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Europäische Union: Bilanz und Perspektiven einer imperialistischen Union

Eingereicht on 10. Juni 2024 – 15:19

Internationale Trotzkistische Opposition & Liga für die Fünfte Internationale. Die Europäische Union entstand aus einer konzertierten Aktion der imperialistischen Staaten des alten Kontinents, die durch den Fall der Berliner Mauer angetrieben wurde, mit dem Ziel, an der neuen Aufteilung des Weltmarktes teilzunehmen.

Der Zusammenbruch der UdSSR und des Warschauer Paktes forcierte die kapitalistische Wiedervereinigung Deutschlands. Der französische Imperialismus akzeptierte die Wiedervereinigung im Gegenzug für die Integration des deutschen Imperialismus in einen neuen kontinentalen Pakt. Die Europäische Union ist aus dem deutsch-französischen Pakt entstanden. Ihre schrittweise Erweiterung hat dieses ursprüngliche Gravitationszentrum nicht ersetzt, sondern seine Widersprüche noch verschärft. Die aktuelle Weltlage verschärft die Krise der EU von allen Seiten.

DER ANGRIFF AUF DIE SOZIALEN ERRUNGENSCHAFTEN DES EUROPÄISCHEN PROLETARIATS

Die soziale Auswirkung der imperialistischen Union bestand in der konzertierten Durchführung einer arbeiter:innenfeindlichen Politik im Inland: Unsicherheit der Arbeitsplätze, Abbau von Lohnindexierungsmechanismen, Privatisierung von Dienstleistungen, Angriff auf Sozialleistungen. Die Senkung der Steuern auf Reichtum und Gewinne im Rahmen der weltweiten kapitalistischen Globalisierung hat das Wachstum der öffentlichen Verschuldung zugunsten des Finanzkapitals begleitet. Die Begleichung der öffentlichen Schulden und der damit verbundenen Zinsen führte dazu, dass die verschiedenen Nationalstaaten ihre Sozialausgaben in den Bereichen Gesundheit, Bildung, öffentliche Wohlfahrt und Sozialschutz gekürzt haben. Die europäischen Pakte zur Fiskalpolitik – vom Vertrag von Maastricht (1992) über den Fiskalpakt (2012) bis hin zum neuen Stabilitätspakt (2023) – basierten auf der vereinbarten Umsetzung dieser Politik.

Alle bürgerlichen Regierungen, gleich welcher politischen Couleur, angefangen bei den Regierungen der imperialistischen Länder, haben eine arbeiter:innenfeindliche Politik betrieben. Mitte-Links- oder sozialdemokratische Regierungen bildeten mehrfach die Führung (Blair in Großbritannien im Jahrzehnt 1997-2007, Schröder in Deutschland zwischen 1998 und 2005, die lange Mitte-Links-Legislatur in Italien von 1996 bis 2001).

Die europäische Arbeiter:innenklasse hat für die sozialen Kosten dieser Politik schwer bezahlt. Ihre sozialen Errungenschaften sind überall unter Beschuss geraten. Die Ungleichheiten bei Einkommen und Beschäftigung haben sich zwischen den Ländern und innerhalb der Mitgliedsstaaten insgesamt vergrößert. Traditionell unterentwickelte Regionen blieben weiterhin am Rande oder befinden sich in einem verschlimmerten Zustand (Teile Ostdeutschlands, Süditaliens, Andalusiens, der Bretagne). Länder in Randlage wie Griechenland haben eine tiefgreifende wirtschaftliche und soziale Verwerfung erfahren, um die Auslandsschulden bei deutschen, französischen und italienischen Banken zu begleichen. Im größten Teil Osteuropas, der schrittweise in die EU integriert wurde, tat sich nach einer massiven Zerstörung der Industrie und der sozialen Sicherheit in allen Ländern eine Kluft zwischen einem entwickelteren Norden und Westen (Tschechische Republik, in geringerem Maße Polen, Slowenien und die baltischen Länder) und einem Osten und Süden, der auf eine Reserve von Niedriglohnarbeiter:innen reduziert wurde.

Der eigentliche „Erfolg“ der Europäischen Union hat sich letztlich gegen die Lohnabhängigen und die arme Bevölkerung des Kontinents gerichtet.

DIE KRISE DER ANMBITIONEN DER EU

Dies ist der einzige „Erfolg“ der EU. Die Ambitionen des europäischen Imperialismus sahen sich nämlich schon sehr bald mit einer widrigen internationalen Situation konfrontiert.

In den 1990er und frühen 2000er Jahren zwang die starke Wiederbelebung des US-imperialistischen Militarismus in einem unipolaren Kern, auch durch die Kontrolle der NATO, die europäischen Imperialismen entweder zu einer untergeordneten Ausrichtung (wie in Jugoslawien und Afghanistan) oder zu einer passiven Differenzierung (wie in Frankreich und Deutschland bei der Invasion des Irak). Im gleichen Zeitraum strebten Deutschland und Frankreich wiederum an, die EU mit der Lissabon-Agenda und der Einführung des Euro als potenzielle Alternative zum Dollar und mit engeren Verbindungen zu Russland (im Falle Deutschlands eine „strategische Partner:innenschaft“) als Weltmacht zu etablieren. Dies scheiterte jedoch an den inneren Verwerfungen innerhalb der EU und innerhalb der europäischen imperialistischen Bourgeoisien. Auch die Achse zwischen dem US-Imperialismus und dem britischen Imperialismus verschärfte diese inneren Widersprüche.

Die große kapitalistische Krise von 2008 versetzte der Union einen weiteren Schlag. Die doppelte kontinentale Rezession (2008-2011) und die Staatsschuldenkrise verschärften den Interessenkonflikt zwischen Deutschland und den Mittelmeerimperialismen (Frankreich, Italien, Spanien) um die Finanzpolitik. Vor allem aber haben das rasante Wachstum Chinas als imperialistische Macht nach 2008 und die neue globale Zentralität des zwischenimperialistischen Konflikts zwischen den USA und China das Gewicht der EU zunehmend marginalisiert. Die imperialistische Reifung von Putins Russland und seine Machtpolitik, die in der Invasion in der Ukraine (Februar 2022) gipfelte, haben schließlich seine Krise vertieft.

DIE HERAUSFORDERUNG DES NEUEN WELTKONTEXTES

Die Kombination aus russischem imperialistischem Druck, der Krise der Welthegemonie des US-Imperialismus und der globalen Konkurrenz mit den USA und China (und zwischen den USA und China) stellt die europäischen Imperialismen vor neue Herausforderungen von historischer Bedeutung: die Notwendigkeit, ihre eigenen militärischen Kräfte zu entwickeln, die zwar immer noch in die NATO integriert sind, aber in der Lage sind, eine neue, deutliche Präsenz auf den verschiedenen strategischen Schachbrettern zu zeigen; die Notwendigkeit, einen Investitionssprung in den ökologischen und digitalen Übergang zu machen, die Notwendigkeit, die Zentralisierung und Konzentration des Kapitals auf gesamteuropäischer Ebene zu fördern.

