Proteste gegen Macron: Ein Hauch Mai ’68
Hovhannes Gevorkian. Die Streiks der Eisenbahner*innen, bei der Müllentsorgung und bei Air France fordern gemeinsam mit der Studierendenbewegung Emmanuel Macron heraus. Wie geht es weiter und welche Rolle spielt dabei der berühmte Pariser Mai ’68?
„Dieser Streik ist wirklich bizarr. Gibt es hier jemanden, der glaubt, dass wir auf diese Art und Weise gewinnen könnten?”, fragte Anasse Kazib, Eisenbahnarbeiter und Delegierter der Gewerkschaft SUD Rail vor der Vollversammlung der Arbeiter*innen der staatlichen Eisenbahn SNCF. “Nein!”, antwortete die Menge der Arbeiter*innen vor dem größten Bahnhof Europas, Paris Nord. „Es wird Zeit, dass wir in den unbefristeten Streik treten. Aber dieser unbefristete Streik muss aufgebaut werden. Paris Nord ist die Avantgarde der jetzigen Bewegung.”
Seit dem 3. April sind die Eisenbahner*innen in einen sogenannten „Perlenstreik” getreten. Sie protestieren damit gegen den von Präsident Emmanuel Macron geplanten Umbau der SNCF, der ihre sozialen Errungenschaften angreift und den Staatsbetrieb schrittweise privatisieren will. Die Streiktaktik mit dem eigentümlichen Namen sieht vor, dass an je zwei von fünf Tagen gestreikt werden soll. Zwei Tage Streik, drei Tage Arbeit und das Ganze bis zum 28. Juni, was insgesamt nur 36 Streiktage bedeuten würde. Weil ihnen das nicht genügt, votierten die Arbeiter*innen der Sektion des Pariser Nordens, dass sie ab dem 13. April in den unbefristeten Streik treten. Damit folgen sie dem Vorbild der Arbeiter*innen der Sektion Saint Lazare im Westen von Paris.
Dies sind erste Elemente der Selbstorganisierung. Gleichwohl folgen sie dem traditionellen Kampfplan der SNCF-Arbeiter*innen, die eigentlich von Tag zu Tag in Vollversammlungen entscheiden, ob sie den Streik verlängern oder nicht. Das war bei der letzten sozialen Bewegung gegen das Loi Travail vor zwei Jahren so, und natürlich auch beim Sieg der Arbeiter*innen gegen eine Renten- und Sozialversicherungsreform im Jahr 1995. In der Tat: Wäre der Streik von Anfang an in seiner Gesamtheit unbefristet gewesen, vielleicht wäre der Sieg schon sicher. Denn der Organisierungsgrad unter den Eisenbahner*innen ist enorm –bei den Fahrer*innen beteiligen sich zwischen 75 und 80 Prozent an den Streiks.
Gleichwohl ist die Streikbeteiligung nicht so hoch wie erwartet, wenn mensch den Zahlen der Geschäftsführung Glauben schenkt. Zwischen 35 und 48 Prozent soll die Beteiligung der rund 140.000 SNCF-Arbeiter*innen betragen. Das ist immer noch ausreichend, um den Verkehr lahmzulegen, sodass etwa nur 20 Prozent der Schnell- und nur 10 Prozent der Regionalzüge fahren. Das Problem jedoch ist, dass sich die Geschäftsführung im Verbund mit der Regierung darauf leicht einstellen kann, indem sie selbst alternative Fahrmöglichkeiten bereitstellen wie etwa OuiBus. Dieses französische Äquivalent zu Flixbus gehört zufälligerweise der SNCF selbst. Eine Taktik, die so etwas zulässt, demoralisiert die Arbeiter*innen und lässt die Wirkung der Streiks Stück für Stück verpuffen. War am 3. April, dem ersten Streiktag, noch von einem historischen „schwarzen Dienstag” die Rede, so „gewöhnten” sich in den Tagen und Wochen danach die Pendler*innen und die Arbeiter*innen an den merkwürdigen Rhythmus. So wird der Streik mit angezogener Handbremse in einem Land, das kein Streikgeld kennt, unnötig in die Länge gezogen.
