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Italien: Die faschistische Bedrohung erhebt wieder ihr Haupt

Eingereicht on 2. November 2021 – 10:39

Am 9. Oktober demonstrierten Zehntausende in Rom gegen den Impfzwang des so genannten Grünen Passes. Am Ende der Kundgebung zertrümmerte eine Gruppe von Faschisten das Büro des Allgemeinen Italienischen Gewerkschaftsbundes (CGIL). Zusammen mit den beiden anderen grossen Gewerkschaftsverbänden organisierte der CGIL in der darauffolgenden Woche, am Samstag, den 16. Oktober, eine Massendemonstration auf der Piazza San Giovanni in Rom unter dem Motto «Schluss mit dem Faschismus: für Demokratie und Arbeit».

Alexis Vassiley von Red Flag sprach mit der italienischen Gewerkschafterin Eliana Como, einer Gewerkschaftsaktivistin des Metallgewerkschaftsbundes FIOM, einer Mitgliedsorganisation der CGIL, und der nationalen Sprecherin von Riconquistiamotutto (Wir erobern alles zurück), einer kämpferischen Strömung innerhalb der CGIL.

Beginnen wir mit der antifaschistischen Demonstration. Die Leute kamen mit Bussen und Zügen aus ganz Italien?

Sehr viele Züge und Busse. Es waren ungeheuer viele Menschen da – etwa 150.000 bis 200.000. Der Platz war überfüllt. Viele Busse wurden angehalten, bevor sie in Rom ankamen – die Polizei führte Kontrollen durch –, so dass die Demonstration fast beendet war, als sie ankamen. Neben der landesweiten Demonstration gab es in den Tagen nach der rechtsextremen Kundgebung Demonstrationen in ganz Italien. Der Samstag war der Tag des faschistischen Angriffs. Am Sonntag, dem nächsten Tag, gab es eine Manifestation zur Verteidigung vor der CGIL in Rom. Ausserdem wurde beschlossen, alle regionalen CGIL-Büros an diesem Sonntag zu öffnen und zu bewachen.

Das war eine starke Antwort – geeint und antifaschistisch. Schön, denn die Faschisten wollten uns Angst machen, und wir haben gezeigt, dass wir keine Angst haben. Aber jetzt müssen die Gewerkschaften mehr tun. Sie müssen kämpferischer werden und sich stärker gegen die Regierung stellen, denn alle sozialen Probleme – Rentenkürzungen, Entlassungen, tiefe Löhne – bestehen weiterhin. Stattdessen sind die grossen italienischen Gewerkschaften sehr sozialpartnerschaftlich, sehr gemässigt. Der Samstag war also eine ausgezeichnete Antwort, aber wir müssen mehr tun. Die Gewerkschaften müssen mehr auf die Probleme der Lohnabhängigen eingehen, sonst wird die Rechte diesen Raum besetzen.

Einige Leute sagen, wir sollten die extreme Rechte ignorieren und sie wird verschwinden.

Ich denke, das ist falsch. Man muss darauf reagieren. Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts, als der Faschismus auf dem Vormarsch war, griffen sie jahrelang Gewerkschaftshäuser an. Schon damals gab es Leute, die sagten, das sei nichts, die Faschisten seien nur ein paar Leute. Es hat sich herausgestellt, dass diese «wenigen» Leute die Macht übernommen haben, und das führte zu zwanzig Jahren Diktatur. Angesichts unserer Geschichte können wir nicht so tun, als ob der Faschismus kein Grund zur Sorge wäre.

Wie hat sich die Pandemie auf Italien ausgewirkt?

In Bergamo [120.000 Einwohner], wo ich wohne, sind in weniger als zwei Monaten 6.000 Menschen gestorben. Es gibt ein Foto von Armee-LKWs voller Leichen, das sich verbreitet hat. In kleinen Städten in der Nähe von Bergamo starben im März/April 2020 mehr Menschen durch COVID-19 als im Ersten und Zweiten Weltkrieg zusammen. Die Regierung der Lombardei [die Region, in der Bergamo liegt] beschloss, noch infizierte Patienten aus Krankenhäusern in Pflegeheime zu verlegen. Das war die erste Welle. Seitdem wurde das ganze Land in mehreren Wellen von COVID-19 heimgesucht. Seit Beginn der Pandemie sind in Italien mehr als 100.000 Menschen gestorben. Wir haben sehr gelitten. Das ist kriminell.

Zu Beginn der Pandemie gab es eine Koalitionsregierung zwischen der Mitte-Links-Partei der Demokraten und der «populistischen» Fünf-Sterne-Bewegung. Im Februar brach die Regierung zusammen und wurde durch eine von Mario Draghi geführte Regierung ersetzt. Wie haben sich die verschiedenen rechtsextremen Parlamentsparteien – die Lega und die Fratelli d’Italia – positioniert?