Aus diesem Grund drängen ein transnationaler Sektor der europäischen Großbourgeoisie und ihr politisches Personal (Mario Draghi) auf eine starke Beschleunigung der EU in Richtung des Fortschreitens ihres Integrationsprozesses. Den Anfang bildet der Vorschlag, die kontinentale Staatsverschuldung neu zu beleben.

Aber die gleiche globale Notlage, die die europäische Integration vorantreibt, vertieft die Widersprüche, die sie untergraben.

Diese Untergrabung des nationalen Eigeninteresses geht einher mit einer gewissen Gefahr neuer EU-Austritte nach dem Modell des Brexit für das Vereinigte Königreich. Andererseits ist der Brexit in mehrfacher Hinsicht ein negatives Beispiel. Für die Wirtschaft des Vereinigten Königreichs mit ihrer hohen Abhängigkeit vom Handel mit der EU und ihrer besonderen Beziehung zu Irland hat sich der Brexit als ein Weg zu weiterem Niedergang erwiesen. Auch für die Arbeiter:innenklasse bedeutete der Austritt aus der EU kein Ende der neoliberalen Angriffe, sondern war ein politisches Desaster (vier konservative Premierminister seit 2019 und Labour in den Händen einer stark prokapitalistischen Führung). Es zeigt, dass jede Art von bürgerlich geführter nationaler Alternative zur EU zu einer Beschleunigung der Angriffe führen wird, weil die wirtschaftlichen und politischen Schwierigkeiten, mit denen ein kleineres Kapital außerhalb der EU konfrontiert ist, ein noch härteres Regime der kapitalistischen Ausbeutung erforderlich machen werden.

Jeder nationale europäische Imperialismus pflegt seine eigenen Sonderinteressen. Der deutsche Imperialismus wehrt sich gegen jede neue europäische Verschuldung, indem er sich auf die Überlegenheit seines Staatshaushalts beruft: daher die Bereitstellung von 100 Milliarden für die deutschen Militärausgaben. Der französische Imperialismus, der vom Zusammenbruch seines Einflussgebiets in Afrika betroffen ist, fordert die Inanspruchnahme der kontinentalen Verschuldung im Interesse seiner Kriegsindustrie und seiner militärischen Hegemonie in Europa, in offener Konkurrenz zu Deutschland. Der italienische Imperialismus macht mit Frankreich gemeinsame Sache, indem er angesichts seiner Haushaltsschwierigkeiten den Rückgriff auf europäische Schulden fordert, agiert aber an der Seite des US-Imperialismus, um die Anerkennung seiner eigenen Rolle im Nahen Osten und in Afrika zum Nachteil des französischen Imperialismus zu erreichen.

Alle europäischen Imperialismen erhöhen ihre Militärbudgets durch die Teilnahme am weltweiten Wettrüsten. Aber die Hebelwirkung der nationalen Staatshaushalte, die in Bezug auf Umfang und Verschuldungsgrad sehr unterschiedlich sind, wirkt als ein Faktor für weitere Divergenzen in der EU. Andererseits hat der neue Stabilitäts- und Wachstumspakt auf deutschen Druck hin die Disziplin des öffentlichen Schuldenabbaus und der Obergrenzen für die Defizitausgaben in anderer Form beibehalten.

EUROPAS ABSTIEG IM GRIFF ZWISCHEN DEN USA UND CHINA

Die Kluft vergrößert sich nicht nur zwischen den nationalen Imperialismen innerhalb der EU, sondern auch zwischen der EU als Ganzes und den konkurrierenden Mächten USA und China. Andererseits wird durch die Ausweitung des Protektionismus, die mit dem Aufeinandertreffen der imperialistischen Pole verbunden ist, die traditionelle Stärke der EU als erster Exportpol angegriffen. Das Gesamtergebnis ist die Verschärfung der europäischen Krise.

Auch die Erweiterungspläne der Union sind mit lähmenden Widersprüchen konfrontiert. Einerseits legt der Druck des russischen Imperialismus die Suche nach einer Erweiterung der Union in Richtung der Ukraine und der Balkanländer nahe, die bereits Kandidatinnen sind und seit einiger Zeit warten (Serbien, Albanien, Bosnien und Herzegowina, Montenegro, Nordmazedonien). Andererseits stellt das Kriterium der Einstimmigkeit bei der Beschlussfassung ein Hindernis für eine weitere Erweiterung dar. Und das ist noch nicht alles. Auch in Georgien gibt es Anzeichen dafür, dass es nach der Ukraine zu einem Zankapfel zwischen der EU und Russland wird.

Schon die Integration der Ukraine stellt die EU vor Probleme mit enormen Kosten des Wiederaufbaus, den Auswirkungen auf die kontinentale Umverteilung der Agrarsubventionen und den riskanten militärischen Implikationen in der Konfrontation mit dem russischen Imperialismus. Der Wettlauf zwischen den nationalen europäischen Imperialismen um bilaterale Abkommen mit der Ukraine verdeckt nicht nur die Interessenunterschiede bei der künftigen Aufteilung des Wiederaufbaus, sondern auch die Lähmung der Perspektiven der EU.

„UNMÖGLICHE UND REAKTIONÄRE“ EUROPÄISCHE UNION: KRIEGSWIRTSCHAFT UND KRIEG GEGEN MIGRANT:INNEN

1915 erklärte Lenin, dass die europäische Einigung („Vereinigte Staaten von Europa“) aus kapitalistischen Gründen „entweder unmöglich oder reaktionär“ ist. Die Erfahrung der letzten 30 Jahre hat diese Wahrheit auf beiden Seiten bestätigt. Eine vollständige europäische föderale Union wird durch die divergierenden Interessen der historisch gefestigten imperialistischen Staaten verhindert. Gleichzeitig hat jeder Schritt der Union auf dem Gebiet der kapitalistischen Integration zu einem Angriff auf die Arbeiter:innenklasse, auf die unterdrückten Sektoren, auf ihre grundlegendsten Forderungen geführt. Die Union der europäischen Imperialismen hat in keiner Weise einen fortschrittlichen Charakter angenommen oder kann ihn annehmen.

Umso mehr fällt heute die gesamte Entwicklung der Weltbühne auf das europäische Proletariat und die unterdrückten Massen. Der sprunghafte Anstieg der Rüstungsinvestitionen in allen europäischen Ländern, der öffentliche Ruf nach Kriegswirtschaft, die Pläne zur Wiederaufnahme der Wehrpflicht in einigen Ländern, die Militäreinsätze im Nahen Osten (Rotes Meer) an der Seite des zionistischen Staates führen zu neuen Einschnitten bei den Sozialleistungen. Die Energiekrise und der protektionistische Wind werden begleitet von steigenden Preisen und einem neuen Schlag gegen die Löhne. Die Begleichung öffentlicher, staatlicher und/oder gesamteuropäischer Schulden in Verbindung mit der Krise der Staatshaushalte untergräbt ökologische Investitionen in die Energieumstellung. Die zunehmende Militarisierung der öffentlichen Meinung beeinträchtigt die demokratischen Rechte, angefangen bei der Kriminalisierung der antizionistischen Mobilisierung (insbesondere in Deutschland und Frankreich).