„Wir müssen keinen Streik bis zum St. Nimmerleinstag machen, sondern jetzt voll loslegen. Wir brauchen die Einheit der Streikenden und diese Einheit der Streikenden ist nicht die Einheit der Gewerkschaftsapparate.”
So benannte Anasse Kazib, wer für die Verschleppung des Streiks die Verantwortung trägt. Der zuständige CGT-Generalsekretär für die SNCF und Architekt der Perlenstreiks, Laurent Brun, sprach dagegen davon, dass dieser Kampf kein Sprint, sondern ein Marathon sei. In diesem Sinne will er die „Bewegung bis Ende Juni fortführen”, um sie zu „verstärken”.
Solidarität und Zusammenführung der Kämpfe
Während die bürgerlichen Medien im Dienste der Regierung keine Gelegenheit auslassen, um gegen die Streikenden zu hetzen, gibt es derweil eine große Solidaritätswelle im ganzen Land. In nur 15 Tagen wurden über 600.000 Euro für die Streikkassen gesammelt. In nahezu allen Umfragen befürwortet ein Großteil der Bevölkerung die Streiks, auch weil sie zur Verteidigung des öffentlichen Dienstes geführt werden. Denn die Reform inklusive der Privatisierung würde eine massive Verteuerung und Verschlechterung eines essentiellen Teils der öffentlichen Daseinsvorsorge bedeuten; fast 5 Millionen Bürger*innen nutzen täglich die SNCF. Da auf dem Land gleichzeitig fast 9000 Kilometer an „unrentablen” Strecken gestrichen werden sollen, haben sich an einigen Orten auch Komitees zur Verteidigung des Streckennetzes gebildet, welche die Streiks unterstützen.
Ein großer Teil der Streikunterstützung kommt aber auch vonseiten der kämpfenden Studierenden. Sie sind ihrerseits in Bewegung gegen die geplante Universitätsreform, welche den Zugang zu den Universitäten für ärmere Familien erschweren würde. Trotz einer beispiellosen Repression durch den Staat sind immer mehr Fakultäten in den Streik getreten. 30 bis 40 von ihnen sind blockiert. Es ist eine Bewegung, die sich wie ein Lauffeuer ausbreitet. Anfang März war es nur die Universität Toulouse-Le Mirail, wo die Studierenden gemeinsam mit den Universitätsbeschäftigten im Streik waren und die Universität blockierten (seit dem 6. März hält die Blockade ununterbrochen an). Immer mehr Studierende schlossen sich der Bewegung an, im ganzen Land kommt es inzwischen zu Vollversammlungen mit bis zu 5000 Teilnehmenden wie zuletzt in Rennes. Dort wird demokratisch über die Fortführung der Blockade entschieden.
Es ist eine Massenbewegung der Studierenden, die Macron in seinem ersten Interview in diesem Jahr als „professionelle Agitator*innen” und als eine Minderheit angriff. Die Bildungsministerin, Frédérique Vidal, die auch das Gesetz entwarf, hat mittlerweile die Polizei dazu ermächtigt, jederzeit die Universitäten zu stürmen und die Besetzungen aufzulösen. Von dieser repressiven Ermächtigung machte sie am letzten Donnerstag Gebrauch, als mehrere Hundert Studierende die Sorbonne kurzzeitig besetzten. Die Einsatzkräfte scheiterten mit der gleichen Maßnahme jedoch an der anderen Fakultät der Universität Paris, in Tolbiac. Dort wurde vor drei Wochen die “Freie Kommune Tolbiac” ausgerufen und die Fakultät besetzt. Dutzende Hundertschaften wurden dort zusammengezogen, konnten jedoch angesichts einer rapiden Mobilisierung mit bis zu 1000 Studierenden und Arbeiter*innen nichts ausrichten.
