen Unternehmen ersetzt. Das führt dazu, dass innerhalb ein und derselben Firma mehrere Gewerkschaften um Mitglieder konkurrieren.

Wie hat sich das auf das Machtverhältnis zwischen den Tarifparteien ausgewirkt?

Die Macht der Gewerkschaften nahm rapide ab. Und das galt für die Hafenarbeiter genauso wie für jede andere Gruppe von Beschäftigten in Chile. Jeder Hafen hatte mehr als eine Gewerkschaft – es war ein System der totalen Atomisierung und Fragmentierung. Nichtsdestotrotz waren die chilenischen Hafenarbeiter in den letzten zehn Jahren bemerkenswert erfolgreich. Sie verstanden, dass die Fragmentierung der Gewerkschaften zu ihrem Nachteil war – also begannen sie, sich gemeinsam zu organisieren: zunächst auf Ebene der einzelnen Häfen, dann auf regionaler Ebene und schließlich auf nationaler Ebene in einer Organisation namens Unión Portuaria de Chile (UPCH). Dabei handelt es sich allerdings nicht um eine gesetzlich anerkannte Gewerkschaft, sondern um einen Zusammenschluss von Gewerkschaften. Diese Art der Organisierung mündete in landesweiten Streiks in den Jahren 2013 und 2014.

Sie führten in beiden Jahren fast einmonatige Streiks durch – und das während der Exportsaison von Obst und Gemüse. Sie konzentrierten sich auf die Häfen, die eine besonders wichtige Rolle in der Exportwirtschaft des Landes spielen, beispielsweise den Hafen von Angamos in Mejillones, der für das wertvollste Exportgut des Landes zuständig ist: Kupfer. In Bezug auf ihre Forderungen gingen die Arbeiter ebenfalls sehr strategisch vor. Die Führung der Gewerkschaft war sich darüber im Klaren, dass der größte und bedeutendste Sieg auf lange Sicht nicht einfach darin bestand, mehr Geld rauszuholen, sondern darin, die Arbeitgeber zur Verhandlung mit der uphc zu zwingen – mit dem Staat als Vermittler.

Und so haben es die chilenischen Hafenarbeiter mit ihren Streiks geschafft, zum ersten Mal seit der Diktatur wieder einen Präzedenzfall für – gesetzlich nicht vorgesehene – dreigliedrige Tarifverhandlungen auf Branchenebene zu schaffen.

Wie ist ihnen das gelungen?

Ein Teil ihres Erfolgs lag in den engen Verbindungen zu wichtigen Akteuren der chilenischen Linken. Das hat es für den Staat schwieriger gemacht, die Gewerkschaften zu unterdrücken, und gab ihren Forderungen mehr Nachdruck. Denn eines der Probleme von Streiks in der Logistikindustrie ist, dass die Bevölkerung die Auswirkungen direkt spürt. Staaten und Arbeitgeber nutzen das, um die Streikenden zu dämonisieren. Dagegen hilft es, wenn die Streikbewegung sozialen Rückhalt in der Bevölkerung hat.

Außerdem sind die chilenischen Hafenarbeiter stark im International Dockworkers Council (IDC) engagiert – einer internationalen Organisation von Hafenarbeitern. Das idc drohte in einem Schlüsselmoment des Konflikts mit einer Blockade für Schiffe aus Chile. Das war sehr effektiv. Die Streikenden haben damit nicht nur für sich selbst wichtige Errungenschaften erzielt, sondern ganz neue Maßstäbe für alle chilenischen Arbeiterinnen und Arbeiter gesetzt.

Eine der wichtigsten Lektionen aus der chilenischen Erfahrung ist: Einheit. Weil die Produktion heute derart vernetzt ist, müssen sich Logistikarbeiterinnen über ihren eigenen Standort hinaus und international organisieren. Eine weitere Lektion besteht darin, sich nicht allein auf die strukturelle Macht zu verlassen. Nur Allianzen mit anderen sozialen Bewegungen und politischen Akteuren sichern der Streikbewegung den nötigen Rückhalt in der Bevölkerung.

Ist das so zu verstehen, dass das globale Netzwerk der Logistik lokale Störungen in der Regel gut wegstecken kann und es schon eines systemweiten Schocks bedarf, um es ernsthaft zu erschüttern?

Ganz genau. Das war der Grund, aus dem sich die chilenischen Hafenarbeiter landesweit organisieren mussten. Hätten nur die Arbeiter eines einzigen Hafens gestreikt, dann wären die Schiffe einfach zu einem anderen nahegelegenen Hafen umgeleitet worden – und die Verhandlungsmacht wäre dahin gewesen. Nationale Einheit und internationale Verbindungen sind in der Logistikindustrie so wichtig wie in keinem anderen Sektor.