Kriegsbedingte Migrationen werden zum Anlass für neue fremdenfeindliche Kampagnen von Vertreibung an den Grenzen, Zwangsrückführungen und administrativen Inhaftierungen. Gleichzeitig wird die europäische Beteiligung am Wettlauf um die neuen Rohstoffe Afrikas mit der Bekämpfung der Einwanderungsströme von vornherein durch kriminelle Abkommen mit den betroffenen Regimen verbunden. Die „europäische Solidarität“, die an der internen Umverteilung der Migrant:innen scheitert, verwirklicht sich in deren Zurückweisung an der Grenze.

WAS BEI DEN EUROPAWAHLEN AM 9. JUNI AUF DEM SPIEL STEHT

Alle herrschenden Parteien des alten Kontinents unterstützen in unterschiedlicher Form diese grundlegende politische Dynamik auf nationaler und europäischer Ebene.

Was bei den bevorstehenden Europawahlen auf dem Spiel steht, ist das unsichere Gleichgewicht der Verwaltung der bürgerlichen Politik in den EU-Institutionen.

Die EVP (Fraktion der Konservativen), die S&D (sozialdemokratische und „sozialistische“ Parteien) , die Liberalen und die Grünen verwalten dank ihrer parlamentarischen Mehrheit die derzeitige Europäische Kommission. Diese „Große Koalition“ wird wahrscheinlich auch in einer zweiten Amtszeit von der Leyens an der Spitze der Europäischen Kommission fortbestehen, aber das Kräfteverhältnis wird sich nach rechts verschieben, wobei die Grünen und die Liberalen erhebliche Verluste hinnehmen müssen. Darüber hinaus wird die EVP versuchen, zumindest wichtige Teile der rechten europäischen „Konservativen und Reformer“ (EKR) zu integrieren, vor allem die Fratelli D’Italia (FdI). Einige Sektoren der EKR behalten sich die Möglichkeit vor, ihren eigenen Eintritt in die derzeit von von der Leyen geführte Mehrheit auszuhandeln. Die Eigenstaatlichkeit betonende extreme Rechte (Identität und Demokratie) beansprucht ihre Beteiligung an einer europäischen Mitte-Rechts-Regierung in Opposition zur europäischen Sozialdemokratie, kollidiert aber mit der derzeitigen Antipathie der EVP gegenüber der deutschen und französischen extremen Rechten.

In jedem Fall dominieren die Interessen des eigenen nationalen Imperialismus und innenpolitisches Kalkül die europäische Politik. Der politische Kampf zwischen den bürgerlichen Parteien in Europa bleibt überwiegend national. Andererseits fordert heute – anders als im letzten Jahrzehnt – keine größere politische Kraft in Europa, abgesehen von Teilen der souveränen extremen Rechten, einen Austritt aus der EU und/oder dem Euro. Dies ist ein indirekter Ausdruck der internationalen politischen Notlage.

DIE KRISE DES KONSENSES DER VORHERRSCHENDEN POLITIK

Gleichzeitig befindet sich der Kurs der herrschenden Politik in einer allgemeinen Konsenskrise. Mit Ausnahme der baltischen Länder und der Staaten an der russischen Grenze (Polen) ist es der Kampagne der herrschenden Kreise zugunsten der Kriegswirtschaft nicht gelungen, die öffentliche Meinung zu hegemonisieren. Die pazifistische Stimmung (manchmal „anti-ukrainisch“) einerseits und die wertvolle fortschrittliche Solidarität mit dem palästinensischen Volk andererseits – beide in der öffentlichen Meinung vorherrschend – verdeutlichen in unterschiedlichem Maße die Krise des außenpolitischen Konsenses in den imperialistischen Ländern der Union.

Bei der Umweltpolitik ist es nicht anders: Die Verschiebung oder Selbstbeschränkung der im Green Deal angekündigten Verpflichtungen unter dem Druck der „Arbeitgeber:innenverbände“ der Industrie und der Agrarindustrie; die Abwälzung der Lasten der angekündigten Maßnahmen zur Umstellung von Produktion und Energie auf die Schultern der Lohnabhängigen und Verbraucher:innen; die Kriterien für die Verteilung der Agrarsubventionen zugunsten der Großbetriebe haben zu weitreichendem Widerstand oder offener Opposition von großen Teilen der Bevölkerung auf beiden Seiten geführt.

Die tiefe Krise des Gesundheits- und Sozialversicherungssystems, die durch die demografische Krise und den sprunghaften Anstieg der Militärausgaben noch verschärft wird, sowie der inflationäre Druck auf die Löhne angesichts des abnormalen Gewinnwachstums nähren die Unzufriedenheit großer Teile der Massen.

Die Instabilität des politischen Gleichgewichts in Europa ist Ausdruck der Krise des Konsenses.

Mit der teilweisen Ausnahme Italiens stoßen alle großen imperialistischen Länder des alten Kontinents auf zunehmende innenpolitische Schwierigkeiten. Die deutsche Regierung wird durch die tiefe Krise der SPD und durch die inneren Widersprüche der „Ampel“-Mehrheit geschwächt. Die französische Regierung ist von der internen Krise der Macron-Partei (En Marche) betroffen und verfügt nicht mehr über eine stabile parlamentarische Mehrheit. Die spanische Regierung, die die vorgezogenen Wahlen überlebt hat, erlebt eine neue Konsenskrise angesichts der ungelösten katalanischen Frage. Die Regierung Großbritanniens befindet sich in einer historischen Krise der konservativen Partei, die sich bei der Bewältigung des Brexit-Desasters als unfähig und völlig uneinig erwiesen hat.

In mehreren Ländern ist das traditionelle Pendel des Wechsels durch politische Polarisierungsprozesse ins Wanken geraten oder destabilisiert worden.

POLITISCHE POLARISIERUNG UND REAKTIONÄRER SOUVERÄNISMUS

Der Aufstieg der souveränen Rechten und der extremen Rechten in mehreren europäischen Ländern ist Ausdruck der Krise auf dem alten Kontinent.

Der unterschiedlich deklinierte Souveränismus ist eine Ideologie, um deklassierte Sektoren des Klein- und Mittelbürgertums zu repräsentieren (wie im Fall der Traktorenbewegung), aber auch um die Hegemonie der Klein- und Mittelklasse über große Teile des Volkes und der Lohnarbeit in den Vorstädten und in den tiefen Provinzen aufzubauen. Es ist ein Versuch der Rechten, aus der gemeinsamen Krise des liberalen Establishments und der europäischen Arbeiter:innenbewegung Kapital zu schlagen. Anders als in der Vergangenheit verbindet die souveränistische Rechte in den imperialistischen Ländern die alte Rechnung des militaristischen und atlantischen Nationalismus mit der eines imperialistischen Europäismus, der „autonomer von den USA“ ist und im Dialog mit dem russischen Imperialismus steht.