Die Freie Kommune Tolbiac: Das ist die Universität, wo vor einer Woche ein faschistischer Angriff stattfand, als bis zu 20 maskierte und mit Eisenstangen bewaffnete Faschist*innen mitten in der Nacht die besetzenden Studierenden mit Steinen und Flaschen bewarfen. Es wurde dort niemand verletzt und der Angriff wurde zurückgeschlagen, weil zuvor ein Selbstverteidigungskomitee gegründet worden war. Eine Lehre aus dem faschistischen Angriff in Montpellier Ende März, als mit Zustimmung des Dekans der besetzten Fakultät der Rechtswissenschaften faschistische Schläger*innen die protestierenden Studierenden blutig schlugen.
Derlei faschistische Angriffe, die sich auch in Lille, Nantes oder Straßburg ereigneten, treten auf in Kombination mit der Repression durch die Polizei. Nachdem Räumungsversuche seitens der Polizei scheitern, sind es nun kleine faschistische Banden, welche die kämpferischen Studierenden terrorisieren sollen. Es verwundert nicht, dass derlei Gruppen wie in Tolbiac Verbindungen zum Front National (der sich neuerdings Rassemblement National nennt) haben und von der Polizei verschont werden. Die Angriffe sind zumeist von kurzer Dauer und mit Ausnahme von Montpellier eher provokativer Natur, da die besetzenden Studierenden deutlich in der Überzahl sind.
Es spricht für die Bewegung der Studierenden, dass sie trotz der Angriffe weiterhin wächst. Es scheint gar, als würden die skandalösen Angriffe sie sogar noch mehr motivieren. „Für jeden Studierenden, den sie mit Knüppeln schlagen; für jede*n Eisenbahner*in, den sie mit Tränengas angreifen, müssen 100 weitere Studierende zu uns stoßen, müssen 100 weitere Eisenbahner*innen in den Streik treten”, brachte es Arthur, der in Tolbiac studiert, auf den Punkt.
Die Intensität der Studierendenbewegung ist seit Wochen auch deswegen so hoch, weil sie das Prinzip der Einheit der Arbeitenden und Studierenden hochhält. In vielen Städten wird aktiv die Zusammenführung der Kämpfe gegen ein und dieselbe Regierung propagiert und umgesetzt. In Tolbiac kam es am Freitag zu einer gemeinsamen Demonstration von Streikenden und Studierenden, einen Tag später gab es dort ein großes Streikfest, wo 6000 Euro für die Streikkassen gesammelt wurden.
Der Rekurs auf den Mai ’68
Die Bilder ähnelten denen aus dem Mai des Jahres 1968 und 50 Jahre nach der größten Streikbewegung der französischen Geschichte drängen sich die Vergleiche fast von selbst auf. Es war die gleiche Sorbonne im berühmten Quartier Latin, welche die Studierenden besetzten. Es war in Nanterre, wo vor 50 Jahren die berühmte „Bewegung des 22. März” entstand, als die Studierenden mit Gewalt aus der Fakultät gezerrt wurden und viele von ihnen festgenommen wurden. Nicht nur die Studierenden, sondern auch die Arbeiter*innen erinnern regelmäßig mit ihren Slogans und Transparenten an den Mai ’68. Von einem „Mai ’68 bis zum Schluss” oder einem „neuen Mai ’68” ist dort die Rede. Während ersteres auf das enorme revolutionäre Potenzial jener Zeit anspielt, bezieht sich zweiteres auf das Narrativ, dass der Mai ’68 eine soziale Bewegung war, die beeindruckende Errungenschaften erzielte. Damals wurde etwa das Vertretungsrecht der Gewerkschaften anerkannt oder der Mindestlohn um 35 Prozent erhöht.
