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Schweiz: Die «Pflegeinitiative» und die Leisetreterei der Gewerkschaften

Eingereicht on 13. November 2021 – 8:53

Die Schweiz ist in allen sozial-politischen Bereichen geprägt von den neoliberalen Verwüstungen der vergangenen 40 Jahre. Gerade der Pflege- und Gesundheitsbereich wurde marktkonform umgestaltet und in weiten Bereichen privatisiert. Als besonders folgenschwer für die breite Bevölkerung, vor allem die wirtschaftlich schwächeren Gruppen, erweisen sich einerseits die weitgehende Finanzierung der Krankenversicherungen über Kopfprämien, andererseits die sogenannte Fallkostenpauschale (DRG) und die neue Spitalfinanzierung. Diese Gegenreformen allein genügen, um die Last der vergleichsmässig guten Gesundheitsversorgung dem Pflegepersonal beziehungsweise der breiten Bevölkerung aufzubürden. Daran verändert auch die Pflegeinitiative nur wenig. (Red.)

Benoit Blanc. Die Initiant:innen verteidigen die eidgenössische Volksinitiative «Für eine starke Pflege (Pflegeinitiative)», über die am 28. November 2021 abgestimmt wird, indem sie den Zusammenhang zwischen einer ausreichenden Anzahl von qualifiziertem Personal, guten Arbeitsbedingungen und der Qualität der Pflege hervorheben. Sie weisen auch darauf hin, dass derzeit ein sehr hoher Anteil an professionellen Krankenpfleger:innen den Beruf nach nur wenigen Jahren Praxis aufgibt, weil sie von den Arbeitsbedingungen in den Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen erschöpft sind.

All dies ist unbestreitbar und seit langem sowohl durch die Erfahrung von Fachleuten als auch durch wissenschaftliche Studien belegt. Das reicht aus, um für ein entschlossenes Ja zu dieser Initiative einzustehen. Auch wenn die Schweizerische Vereinigung der Pflegefachfrauen und -männer (SBK), die die Initiative lanciert hat, diese grundlegenden Fragen aus einem eher engstirnigen, sozialpartnerschaftlichen Blickwinkel betrachtet, und insbesondere den unverzichtbaren Beitrag der Pflegefachpersonen ausser Acht lässt, die über kein Pflegediplom verfügen.

Die Initiative wirft aber darüber hinaus auch weitere wichtige Fragen für die Gesundheitspolitik und die Sozialpolitik im Allgemeinen auf.

Weg mit den Fallpauschalen!

Es stellt sich unweigerlich die Frage, warum die Arbeitsbedingungen im Gesundheitswesen so schlecht sind, dass sie für viele der dort arbeitenden Personen eine Quelle des Leidens darstellen.

Die Arbeitsbedingungen von Pflegekräften sind schon lange unerträglich. Aber die Situation hat sich in den letzten Jahren deutlich noch verschlechtert. Hauptgrund dafür ist allerdings nicht die Covid-19-Pandemie, auch wenn diese die Überlastung in einigen Krankenhausabteilungen verschärft hat.

Die Ursache für diese Entwicklung liegt in der neuen Spitalfinanzierung, die 2012 für die somatische Akutversorgung in Kraft trat, später auf die psychiatrische Versorgung ausgeweitet wurde und 2022 nun für die Rehabilitationsversorgung in Kraft treten wird.

Diese Finanzierung, die vom Parlament angenommen und leider nicht durch ein Referendum angefochten wurde, basiert auf dem System der DRGs (Diagnosis Related Groups = Fallpauschalen[1]), die pseudo-fixen Preisen für die verschiedenen Arten von Krankenhausbehandlungen entsprechen. Damit wird ein zunehmender finanzieller Druck auf die Spitäler ausgeübt, der sie dazu zwingen soll, in finanzieller Hinsicht immer «effizienter» zu werden, d. h. ihre Leistungen zu immer geringeren Kosten zu erbringen. Das Modell, das den Spitälern vorgegeben wird, ist jenes der industriellen Produktion, z. B. von Autos: Die DRGs sollen sie dazu zwingen, ihre Pflege-«Prozesse» zu überdenken, um ihre «Produktionsstückkosten» zu senken, z. B. wie viel es «kostet», eine Patientin zu versorgen, die eine Bypass-Operation der Herzkranzgefässe benötigt.