Es ist die Forderung nach einem konföderalen Europa unabhängiger Staaten, als jüdisch-christliche Macht, als Feind von Migrant:innen und Muslim:innen. Ziel ist es, auf einer reaktionären Basis an die „antiamerikanische“ pazifistische Stimmung der europäischen Öffentlichkeit anzuknüpfen.

Der Wahlkonsens der Rechten in bedeutenden Sektoren der europäischen Industriearbeiter:innenklasse ist ein Maß für die Loslösung der alten Mitte-Links-Sozialblöcke unter dem Druck der kapitalistischen Krise.

Der Rechtsruck im rechten und sogar rechtsextremen Spektrum bei diesen wie auch bei vielen nationalen Wahlen stellt eine große Bedrohung für die europäische Arbeiter:innenklasse sowie für sozial und rassistisch unterdrückte Schichten dar, auch im Hinblick auf eine weitere Blockade der bereits sehr begrenzten ökologischen Maßnahmen, die notwendig sind, um die Klimakatastrophe aufzuhalten.

Diese Reaktionär:innen vertreten dies selbst auf widersprüchliche Weise auf europäischer Ebene, sowohl in ihren politischen Verlautbarungen als auch organisatorisch. Im scheidenden Parlament waren sie im Wesentlichen durch die ECR (Europäische Konservative und Reformisten) und die ID (Identität und Demokratie) vertreten. Auch wenn es keine klare Trennung zwischen ihnen und ständige Umgruppierungen zwischen ihnen gibt, repräsentieren diese Fraktionen zwei Pole der reaktionären EU-Politik. Der eine Pol, vertreten durch Marine Le Pens französische Partei Rassemblement National ((Nationaler Zusammenschluss) und die italienische Regierungspartei FdI, verbindet populistische Rhetorik, z.B. gegen die aktuelle EU-Migrationspolitik, mit der grundsätzlichen Bereitschaft, am kapitalistischen Mainstream-Projekt des EU-Kapitals mitzuwirken. Der andere Pol, derzeit repräsentiert durch die Alternative für Deutschland (AfD) und die Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ), fordert offener die Auflösung der EU in ihrer jetzigen Form und droht auch mit Brexit-ähnlichen Referenden für neue Austritte aus der EU. Während die AfD in Deutschland immer mehr Zulauf erhält, gibt es immer noch keine wichtige Fraktion des deutschen Kapitals, die die Perspektive eines von Deutschland geführten Bruchs der EU und eines Bündnisses mit Russland (wie es die „Denkfabriken“ der AfD offen propagieren) einnehmen würde.

DIE KRISE DER EUROPÄISCHEN ARBEITER:INNENBEWEGUNG: DIE VERANTWORTUNG DER GEWERKSCHAFTLICHEN BÜROKRATIEN

In den letzten Jahren hat die europäische Arbeiter:innenklasse sehr unterschiedliche Stadien der Kampfdynamik erlebt. In Frankreich fanden im letzten Jahrzehnt wiederholt Mobilisierungs- und Radikalisierungsprozesse statt. Italien hingegen ist nach wie vor durch einen lang anhaltenden und tiefgreifenden Rückzug der Arbeiter_innenklasse gekennzeichnet. Ein ähnlicher Rückzug hat das griechische Proletariat nach den traumatischen Erfahrungen mit der Syriza-Regierung erfasst.

Im vergangenen Jahr kam es in Großbritannien zu einem starken Wiederaufleben der Lohnkämpfe, was nach der historischen Niederlage, die sie durch die Thatcher-Regierung vor vierzig Jahren erlitten hatte, ein bedeutendes Erwachen darstellt, auch wenn die Gewerkschaftsbürokratie die Kontrolle über diese oft nur eintägigen Aktionen behielt und ihre Erfolge auf Abschlüsse unterhalb der Inflationsrate beschränkte. Kampfbewegungen auf dem Gebiet der Löhne haben auch in Frankreich und Deutschland stattgefunden, allerdings in geringerem Umfang.

Aber im Großen und Ganzen bleibt der Mobilisierungsgrad des europäischen Proletariats durch die Verantwortung seiner Führungen heute weit hinter den Erfordernissen und dem objektiven Umfang der Konfrontation zurück, sowohl auf gewerkschaftlicher wie auch auf der allgemeineren politischen Ebene.

Das Misstrauen und die Feindseligkeit gegenüber dem Militarismus sind immer noch überwiegend passiv. Die Palästina-Solidaritätsbewegungen, die von großer politischer Bedeutung sind, haben in Großbritannien massenhafte Ausmaße, in mehreren Ländern eine weit verbreitete Jugendbeteiligung und eine allgemeine Übereinstimmung mit der Mehrheitsmeinung der europäischen Öffentlichkeit erreicht; der Großteil der organisierten Arbeiter:innenbewegung ist jedoch immer noch abwesend. Die Umweltbewegung (Fridays For Future), die zwischen 2018 und 2021 in wichtigen Sektoren der europäischen Jugend einen starken Aufschwung erlebte, hat ebenfalls eine abnehmende Entwicklung erfahren, was auf das Fehlen eines Klassenbezugs zurückzuführen ist. Die wichtige demokratische Mobilisierung in Deutschland gegen die extreme Rechte in den ersten Monaten des Jahres 2024 wurde der SPD-geführten Regierung untergeordnet und damit eines großen Teils ihrer Energie und ihres Potenzials beraubt.

Die führenden Bürokratien der europäischen Arbeiter:innen- und Gewerkschaftsbewegung trugen und tragen bei all dem eine entscheidende Verantwortung, indem sie die Arbeiterklasse überall den Bedürfnissen ihrer eigenen Bourgeoisie unterordneten.

Umso mehr gibt es keine kontinentale Kampfplattform und keine militanten Aktionen auf europäischer Ebene. Selbst die Kritik des Europäischen Gewerkschaftsbundes (EGB) an dem neuen europäischen Stabilitätspakt beschränkt sich auf harmlose Verlautbarungen. Die Passivität im Bereich der Bekämpfung des Militarismus und die Nichtreaktion auf den Aufruf der palästinensischen Gewerkschaften zur Mobilisierung gegen Israel sind ein Maß für die tiefe Mitverantwortung der Gewerkschaftsbürokratien für die Politik des europäischen Imperialismus.

DIE EUROPÄISCHE LINKE ZWISCHEN REGIERUNGSORIENTIERTHEIT UND LAGERBINDUNG

Die kontinentale politische Linke wiederum zeigt ihre vollständige Unterordnung unter den neuen internationalen Rahmen.