Gemeinsam ist beiden Bewegungen, der damaligen und der heutigen, dass die Avantgarde die Notwendigkeit der Zusammenführung der Kämpfe erkannt hat. Der Mai ’68 ist das Paradebeispiel für eine rasante Streikwelle, wo ein Sektor nach dem anderen in den Streik tritt und so ein Generalstreik entsteht, der das gesamte Land paralysiert. Es lohnt sich, einen Überblick über eine Streikbewegung zu haben, wie es sie seitdem in den imperialistischen Ländern nicht mehr gab:
- Mai: 24-stündiger Generalstreik aus Solidarität mit den Studierenden
- Mai: Streiks und Fabrikbesetzungen bei dem Flugzeughersteller Sud-Aviation mit 20.000 Beschäftigten sowie bei den Renault-Werken in Cléon
- Mai: Massive Ausdehnung der Streiks auf die Automobilfabriken, die Hafenarbeiter*innen, die Eisenbahn, die städtischen Verkehrsbetriebe sowie die Banken
- Mai: Streiks bei der Post und bei Air France sowie Fabrikbesetzung bei dem Chemieunternehmen Rhodiaceta
Das war der Beginn einer Streikwelle, die sich rasant ausdehnte und am 19. Mai zu einem Generalstreik par excellence wurde, der nahezu vollständig im ganzen Land eingehalten wurde. Bis zu über 10 Millionen Beschäftigte sollten im Laufe der nächsten drei Wochen in den Streik treten und den Staat ins Wanken bringen.
Für die heutigen Kämpfenden ist daher der Mai ’68 ein historisches Vorbild, eine Anleitung zum Handeln. In diesem Sinne ist der Rekurs richtig und er knüpft an einen Moment im Erbe unserer Klasse an, als zum ersten Mal seit dem zweiten Weltkrieg in einem imperialistischen Land eine revolutionäre Situation entstand.
Gleichwohl darf nicht vergessen werden, dass es bedeutende Unterschiede gibt und dass die heutige Bewegung vor anderen, ungleich schwierigeren Herausforderungen steht. Zum einen hat die Studierendenbewegung noch nicht die gleichen Ausmaße wie vor 50 Jahren erreicht, denn heute vereinigt sie noch eine Masse, die führungslos ist. Es fehlt an einer nationalen Koordinierung (der größte Studierendenverband, die Unef, diskreditierte sich selbst aufgrund seiner Nähe zur Sozialistischen Partei) sowie an mittel-großen Jugendorganisationen wie es ’68 z.B. mit der trotzkistischen Jeunesse Communiste Revolutionnaire, der ebenfalls trotzkistischen Féderation des Étudiants Révolutionnaires, der maoistischen Union des jeunesses communistes marxistes-léninistes oder eben der Bewegung des 22. März der Fall war. Wo es keine solche Basis gibt, können auch keine öffentlichen Figuren wie damals Daniel Cohn-Bendit, Jacques Sauvageot oder Alain Geismar entstehen. Es ist daher wenig erstaunlich, dass es (noch) kein Gesicht dieser Bewegung gibt.
Aber auch die Arbeiter*innenbewegung ist in einer deutlich schwächeren Positionen, sowohl was den Organisierungsgrad in den Gewerkschaften als auch die Vertretung in den Arbeiter*innenparteien angeht. Während die Confédération générale du travail (CGT) vor 50 Jahren rund 2,3 Millionen Arbeiter*innen organisierte, ist diese heute auf weniger als 700.000 geschrumpft. Es ist fast schon müßig zu erwähnen, dass ihre große Schwester, die Kommunistische Partei, seit dieser Zeit vollkommen untergegangen ist. Nicht, dass wir die verräterische Rolle beider (damals strikt stalinistischer) Organisationen von damals vergessen hätten, als sie die Studierenden denunzierten und als “kleinbürgerlich” abtaten — historische Tatsache ist aber auch, dass es ihre Basis war, welche das Herz der Streikbewegung ausmachte. Erinnert sei an die großen Renault-Werke in Boulogne-Billancourt, wo es 30.000 Arbeiter*innen an einem Industriestandort gab, die unter der Hegemonie der CGT standen. Dort begann die Bewegung der Arbeiter*innen.