Es liegt auf der Hand, dass die «Anpassungsvariable» für die Spitäler, die in diese Dynamik eingebunden sind, das Personal ist, und zwar in erster Linie das Pflegepersonal. Einerseits durch direkten Druck auf die Lohnsumme – sei es durch die Begrenzung des Lohnniveaus oder durch die Ersetzung von Mitarbeiter:innen mit Hochschulabschluss durch Mitarbeiter:innen mit weniger anerkannten Ausbildungsabschlüssen. Andererseits wird durch die Erhöhung der Arbeitsbelastung, die Flexibilisierung der auferlegten Arbeitszeiten, die Aufsplitterung der verschiedenen Aufgaben, die weitestgehende Reduzierung der für nicht abrechenbare Arbeitsschritte zur Verfügung stehenden Zeit… und die Erhöhung der Verwaltungszeit für die Dokumentation abrechenbarer Handlungen ins Unermessliche der Arbeitsdruck immer grösser. Kurz gesagt, es wird eine Situation geschaffen, die von den Pflegenden zu Recht als unerträglich bezeichnet wird.[2]

Das zweite ausdrückliche Ziel der neuen Spitalfinanzierung – die angebliche Angleichung der Wettbewerbsbedingungen zwischen öffentlichen und privaten Unternehmen in Bezug auf den «Marktzugang» und die Finanzierung – verstärkt diesen Effekt noch. Der private Sektor wird offen dazu ermutigt, seine Präsenz im Spitalsektor zu erhöhen, denn dies sei «effizienter». Er tut dies, indem er das Angebot an planbaren, nicht komplexen Eingriffen, wie z. B. orthopädischen Eingriffen, erhöht, und den Rest, insbesondere die komplexe Versorgung älterer Menschen, den öffentlichen Allgemeinspitälern überlässt. Jüngste Gerichtsentscheide zur Spitalplanung in den Kantonen Genf und Neuenburg haben bestätigt, dass das Spitalfinanzierungsgesetz gut geeignet ist, den Privatsektor in seinen Expansionsbestrebungen zu unterstützen. Die automatische Folge davon ist, dass die finanzielle Belastung der öffentlichen Spitäler zunimmt, wofür letztlich die Pflegekräfte und weitere Spitalangestellte wie Ärzt:innen, Hotellerie und der involvierten Subunternehmen z.B. aus Reinigung, Labors usw., zusammen mit den Patient:innen aufkommen. Zu erwähnen ist noch, dass mit dieser neuen Spitalfinanzierung die Kantone nicht mehr für die Defizite der öffentlichen Spitäler aufkommen.

Somit drängt sich als Schlussfolgerung auf: Ein konsequenter Kampf für menschenwürdige Arbeitsbedingungen in Spitälern, die für eine qualitativ hochwertige Versorgung unerlässlich sind, muss auch einen Kampf gegen das derzeitige DRG-Modell der Spitalfinanzierung beinhalten. Die Gewerkschaften, insbesondere die Gewerkschaften der Pflegekräfte, sollten sich dies zum Ziel setzen. Aber nicht nur sie. Noch als Staatsrat prangerte Pierre-Yves Maillard die negativen Auswirkungen der neuen Spitalfinanzierung an, die er als Vorsteher des Gesundheitsdepartements des Kantons Waadt direkt beobachtete. Als Präsident des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes (SGB) sollte er noch besser verstehen, wie wichtig es ist, dagegen anzukämpfen. Leider haben die Gewerkschaften seinerzeit weder die Einführung der Fallkostenpauschale noch die neue Spitalfinanzierung wirklich bekämpft.