Die europäische Sozialdemokratie hat in verschiedenen Formen imperialistische Politik mit Regierungsverantwortung betrieben bzw. tut dies weiterhin. Auf der Ebene der Europäischen Union geschieht dies im Bündnis mit der EVP und den Liberalen und Grünen auf einer pro-europäischen/atlantischen Linie. Beides erfolgt in den verschiedenen nationalen KontextenIn Deutschland führt die SPD die Regierung des deutschen Imperialismus im Moment seiner militaristischen Wende an. In Spanien steht die PSOE (Partido Socialista Obrero Espanol) an der Spitze der Regierung des spanischen Imperialismus und ordnet die Arbeiterbewegung diesem durch eine Politik der gewerkschaftlichen Konsultation unter. In Frankreich litt die SP unter den zerstörerischen Auswirkungen ihrer Rolle in der Regierung während des letzten Jahrzehnts bis zum Zusammenbruch ihrer Massenbindungen. In Italien wird der Raum der Sozialdemokratie seit den 1990er Jahren von einer liberal-bürgerlichen Formation besetzt, die aus der Asche der alten stalinistischen Partei entstanden ist und traditionell mit dem Establishment verbunden ist PDS (Partito Democratico della Sinistra), dann DS (Democratici di Sinistri = Linksdemokrat:innen), schließlich PD (Partito Democratico). In Großbritannien kandidiert die Labour-Partei für die Regierung mit einem neuen liberalen Blair’schen Anstrich, nachdem sie Corbyns kurzes „reformistisches“ Intermezzo archiviert hat.

Die Parteien der Europäischen Linken, die in den 1990er und 2000er Jahren ihren eigenen Raum links von der liberalen Sozialdemokratie suchten, sind Opfer ihrer eigenen Regierungsambitionen geworden. Die Rifondazione Comunista hat sich vor fast zwanzig Jahren mit ihrer Beteiligung an der Regierung von Romano Prodi (2006-2008) und dessen arbeiter:innenfeindlicher Politik selbst zerstört. Syriza hat die Forderung nach einem Durchbruch im Kampf gegen die Austerität während der Massenstreikwelle von 2012-2015 auf dem Altar der Sparregierung (2015-2019) geopfert und befindet sich nun in einer tiefen Krise und Entflechtung. Podemos hat den Konsens, der sich nach den Mobilisierungen der Indignados (Empörten) (2011) herausgebildet hatte, mit seiner fortgesetzten Beteiligung an den Regierungen des spanischen Imperialismus (seit 2019) weitgehend aufgelöst. In Deutschland stimmte Die Linke, obwohl in der Opposition, nach dem 7. Oktober für die pro-zionistische Politik der Regierung des deutschen Imperialismus und erlitt eine bedeutende Spaltung von der souveränistischen und populistischen Seite durch Sahra Wagenknechts Abspaltung BSW „für Vernunft und Gerechtigkeit“. Die französische NUPES (Nouvelle union populaire écologique et ecosociale = Neue ökologische und soziale Volksunion) hat sich im Zuge der „kritischen“ Ausrichtung der Kommunistischen Partei (PCF) auf Macrons Politik von Recht und Ordnung und seiner Republikanischen Front zur Verteidigung Israels aufgelöst. Mélenchons France Insoumise behält ihre eigene Version des „linken“ nationalistischen Populismus bei, die von den persönlichen Ambitionen ihres Führers dominiert wird. Jeremy Corbyn schließlich, der auf der Grundlage eines antiblairistischen Reformprogramms an die Spitze der britischen Labour-Partei (2015-2020) aufstieg, opferte den kämpferischen Konsens, den er erreicht hatte, der Einheit mit dem rechtsliberalen Flügel der Labour-Partei und wurde schließlich von diesem mit falschen Antisemitismusvorwürfen sabotiert und erlitt bei den Wahlen 2019 eine demütigende Niederlage.

Im Großen und Ganzen ist der Anspruch, eine neue linke Sozialdemokratie auf kontinentaler Ebene aufzubauen, unter der Last von Regierungsverschiebungen und/oder dem Druck des nationalen Imperialismus zusammengebrochen. Das ideologische Banner des „sozialen, demokratischen und friedlichen Europas“ war und ist nur der ideologische Deckmantel für diese Politik der faulen Kompromisse.

Ein anderer Teil der europäischen Linken, der zumeist stalinistischen Ursprungs ist, vertritt an ein anderes Lager gebundene kampistische Positionen und unterstützt den neuen russischen und chinesischen Imperialismus, der als „fortschrittliche“ Alternative zur NATO dargestellt wird. Diese Ausrichtung hat dazu geführt, dass die russische Invasion in der Ukraine unterstützt wird, entweder ausdrücklich und direkt oder in einer verkleideten Version des pazifistischen Typs. Das kampistische Spektrum ist vielfältig und weist auch intern sehr unterschiedliche Artikulationen auf. Sein extremer Flügel hat sich zum Rot-Braunismus entwickelt, in offener Synergie mit rechtsextremen souveränistischen Kreisen und reaktionären Positionen. Die so genannte „Anti-Imperialistische Plattform“ ist der wichtigste internationale Zusammenschluss der extremen Komponente des Kampismus. Dieser Zusammenschluss führte zur internen Spaltung innerhalb des internationalen stalinistischen Raums, mit der Entstehung des neuen Pols der „Europäischen Kommunistischen Aktion“ um die antikampistischen Positionen der griechischen KKE.

Der innere Zerfall der stalinistischen Bewegung ist eine Begleiterscheinung der neuen imperialistischen Polarisierung im Weltmaßstab. Und sie wirft einmal mehr die Notwendigkeit einer grundlegenden historischen Bilanz des Stalinismus auf.

Bei den Europawahlen präsentieren sich die Parteien der Sozialdemokratie als die besten Verfechter der europäischen kapitalistischen Vereinheitlichung, als Ärzte der kranken Europäischen Union, die den Neuen Kalten Krieg gegen Russland und China, die massive Aufrüstung, die Abschottung der Festung Europa und die neuen Anti-Einwanderungsgesetze unterstützen. Genau wie auf nationaler Ebene verfolgen sie auch auf europäischer Ebene eine Politik des Sozialchauvinismus und der Klassenkollaboration, die eng mit den Gewerkschaftsbürokratien abgestimmt ist, die die Interessen der Arbeiter:innenschaft für ein paar „soziale“ Brotkrumen vom Tisch der Europäischen Kommission verkaufen. Auch wenn die meisten dieser Parteien immer noch bürgerliche Arbeiterparteien mit organischen Verbindungen zur organisierten Arbeiterbewegung sind, unterstützen wir diese Parteien bei den Europawahlen generell nicht.