Der schwächere Organisationsgrad hat auch damit zu tun, dass in der Zwischenzeit wichtige Industriezweige privatisiert wurden, in denen prekäre Arbeitsbedingungen herrschen, welche die gewerkschaftliche Organisation der Arbeiter*innen erschweren. In diesem Sinne erscheint der Kampf um die SNCF als ein defensiver um eine der letzten Bastionen der Arbeiter*innenklasse neben dem Metall- und Chemiesektor. Macron will mit den Angriffen auf die Eisenbahnarbeiter*innen und die Studierenden sicherstellen, dass es keinerlei Mobilisierungspotenziale mehr in genau jenen beiden Sektoren gibt, die in der Vergangenheit die Avantgarde der sozialen Bewegungen waren. Indem er beide Angriffe aber gleichzeitig ausführt, provoziert er gerade die Einheit unter ihnen.
Doch selbst beide Sektoren zusammen werden nicht in der Lage sein, die Angriffe abzuwehren. Das liegt einerseits an der bereits skizzierten Streiktaktik und andererseits an der enormen Repression gegen die Studierenden. Und in diesem Sinne erscheint der Mai ’68 vor allem als eines: Als Hoffnung auf eine Ausbreitung und damit Verstärkung der Streikfront. Die Arbeiter*innen wissen um den Grad der Herausforderung, vor der sie stehen, deshalb werden unter ihnen die Stimmen laut, dass verschiedene Streiks wie bei der Air France, der Supermarktkette Carrefour oder der Müllentsorgung zusammengeführt werden müssen. Als Schlüssel für die Zusammenführung der Streiks kommt jedoch der öffentliche Dienst infrage, der im vergangenen Jahr zum ersten Mal seit über zehn Jahren streikte und in der Lage ist, Hunderttausende auf die Straßen zu bringen.
Vor dem Hintergrund, dass Macron langfristig in diesem Sektor 120.000 Stellen streichen will, erscheint es unverständlich, warum die Gewerkschaften erst für den 22. Mai zu Mobilisierungen aufrufen. Die CGT verfolgt dabei eine Taktik, welche die Mobilisierungen in die Länge zieht und voneinander trennt. Das ist nicht nur der „klassischen” Angst seitens der Gewerkschaftsbürokratie geschuldet, die Kontrolle über die Streiks zu verlieren, sondern auch der Tatsache, dass sie seitens der Confédération française démocratique du travail (CFDT), dem heute größten Gewerkschaftsverband in Frankreich, von rechts massiv unter Druck gesetzt wird. Im Gegensatz zu 1968 haben es die Beschäftigten bisher noch nicht geschafft, die Gewerkschaften so stark unter Druck zu setzen, dass sie als Einheit in der Streikfront agieren. Während der Generalstreik vom 13. Mai 1968 (auch zum Protest gegen den zehnten Jahrestag des bonapartistischen Putsches von Charles de Gaulle) aus Solidarität mit den Studierenden und gegen die Polizeigewalt in den vorherigen Barrikadennächten von Paris auch von der CFDT unterstützt wurde, ist heute ein solcher Aufruf geradezu unvorstellbar. Der syndikalistische Kampf soll strikt vom politischen Kampf getrennt bleiben.