Für eine sozialere Finanzierung

Das finanzielle Argument gegen die Forderung einer Aufwertung der Pflege ist, dass die Gesundheitsversorgung zu teuer ist. Der SBK macht das Spiel mit, und argumentiert, ganz wie üblich für die Organisationen der Lohnabhängigen, dass Investitionen in die Pflege Geld sparen würden. Dies überzeugt jedoch kaum. Es ist besser, die Dinge beim Namen zu nennen:

  • Erstens: Das eigentliche Problem bei den Gesundheitsausgaben ist nicht die Höhe der Ausgaben[3], sondern deren Finanzierung. Es ist das System der Kopfprämien, das die Krankenkassenprämien für einen grossen Teil der Bevölkerung untragbar macht; die Finanzierung nach dem AHV-Modell mit einkommensproportionalen Beiträgen würde dieses Problem lösen. Wenn dazu noch die grossen Vermögen in die Finanzierung einbezogen würden, bestünde noch mehr Freiraum für eine einigermassen egalitäre materielle Weiterentwicklung der Gesundheitsversorgung.
  • Zweitens ist es sinnvoll, mehr in das Pflegepersonal zu investieren; das könnte einer Mehrheit der Bevölkerung durchaus einleuchten. Denn dadurch wird der Zugang und die Qualitätssicherung in einem für alle wesentlichen Bereich sichergestellt. Machen wir einen Vergleich: Jedes Jahr werden Milliarden für die militärische Landesverteidigung ausgegeben. Für die Befürworter der Armee ist dies die notwendige Versicherungsprämie, um die Sicherheit und Unabhängigkeit der Schweiz zu gewährleisten.[4] Doch seit Jahrzehnten (um nicht weiter zurückzugehen) wird die Prämie pünktlich bezahlt, ohne dass die Armee je eine gesellschaftlich nützliche Aufgabe erfüllt hätte. Die Forderung nach der Abschaffung der Armee ist nur schon daher legitim. Ganz anders für Investitionen in die Pflege: Diese schaffen die Voraussetzungen für eine unmittelbare Verbesserung der Qualität der Pflege. Und es ist eine Versicherungspolice für den Fall, wenn beispielsweise eine Pandemie das Gesundheitssystem durchrüttelt. Die Erfahrungen der letzten zwei Jahre zeigen, dass es für das Personal und die Gesellschaft insgesamt teurer ist, Krankenhäuser wie Fabriken zu konzipieren, die zu möglichst niedrigen Kosten und just-in-time produzieren müssen.

Kollektive Festlegung angemessener Arbeitsbedingungen

Mit ihren Übergangsbestimmungen betritt die Initiative auch einen Bereich, der bisher zu sehr vernachlässigt wurde: die kollektive Festlegung angemessener Arbeitsbedingungen für die Gewährleistung einer «ausreichenden und qualitativ hochwertigen Pflege» (Art. 117c). Die Initiative verlangt von Bund und Kantonen einerseits den Erlass von Bestimmungen für eine «angemessene Entlöhnung des Pflegepersonals» (Bst. b) und andererseits «den Anforderungen der in der Pflege tätigen Personen entsprechende Arbeitsbedingungen» (Bst. c). Diese Bestimmung bezieht sich insbesondere auf die Idee, Quoten von Pflegepersonal pro Patient:in oder pro Krankenhausbett festzulegen.

Mit anderen Worten: Die Initiative vertritt zu Recht den Gedanken, dass die Festlegung der Arbeitsbedingungen (Gehälter, Personalausstattung und damit auch der Arbeitszeiten) nicht den Unternehmen oder den sogenannten Marktmechanismen (was auf dasselbe hinausläuft) überlassen werden sollte, sondern von der Gesellschaft auf der Grundlage von Zielen vorgenommen werden sollte, die diese als vorrangig ansieht – in diesem Fall die Gewährleistung einer qualitativ hochwertigen Pflege.

Es erstaunt nicht, dass die Gegner:innen der Initiative sowie der in dieser Sache vom Sozialdemokraten Alain Berset geführte Bundesrat der Meinung sind, dass diese Forderung in der Verfassung nichts zu suchen hat. Für sie ist die Festlegung der Arbeitsbedingungen eine Angelegenheit der Unternehmer:innen und muss es auch bleiben.