In einer Reihe von Ländern präsentieren sich die reformistischen europäischen Linksparteien als soziale, fortschrittliche, antimilitaristische und antirassistische Alternative zu den Regierungsparteien in der EU und ihren Staaten sowie zur Großen Koalition in der EU und der extremen Rechten. Wir unterstützen deren reformistische, ja linksbürgerliche Programme in keiner Weise. Aber wir erkennen die Tatsache an, dass in einer Reihe von Ländern die klassenbewussteren Arbeiter:innen, Gewerkschafter:innen und Aktivist:innen fortschrittlicher Bewegungen versuchen werden, ihren Willen zum Kampf gegen Ausbeutung, Rassismus, Militarismus und Imperialismus auszudrücken, indem sie für diese Parteien stimmen. Dort, wo sie einen bedeutenden Teil der Arbeiter:innenklasse repräsentieren und wo sie nicht in einem Wahlbündnis mit kleinen kleinbürgerlichen oder bürgerlichen Formationen stehen, unterstützen wir diese Parteien kritisch bei den Wahlen. Wir rufen diese Parteien, ihre Mitglieder und Wähler:innen auf, gemeinsam gegen die Angriffe ihrer nationalen Regierungen und der neuen Europäischen Kommission zu kämpfen und gleichzeitig deren reformistische Programme und Strategien offen zu kritisieren.

Nur in wenigen europäischen Ländern treten antikapitalistische Organisationen wie die NPA-R (Nouvelle Parti Anticapitaliste – Revolutionnaires) in Frankreich zu den Wahlen an. Wir rufen dazu auf, für diese Parteien zu stimmen, ohne Differenzen zu verbergen, und fordern sie auf, sich nicht nur an gemeinsamen Aktionen gegen die bevorstehenden Angriffe zu beteiligen, sondern auch eine organisierte Diskussion mit dem Ziel zu führen, politische Differenzen auf der Grundlage eines revolutionären Programms und des Kampfes für ein sozialistisches Europa zu überwinden.

DIE SOZIALISTISCHE PERSPEKTIVE, DIE EINZIGE WIRKLICHE ALTERNATIVE

Die sozialistische Perspektive ist die einzige historisch fortschrittliche Lösung für die europäische Krise. Im Gegensatz zum liberal-bürgerlichen Europäismus und zum reaktionären Souveränismus.

Nur die Arbeiter:innenklasse kann Europa auf einer fortschrittlichen Grundlage vereinigen. Im kapitalistischen und imperialistischen Rahmen ist der alte Kontinent zum Niedergang verurteilt und befindet sich im Griff der weltweiten Polarisierung zwischen alten und neuen imperialistischen Mächten. In diesem Rahmen kann keine der grundlegenden Forderungen der Arbeiter:innenklasse und der unterdrückten Massen erfüllt werden. Die kapitalistische Krise und der Zusammenbruch der UdSSR haben den historischen Raum für Reformen in Europa seit langem geschlossen. Alle Forderungen des Proletariats und der fortschrittlichen Bewegungen des alten Kontinents (sozial, ökologisch, geschlechtsspezifisch, antirassistisch, antimilitaristisch) machen einen antikapitalistischen Bruch notwendig. Dies ist die Perspektive einer Arbeiter:innenregierung, in jedem Land und auf europäischer Ebene. Das ist die Perspektive der Sozialistischen Vereinigten Staaten von Europa.

Dieser Slogan ist keine propagandistische Improvisation. Sie war die Losung der kommunistischen Bewegung in ihren revolutionären Jahren. Die Dritte Kommunistische Internationale hat sie 1923 nach der französischen Besetzung des Ruhrgebiets formell übernommen, gegen das Gift des imperialistischen Nationalismus. Der Stalinismus hat sie zusammen mit dem gesamten kommunistischen Programm gestrichen.

Heute verstärken der neue weltweite Kontext der zwischenimperialistischen Konfrontation, der Ausbruch des Krieges im Herzen Europas und das allgemeine Wettrüsten die Bedeutung dieser historischen Perspektive. Diese richtet sich gegen jede Art von Atlantizismus, imperialistischem Europäismus, nationalistischem Souveränismus, Kampismus.

Unsere Verteidigung der Ukraine gegen den Invasionskrieg des russischen Imperialismus erfolgt unter dem Gesichtspunkt der vollen Autonomie gegenüber allen Imperialismen. Zunächst einmal gegenüber dem Imperialismus im eigenen Land. Der US-amerikanische und der britische Imperialismus sowie die nationalen Imperialismen der EU nutzen den Krieg in der Ukraine, um die NATO-Erweiterung (in Europa und im Pazifik) voranzutreiben, ihr eigenes Wettrüsten zu beschleunigen und zu rechtfertigen (das unendlich viel größer ist als die „Hilfe“ für die Ukraine) und um sich auf künftige Kriege gegen rivalisierende Imperialismen vorzubereiten. Die Wirtschaftssanktionen gegen Russland selbst sind Teil dieses Rahmens. Gleichzeitig sehen der russische Imperialismus und sein reaktionäres Regime die Invasion in der Ukraine als Teil des Wiederaufbaus seines großrussischen Einflussgebiets in Europa selbst und der Wiederbelebung seiner Machtpolitik im Nahen Osten und in Afrika, heute im Bündnis mit dem chinesischen Imperialismus.

Die Arbeiter:innen der Europäischen Union und Russlands haben kein Interesse daran, sich auf der einen oder anderen Seite an der Aufteilung der Welt zwischen altem und neuem Imperialismus zu beteiligen. Im Gegenteil: Nur der Kampf gegen alle Imperialismen kann ihre eigenen unabhängigen Interessen sichern, angefangen bei ihrem eigenen Streben nach Frieden. Umso mehr müssen wir uns gegen die Entsendung von NATO-Truppen in die Ukraine wenden. Sollte der Krieg in der Ukraine zu einem direkten Krieg zwischen Russland und der NATO werden, wäre unsere Position revolutionärer Defätismus auf beiden Seiten.

„Wenn du Frieden willst, bereite dich auf die Revolution vor“, erklärte Karl Liebknecht. Die Perspektive der Arbeiter:innenregierung und der Sozialistischen Vereinigten Staaten von Europa bringt diese Position zum Ausdruck.

FÜR DIE SOZIALISTISCHEN VEREINIGTEN STAATEN VON EUROPA, VOM ATLANTIK BIS WLADIWOSTOK

Die Aussicht auf die Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa geht über die Grenzen der heutigen Union hinaus. Die politische Geographie des heutigen Europas ist das Ergebnis der von den bürgerlichen Mächten nach dem Fall der Berliner Mauer und der kapitalistischen Restauration in der UdSSR durchgeführten und ausgehandelten Zersetzungen und Neuzusammensetzungen. Der NATO-Imperialismus auf der einen Seite und der russische Imperialismus auf der anderen Seite spielen „ihre“ Proletarier:innen gemäß ihren jeweiligen imperialistischen Interessen und dem Wettrüsten gegeneinander aus. Die Proletarier:innen gegen ihre eigenen Imperialismen zu vereinen, bedeutet, für die Vereinigung Europas über seine derzeitigen Grenzen hinaus zu kämpfen: für ein vereintes Europa vom Atlantik bis Wladiwostok, für eine Europäische Sozialistische Föderation. Dies ist der einzige Rahmen, in dem es möglich sein wird, auf einer fortschrittlichen Basis die gleichen unzähligen großen und kleinen nationalen Fragen zu lösen, die die Balkanhalbinsel, Osteuropa und die Russische Föderation durchziehen. Diese Fragen können weder unter dem Kommando des EU-Imperialismus noch unter großrussischer Vorherrschaft gelöst werden.