Glaubst Du, Logistikarbeiterinnen könnten auch im Zentrum des Kampfes für die Dekommodifizierung von Logistikzweigen und ihre Übernahme in die öffentliche Hand stehen?

Ja, und ich denke, Großbritannien ist dafür ein großartiges Beispiel. Die National Union of Rail, Maritime and Transport Workers (RMT), die wichtigste Eisenbahnergewerkschaft des Landes, ist eine sehr linke und militante Organisation. Sie führt seit Jahren eine Kampagne für die Renationalisierung des britischen Eisenbahnsystems. Und auch in Griechenland kämpften die Hafenarbeiter gegen die von der Troika vorgeschriebenen Privatisierungen der Häfen im Zuge der Eurokrise – wenn auch leider erfolglos.

Wie groß schätzt Du das Potenzial ein, dass von Arbeitskämpfen in der Logistik Impulse für eine breitere politische Arbeiterbewegung ausgehen?

Das Potenzial ist definitiv vorhanden. Besonders in dem Bereich, den ich untersuche, also in den Häfen. Einige der historisch bedeutendsten Generalstreiks begannen in Häfen: der Londoner Hafenstreik von 1889, der Generalstreik in San Francisco von 1934 und viele weitere. All diese Streiks gaben der Arbeiterbewegung großen Auftrieb. Der Schlüssel ist dabei die Zusammenarbeit zwischen Gewerkschafterinnen und politischen Aktivisten. Doch dazu müssen Opportunismus und Symbolpolitik auf beiden Seiten überwunden werden. Gibt es eine tief verwurzelte Politisierung und sinnvolle Verständigung zwischen Aktivistinnen und Gewerkschaftern, dann besteht die Möglichkeit, Streiks in diesen strategischen Sektoren zu nutzen, um einen breiteren politischen Wandel zu bewirken.

Ich komme ursprünglich aus Berkeley in Kalifornien. Neben Berkeley liegt die Hafenstadt Oakland, die eine lange Geschichte von Radikalisierungen in der lokalen Gewerkschaft hat – der International Longshore and Warehouse Union (ilwu). Sie war eine der am stärksten linksgerichteten Gewerkschaften in den usa und ihre Geschichte reicht bis in die 1930er Jahre zurück. Die ilwu, aber auch linke Hafenarbeiter in Europa, beteiligten sich am Kampf gegen die Apartheid in Südafrika, am Protest gegen die Kriege in Vietnam und Algerien, an der Unterstützung der Bürgerrechtsbewegung in den usa und der Kampagne für Solidarität mit der Linken in Chile. Londoner Hafenarbeiter weigerten sich beispielsweise, Waffen zu verschiffen, die nach der Russischen Revolution zur Zerschlagung der Roten Armee im Bürgerkrieg eingesetzt werden sollten.

In den letzten Jahrzehnten haben die Hafenarbeiter in Oakland Aktionen zur Unterstützung von Black Lives Matter und der Occupy-Bewegung sowie für die Befreiung Palästinas durchgeführt und gegen die Kriege in Afghanistan und im Irak protestiert. Auch in Europa gibt es großartige Beispiele dafür, dass sich Hafenarbeiter gegen Waffenlieferungen an Saudi-Arabien und den Krieg im Jemen stellten. Es gibt also eine lange und anregende Geschichte der Rolle von Hafenarbeitern in der Arbeiterbewegung.

Gibt es auch Beispiele dafür, dass sich Logistikarbeiterinnen von der Gegenseite haben vereinnahmen lassen?

In der Tat gibt es einige beunruhigende Beispiele für Entwicklungen in die entgegengesetzte Richtung. Beispielsweise die LKW-Fahrer in Chile, die Anfang der 1970er – wahrscheinlich mit finanzieller Unterstützung durch die cia – ihre Arbeit aus Protest gegen die linke Regierung von Salvador Allende niederlegten und mit der einhergehenden künstlichen Warenverknappung den Putsch begünstigten. Ein weiteres Beispiel ist die – ebenfalls von der cia unterstützte – französische Gewerkschaft Force ouvrière (fo). Mit ihrer Hilfe wurde in der Nachkriegszeit die Macht der von der linken Confédération générale du travail (cgt) organisierten Hafenarbeiter in Marseille und anderen Teilen des Landes untergraben, die gegen den französischen Imperialismus mobilisierten.

Es ist also nicht so, dass gewerkschaftlich aktive Arbeiterinnen und Arbeiter automatisch links politisiert werden. Aber wie die erstaunlichen positiven Beispiele aus dem 20. und 21. Jahrhundert zeigen, gibt es ein enormes Potenzial für eine sozialistische Mobilisierung. Wir sollten diese Geschichte als Inspiration nehmen, von ihr lernen und auf sie aufbauen.

#Bild: Bahnarbeiter in Kolkata, Indien. IMAGO / NurPhoto.

Quelle: jacobin.de… vom 6. September 2021

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