Die Reaktion des SBK auf diesen Aufschrei war jedoch, diesen Aspekt der Initiative zugunsten einer konsensorientierten Aufwertung der Ausbildung zu dämpfen. Dies ist ein weit verbreiteter – aber dennoch fehlgeleiteter – Reflex in der Welt der Gewerkschaftsführungen. Vielmehr ist es genau die gegenteilige Dynamik, die die Gewerkschaften fördern sollten: Sie sollten diese Forderung und deren Popularität als Grundlage für die Ausweitung auf alle Tätigkeitsbereiche nutzen. Die Gesellschaft und die direkt betroffenen Lohnabhängigen sollen die Kontrolle darüber haben, was durch die Arbeit produziert wird, wie es produziert wird und unter welchen Bedingungen die Arbeit ausgeführt wird. Ein altes …. und aktuelles Programm.

Der Text wurde am 8. November 2021 auf alencontre.org publiziert. Deutsche Übersetzung und kleine Änderungen durch die Redaktion sozialismus.ch.

Endnoten

[1] Fallpauschalen: Seit dem Jahr 2012 ist eine neue Spitalfinanzierung in Kraft. Es handelt sich um eine Finanzierung auf Grundlage des Systems der DRG (diagnosis related groups). Dieses erstmals Anfang der 1980er Jahre in den USA eingeführte System beruht auf dem Prinzip, dass man zur Erzwingung von mehr Effizienz der Spitäler globale Pseudopreise (Pauschalen) für jede typische Spitalbehandlung fixieren muss (z.B. die Behandlung einer Blinddarmentzündung), anstatt die gelieferten Leistungen zu finanzieren (Übernachtungen, Mahlzeiten, Benutzung des Operationssaals, Honorare der Ärztinnen und Ärzte, Medikamente usw.). Zu diesem Zweck werden alle in Spitälern durchgeführten Behandlungen in Gruppen – die DRG – eingeteilt, die aus Finanzsicht relativ homogen sein sollen (mehr als 1000 DRG/Fallpauschalen in der Schweiz). Die Höhe der Rückerstattung jeder dieser Gruppen basiert auf den Durchschnittskosten der Behandlung dieser Gruppe. Wenn also die effektiven Kosten einer spezifischen Behandlung höher sind als der fixierte rückerstattete Betrag, dann macht das Spital einen Verlust. Umgekehrt bringt dem Spital eine Behandlung mit geringeren Kosten einen Gewinn.

[2] Auch wenn der rechtliche Rahmen unterschiedlich ist, wirken im Bereich der häuslichen Pflege und der Unterbringung älterer Menschen in einem Alters- und Pflegeheim ähnliche Mechanismen, die die Ausgaben einschränken, und die Expansion des Privatsektors begünstigen, mit den gleichen Auswirkungen auf das Personal, insbesondere das Pflegepersonal.

[3] Natürlich werden im Gesundheitssektor riesige Geschäfte gemacht, die zur Aufblähung der Ausgaben beitragen. Der Skandal um Impfstoffpatente ist eines der jüngsten Beispiele. Die derzeitige Politik des «Kampfes gegen den Anstieg der Gesundheitskosten» hat nichts mit dieser Realität zu tun, sondern zielt im Gegenteil ausdrücklich darauf ab, den Spielraum des privaten Kapitals im Gesundheitswesen zu vergrössern, das keine Skrupel hat, in diesem Bereich Geschäfte zu machen (es ist geradezu seine Berufung!).

[4] Es sind auch andere Interessen mit der Existenz der Armee verbunden, von der Aufrechterhaltung der Ordnung bis hin zu den sehr einträglichen Geschäften, die sie einigen bietet. Offiziell wird ihre Existenz jedoch mit der militärischen Landesverteidigung begründet.

Quelle: sozialismus.ch… vom 13. November 2021

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