In der EU selbst haben die alten Grenzen zwischen den wichtigsten Nationalstaaten keine fortschrittliche Funktion. Sie werden von den Interessen der verschiedenen Bourgeoisien aufrechterhalten, die sich der propagandistischen Rhetorik von Europa bedienen, wenn sie ihren Arbeiter:innen Opfer abverlangen oder Hilfen für ihre Banken aushandeln müssen, aber sie halten an ihren eigenen Nationalstaaten als Instrument der inneren Ordnung, als Geschäftsausschüsse und Verrechnungsstellen für ihre eigenen Interessenkonflikte, als Beschaffer von Aufträgen und Profiten auf dem Weltmarkt und als militärisches Instrument der Intervention oder der erzwungenen Rückkehr von Flüchtlingen fest.

Die bloße Beseitigung der alten künstlichen Grenzen und des Schmarotzertums der nationalen bürgerlichen Staaten würde an sich schon einen großen Sprung nach vorn in Bezug auf den sozialen Reichtum bedeuten, der allen europäischen Arbeiter:innen zur Verfügung steht. Eine demokratische Planung der europäischen Wirtschaft, die die Produktivkräfte des gesamten Kontinents zum Nutzen der Lohnabhängigen bündelt, wäre ein enormer Fortschritt. Atavistische territoriale Ungleichgewichte (von der süditalienischen Frage bis hin zum spanischen Süden) könnten im Rahmen eines großen kontinentalen Plans für Arbeit vollständig beseitigt werden. Die ungelösten und unlösbaren nationalen Fragen im Rahmen der EU und des kapitalistischen Europas (die irische Frage, die baskische Frage, die katalanische Frage usw.) könnten im Rahmen des europäischen sozialistischen föderalen Rahmens gelöst werden, mit dem vollen Selbstbestimmungsrecht jeder unterdrückten Nationalität, innerhalb des vereinigenden Rufs einer kontinentalen Gemeinschaft, die nicht mehr unterdrückend ist: eine Europäische Republik der Arbeiter:innenräte.

Das Europa der arbeitenden Männer und Frauen wäre wiederum ein Instrument der Unterstützung für die unterdrückten Arbeiter:innen und Völker der Welt gegen Kapitalismus und Imperialismus. Insbesondere die volle Unterstützung für das Selbstbestimmungsrecht des palästinensischen Volkes gegen den zionistischen Staat und des kurdischen Volkes gegen die Staaten, die es unterdrücken, wäre eine Botschaft der Befreiung an die unterdrückten Massen der gesamten arabischen Nation und des Nahen Ostens und eine starke Ermutigung für ihren Kampf.

Allein die Entwicklung des Kampfes für eine Arbeiter:innenregierung in Europa könnte der internationalen Arbeiter:innenbewegung in allen Breitengraden und auf allen Kontinenten einen starken Impuls geben.

FÜR EIN PROGRAMM DES VEREINIGENDEN KAMPFES: FÜR EINE ARBEITER:INNENREGIERUNG

Nur die sozialistische Perspektive der Arbeiter:innenregierung kann eine Plattform für den vereinigenden Kampf des Proletariats in jedem europäischen Land und auf kontinentaler Ebene freisetzen, die in der Lage ist, die fortschrittlichen Forderungen nach Emanzipation und Befreiung der unterdrückten Sektoren der Gesellschaft um sich zu vereinen.

Die politische Auseinandersetzung und der Klassenkampf nehmen natürlich von Land zu Land unterschiedliche Formen an. Die Formulierung der Kampfplattform kann diesen Grundsatz der Realität nicht außer Acht lassen. Der Inhalt des Klassenkampfes geht jedoch über die nationalen Grenzen hinaus, und das gilt heute umso mehr. Die Europäische Union hat die Bourgeoisie gegen die Arbeiter:innenschaft vereinigt. Es geht also darum, nun die Arbeiter:innenschaft gegen die europäische Bourgeoisie zu vereinen. Der Kampf in jedem Land für eine Arbeiter:innenregierung setzt einen Rahmen gemeinsamer und vereinigender Forderungen voraus.

  • Für die allgemeine Erhöhung der Löhne und die gleitende Skala der Löhne
  • Für die Aufhebung aller Gesetze der Arbeitsplatzunsicherheit: gleiche Arbeit, gleiche Rechte
  • Für die Abschaffung aller einwanderungsfeindlichen Gesetze; Öffnung der europäischen Grenzen für alle Flüchtlinge mit voller Anerkennung ihrer Staatsbürger:innenschaft, ihrer Sozialleistungen, ihrer Wohn- und Arbeitsrechte. 
  • Für die Aufteilung der Arbeit auf alle durch die gleitende Skala der Arbeitszeiten
  • Für einen großen Plan für neue Arbeitsplätze und öffentliche Investitionen in Umweltsanierung, Energieumwandlung, erneuerbare Energien, finanziert durch die progressive Besteuerung von Großkapital, Gewinnen, Mieten
  • Für einen Gesamtplan öffentlicher Investitionen in das Gesundheits- und Bildungswesen und die Sozialisierung der Binnenwirtschaft, finanziert durch den Erlass der Staatsschulden bei den Banken und deren Verstaatlichung ohne Entschädigung der Großaktionär:innen
  • Für die entschädigungslose Enteignung von Unternehmen, die Entlassungen vornehmen, die Umwelt verschmutzen und die Rechte der Gewerkschaften verletzen, und zwar unter der Kontrolle der Arbeiter:innen
  • Für die Enteignung großer kirchlicher Besitztümer (Banken, Finanzen, Immobilien), die Aufhebung aller kirchlichen Privilegien
  • Für die Aufhebung aller diskriminierenden Gesetze und Maßnahmen gegen Frauen und LGBTQIA+ Menschen
  • Nein zu allen Erhöhungen der Militärausgaben und Rüstungsanstrengungen. Keinen Cent für die bürgerlichen Armeen, Abschaffung der NATO und Abzug aller Truppen aus Auslandseinsätzen, Enteignung der Kriegsindustrie unter Arbeiter:innenkontrolle
  • Für die Verstaatlichung unter Kontrolle der Beschäftigten in der pharmazeutischen Industrie, der chemischen Industrie, der großen Lebensmittelindustrie, der großen landwirtschaftlichen Betriebe, des Großhandels
  • Für die Verstaatlichung unter der Kontrolle der Arbeitter:innen im Eisenbahn-, Luft-, Hafen- und Logistiksystem
  • für die Verstaatlichung der großen Monopole in allen strategischen Produktionssektoren, angefangen bei der Automobil- und Stahlindustrie, der Energiewirtschaft und der Telekommunikation