Die Lega und die Fratelli haben eine verächtliche Haltung gegenüber den Covild-Sicherheitsmassnahmen. Von Anfang an nutzten die Rechten die Massnahmen der Regierung auf völlig opportunistische Weise. Die Regierung stürzte nach Protesten gegen die Schliessungen. Die Rechte nutzte die soziale Not der Mittelschicht – Gastronomen, Ladenbesitzer –, die ihre Geschäfte nicht schliessen wollten.

Im [nördlichen] Sommer gingen die Fälle etwas zurück, so dass sie zu sagen begannen, dass man keine Masken mehr brauche, dass die Nachtclubs wieder öffnen sollten, obwohl Menschen starben. Im Herbst kam es zu einem weiteren Anstieg der Fälle. Als die Impfkampagne begann, und sie begann sehr spät, war sie zunächst sehr unorganisiert – die Medien begannen, Unsicherheit über die Sicherheit der Impfstoffe zu verbreiten, insbesondere denjenigen von AstraZeneca. In allen Zeitungen, im Radio und im Fernsehen wurde den Befürchtungen bezüglich des Impfstoffs viel Platz eingeräumt.

In Italien ist das Vertrauen in das öffentliche Gesundheitssystem sehr gering, so dass es ein Leichtes war, Unsicherheit zu verbreiten, vor allem unter den Impfverweigerern: nicht Menschen, die vehement gegen die Impfung waren, sondern solche, die viele widersprüchliche Informationen über die Wirksamkeit des Impfstoffs und insbesondere über die Nebenwirkungen erhalten hatten. Verstärkt wurde dies durch die «No-Vax»-Leute, die Rechtsextremen, die sich an die Spitze der Bewegung stellten. Sie schürten das Misstrauen vieler Menschen, die nicht unbedingt der Rechten angehörten, aber aus tausend und einem Grund dem Impfstoff nicht trauten.

Ab dem 15. Oktober wurde dann der Grüne Pass auf alle Lohnabhängigen ausgeweitet. Um zur Arbeit zu gehen, muss man geimpft sein oder sich alle zwei Tage einem (teuren) Test unterziehen. Die Einführung des Grünen Passes nur für Lohnabhängige und nicht für die übrige Bevölkerung führte zu Klassenungleichheiten. Das hat am Arbeitsplatz einen Krieg zwischen Geimpften und Ungeimpften ausgelöst. Die Regierung sollte die Impfung einfach für alle zur Pflicht machen.

Die Einführung des Grünen Passes half den Rechten. Sie haben diese Widersprüche ausgenutzt, und sie sind gewachsen. Die Rechten machten opportunistisch die Gewerkschaften für den Grünen Pass verantwortlich, weil die Gewerkschaften nicht dagegen waren. In Wirklichkeit wollten sie die Gewerkschaften unter Druck setzen und eine Spaltung am Arbeitsplatz herbeiführen, bei der es nicht um die Frage Arbeiter gegen Chef geht, sondern um die Frage Vax und No Vax. Die ganze Schuld an COVID-19 wird dann denjenigen zugeschoben, die sich nicht impfen lassen. Ich bin ein strikter Befürworter von Impfungen – es ist grundsätzlich unverantwortlich, sich nicht impfen zu lassen. Aber die 6.000 Menschen, die in meiner Stadt gestorben sind – das lag nicht an den Menschen, die sich nicht impfen liessen, sondern an den Politikern und den Bossen, die den Betrieb aufrechterhalten wollten.

Ich glaube, dass der Grüne Pass eine Taktik der Regierung ist, um die gesamte öffentliche Diskussion auf das Thema Impfungen zu lenken. Dann diskutieren wir nicht über andere Themen.

Wer waren die Leute, die gegen den Grünen Pass protestiert haben?

Die Demos gegen den Grünen Pass sind ziemlich gross und bestehen aus vielen normalen Menschen und Lohnabhängigen, einschliesslich Gewerkschaftern. Es sind nicht nur die Rechten. Die Rechten nutzen diese Proteste und führen sie an. Es ist ja nicht so, dass jeder auf der Piazza ein Faschist ist.

Wie viele Menschen haben tatsächlich die Büros der CGIL angegriffen? Was hat die Polizei getan?