Heute ist es die CFDT, deren Generalsekretär Laurent Berger eine Marionette der Regierung geworden ist, die diese Trennung mit großem Eifer voranbringt. Unterstützt durch die bürgerlichen Medien, welche Einheit der Gewerkschaften durchbrechen und die CGT isolieren wollen, reiht sich Berger in das Lager des Kapitals ein, indem er den Aktionstag am 19. April, der verschiedene Berufszweige erfassen soll und von der CGT lanciert wurde, ablehnt. Auf den Generalsekretär der CGT angesprochen sagte er:
„Was ist das Ziel von Martinez? Macron stürzen? Das ist eine Sackgasse. Was bringt das den Beschäftigten? Die CGT fällt in die Falle der frontalen Opposition und am Ende sehen wir dann, wer gewinnt. Die Zusammenführung der Kämpfe ist ein politischer Kampf. Es ist nicht Aufgabe der Gewerkschaften, einen solchen Kampf zu führen. Wir müssen einen gewerkschaftlichen Kampf führen, der den Arbeiter*innen konkrete Ergebnisse bringt.”
Mit dieser Logik können die Streiks auch gleich eingestellt werden. Für die streikenden Arbeiter*innen der SNCF, die fast auf die Hälfte ihres Monatsgehalts verzichten müssen, bedeutet das, dass sie zwar große Opfer bringen, am Ende aber mit leeren Händen dastehen. Dabei gibt es gerade diese künstliche Trennung nicht. Vielmehr muss festgestellt werden, wie Lenin sagt:
Was aber ist Klassenkampf? Wenn die Arbeiter einer einzelnen Fabrik, eines einzelnen Berufs den Kampf gegen ihren Unternehmer oder gegen ihre Unternehmer aufnehmen, ist das Klassenkampf? Nein, das sind erst schwache Ansätze dazu. Der Kampf der Arbeiter wird erst dann zum Klassenkampf, wenn alle fortschrittlichen Vertreter der gesamten Arbeiterklasse des ganzen Landes sich bewußt werden, eine einheitliche Arbeiterklasse zu sein, und den Kampf nicht gegen einzelne Unternehmer, sondern gegen die ganze Klasse der Kapitalisten und gegen die diese Klasse unterstützende Regierung aufnehmen. Erst dann, wenn der einzelne Arbeiter sich bewußt ist, ein Teil der ganzen Arbeiterklasse zu sein, wenn er in seinem tagtäglichen Kleinkampf gegen einzelne Unternehmer und einzelne Beamte den Kampf gegen die ganze Bourgeoisie und gegen die ganze Regierung sieht, erst dann wird sein Kampf zum Klassenkampf. ‚Jeder Klassenkampf ist ein politischer Kampf’— diese berühmten Worte von Marx dürfen nicht in dem Sinne verstanden werden, jeder Kampf der Arbeiter gegen die Unternehmer wäre stets ein politischer Kampf. Sie müssen so verstanden werden, daß der Kampf der Arbeiter gegen die Kapitalisten notwendigerweise in dem Maße politischer Kampf wird, als er zum Klassenkampf wird.
Es ist jetzt an der Zeit, dass nicht nur die Gewerkschaften einheitlich agieren, sondern auch, dass sie einen Kampfplan durchsetzen, dessen Kern der unbegrenzte Streik sein muss. In diesem Sinne tragen die Eisenbahnarbeiter*innen von Paris Nord und Saint Lazare das Erbe des Mai ’68 fort, als die oben genannten Sektoren ihre Streiks bewusst unlimitiert begannen und erst damit aufhörten, als sie soziale Zugeständnisse sicher hatten. Mehr noch: Als am 26. Mai 1968 die Gewerkschaften mit den Unternehmen und der Regierung die ersten Verbesserungen abgemacht hatten, wurden diese prompt von den streikenden Arbeiter*innen abgelehnt, da die Beschlüsse ihnen nicht weit genug gingen. Darin zeigte sich die Kraft der Arbeiter*innen. Sie folgten nicht einem zahnlosen, vorhersehbaren Streikplan, sondern streikten so lange, wie sie selbst entschieden.
Quelle: klassegegenklasse.org… vom 18. April 2018
Tags: Arbeiterbewegung, Arbeitskämpfe, Arbeitswelt, Frankreich, Gewerkschaften, Lenin, Neoliberalismus, Service Public, Strategie, Trotzki
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