Diese Maßnahmen haben eine übergreifende Bedeutung: Sie stellen eine systemische Alternative zur Marktanarchie und zur kapitalistischen Konkurrenz und damit zur Zerstörung sozialer Rechte, zur Umweltzerstörung, zur Unterdrückung und zur Kriegsdynamik dar, die sie mit sich bringen. Sie weisen nicht auf eine „neue Wirtschaftspolitik“ hin, wie es in der alten reformistischen Rhetorik heißt, sondern auf eine andere Struktur der Wirtschaft, die auf der Befriedigung der Bedürfnisse der Gesellschaft nach einem Plan beruht, der demokratisch von den Arbeiter:innen festgelegt und von ihnen kontrolliert wird. Diese Maßnahmen bedeuten eine Alternative der Gesellschaft und der Macht.

Das Eintreten für dieses Programm geht in jedem Land von den elementaren Forderungen der Arbeiter:innenklasse und der unterdrückten Massen aus und muss immer in ihnen verankert sein. Gleichzeitig bildet es eine Brücke zwischen diesen Forderungen und der Notwendigkeit einer Arbeiter:innenregierung. Sie ist die einzige Regierung, die durch den Bruch mit dem Kapitalismus diese Forderungen vollständig verwirklichen und die Gesellschaft auf einer neuen Grundlage umgestalten kann. Der Kampf für eine Arbeiter:innenregierung, die sich auf ihre Organisation und Stärke stützt, steht überall im Mittelpunkt dieses Programm und findet darin seine natürliche und zentrale Krönung. Es ist auch das Leitprinzip der vollen Autonomie der Arbeiter:innenbewegung von jeder kapitalistischen Regierung.

FÜR EINE RADIKALE REAKTION AUF DIE REAKTION

Die Grundlage für dieses Kampfprogramm liegt nicht im subjektiven Bewusstsein der Arbeiter:innenklasse und der unterdrückten Massen, sondern im objektiven Zustand der Gesellschaft. Das subjektive Bewusstsein der breiten Massen hat einen mehr oder weniger tiefgreifenden Rückzug erlebt. Aber objektiv kann nur ein antikapitalistischer Bruch der Menschheit wieder einen Horizont des Fortschritts eröffnen. Es geht darum, diese Wahrheit zu nutzen, um sie im subjektiven Bewusstsein der Massen gegen den Strom schwimmend zu fördern. Es geht darum, die Arbeiter:innenbewegung beschleunigt an den Wendepunkt heranzuführen.

Die Relevanz des antikapitalistischen Programms ist auch politischer Natur. Die Erschöpfung des reformistischen Raums unter dem Druck der sozialen Krise und der Dynamik des Krieges erfordert radikale Lösungen. Entweder wird eine solche Lösung von der Arbeiter:innenklasse auf dem antikapitalistischen Terrain verwirklicht, oder sie läuft Gefahr, von mehr oder weniger reaktionären Kräften gegen das Proletariat durchgesetzt zu werden. Die Krise der traditionellen Formen des liberalen Wechselspiels, der Ausbruch großer politischer Polarisierungsprozesse, zeugt von der Bedeutung dieses Scheidewegs. Gerade das Wachstum der souveränen Rechten in Europa ist das Maß für die Krise der Arbeiter:innenbewegung bei der Vorbereitung ihrer eigenen Lösung für die Krise des Kapitalismus. Die Überwindung dieser Krise ist daher ein entscheidender Teil des Kampfes gegen die Reaktion.

Darüber hinaus kann nur ein radikaler Kampf auf einer Plattform vereinigender Kämpfe die reaktionären sozialen Blöcke aufbrechen, einen alternativen sozialen Block neu bilden, das Gleichgewicht der Kräfte umstürzen und das politische Szenario von unten neu eröffnen. Nur ein radikaler Kampf kann Teilerfolge und Eroberungen auf dem Weg dorthin erringen. Nur wenn die Machtfrage gestellt wird, kann die Bourgeoisie zu Zugeständnissen bewegt werden. Reformen sind, wie Lenin sagte, eine Begleiterscheinung der Revolution. Das gilt umso mehr in einer Zeit der Krise.

Es geht also nicht darum, dieses Programm mit den unmittelbaren Zielen der Bewegungen zu kontrastieren, sondern darum, dieses Programm in jede Bewegung zu bringen. Die unmittelbaren Ziele müssen auf eine antikapitalistische Perspektive zurückgeführt werden. Das gilt für die Arbeiter:innenbewegung genauso wie für jede fortschrittliche, geschlechtsspezifische, ökologische, antirassistische, antimilitaristische, antifaschistische Bewegung. Alle fortschrittlichen, sozialen, demokratischen und friedenspolitischen Forderungen fordern einen Bruch mit Kapitalismus und Imperialismus. Daher ist ein zentraler Verweis auf die Arbeiter:innenklasse als die zentrale Kraft einer Alternative notwendig. Gleichzeitig wird die Arbeiter:innenklasse ihre revolutionäre Rolle nur erfüllen können, wenn sie alle Forderungen nach Emanzipation und Befreiung der unterdrückten Massen der Gesellschaft in ihr Programm aufnimmt., aus jedem wirtschaftlichen Rückzug.

FÜR EINE REVOLUTIONÄRE, KLASSENKÄMPFERISCHE UND INTERNATIONALISTISCHE LINKE

Das Programm ist eine Funktion der Orientierung der Massen und der Entwicklung ihres Bewusstseins. Aber die Entwicklung des Massenbewusstseins erfordert das Vorhandensein einer organisierten Avantgarde, die in der Arbeiter:innenklasse, in den Massenorganisationen, in jeder fortschrittlichen Bewegung interveniert.

Eine Avantgarde, die durch ein Programm, ein gemeinsames Verständnis des allgemeinen Verlaufs der Weltereignisse und ein gemeinsames historisches Gedächtnis ihres eigenen Klassenbezugs auf nationaler und internationaler Ebene geeint ist, kann bei der Bewältigung der akuten Führungskrise des europäischen Proletariats, die wir beschrieben haben, wirklich etwas bewirken. Diese Avantgarde gegen den Strom ist eine dringende politische Notwendigkeit – eine globale Notwendigkeit, eine Notwendigkeit in Europa.

Die alte reformistische und/oder kampistische Linke, die Lösungen versprochen und nicht gehalten hat, ist auf dem ganzen Kontinent erschöpft. Der Wiederaufbau einer revolutionären, antikapitalistischen, internationalistischen Linken in jedem Land und auf europäischer Ebene ist heute die zentrale Aufgabe der revolutionären Marxist:innen in Europa.

Quelle: arbeiterinnenmacht.de… vom 10. Juni 2024

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