Etwa 100 Leute. Faschisten. Echte Faschisten. Am Ende der Demonstration verkündeten sie der Menge auf der Piazza: «Jetzt gehen wir und greifen das CGIL-Gebäude an». Das haben sie tatsächlich offen gesagt. Kann man sich vorstellen, dass das Ding andersherum gelaufen wäre? Wenn die entlassenen Arbeiter gesagt hätten: «Lasst uns gehen und die Gebäude der Arbeitgeberverbände angreifen?» Dann wären sie sofort verhaftet worden. Aber die Faschisten wurden von der Polizei in Ruhe gelassen, um von der Piazza zum kilometerweit entfernten CGIL-Gebäude zu ziehen. Selbst vor dem CGIL-Gebäude wurden sie von der Polizei nicht aufgehalten. Also gingen sie hinein, zerstörten alles, warfen Bücher, Computer und so weiter auf den Boden. Ganze Bibliotheken mit Büchern wurden auf den Boden geworfen. Sie zerstörten ein ganz besonderes Gemälde, das der CGIL in den 1960er Jahren geschenkt worden war. Es war entsetzlich.

Warum haben sie die CGIL angegriffen?

Für die Faschisten ist es bequem, zu sagen, dass der Grüne Pass die Schuld der Gewerkschaft ist. Aber ich denke, dass die wahren Gründe keine Rolle spielen. Sie wollten die Gewerkschaft angreifen, eine Spaltung unter den Lohnabhängigen herbeiführen, was für die Unternehmen und die Regierung nur nützlich ist. Auf diese Weise streiten die Lohnabhängigen untereinander im Rahmen der  vax und no vax Bewegung und tun nicht das, was sie tun sollten, nämlich für bessere Renten, Löhne, gegen Entlassungen und so weiter kämpfen. Dies ist also eine tödliche Falle. Und die Rechte benutzt sie gegen die Gewerkschaftsbewegung. Es ist nicht die CGIL, die den Grünen Pass wollte. Die Regierung wollte ihn. Die Unternehmen wollten ihn, damit sie ihre Produktion ohne Unterbrechungen aufrechterhalten können.

Und die Faschisten hassen die Gewerkschaften und die Linken …

Vor allem die Gewerkschaften. Gerade im 20.  Jahrhundert, als der Faschismus in Italien die Macht übernahm, richtete sich die erste Gewalt gegen die Gewerkschaften, gegen die Vorgängerorganisation der CGIL. Die Geschichte wiederholt sich. Wir fordern, die CGIL fordert, dass die faschistischen Organisationen aufgelöst werden, dass sie als illegal deklariert werden. Denn unsere Verfassung und unser Gesetz verbieten sie. Offen faschistische Organisationen, neofaschistische Organisationen, dürfen nicht existieren. Aber es gibt sie.

Gruppen wie Forza Nuova (Neue Kraft), Casa Pound?

Ja.

Aber Fratelli d’Italia ist auch faschistisch?

Ja, technisch gesehen sind sie das. Aber sie sind nicht offen faschistisch. Bei den nächsten Wahlen könnten sie in die Regierung kommen. Sie liegen derzeit bei 20 Prozent. Ihre Arbeitsweise ist eher institutionell. Dennoch entstammen sie derselben faschistischen, rassistischen, sexistischen und gewerkschaftsfeindlichen Kultur. Das eigentliche Problem sind also die Fratelli d’Italia. Aber sie sind nicht ausserhalb des Gesetzes, sie sind eine institutionelle Partei.

Wie sieht die Situation für die Lohnabhängigen in Italien heute aus?

Das ist von Sektor zu Sektor unterschiedlich. Einige arbeiten mehr. Andere befinden sich in einer absoluten Krise. Das ist sehr unterschiedlich. In einigen Sektoren gibt es haufenweise Entlassungen. Insgesamt fliesst der Grossteil der öffentlichen Mittel, insbesondere nach der Krise im Gesundheitswesen, nicht in Krankenhäuser, Schulen oder in den Sozialstaat, sondern in die Wirtschaft. Die Lohnabhängigen befinden sich in einer sozialen Notlage. Die Sicherheit ist ein grosses Problem. Viele Unternehmen halten sich nicht an die Sicherheitsstandards. Im Januar wurde das Renteneintrittsalter auf 67einhalb Jahre erhöht. Das ist sehr hoch. Wie kann man bis zu diesem Alter in einer Fabrik arbeiten?! Und die Draghi-Regierung vertritt das Grosskapital, die Finanzwelt und ganz sicher nicht die Lohnabhängigen.

Was glaubst Du, warum die Fratelli d’Italia in den Umfragen gestiegen sind?

Zum Teil, weil sie die einzige Partei ist, die nicht an der Regierung ist. Sie ist also die einzige, die die Entscheidungen der Regierung kritisieren kann. Die Linke und die Gewerkschaften müssen sich der Regierung ernsthaft und von links entgegenstellen. Andernfalls kommt die einzige Opposition gegen die Regierung von der Rechten.

#Titelbild: Rechte Demonstranten vor dem Büro des Allgemeinen Italienischen Gewerkschaftsbundes

Quelle: redflag.au… vom 2. November 2021; Übersetzung durch Redaktion maulwuerfe.ch

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