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Repression an den Rändern mit Sozialdetektiven

Eingereicht on 23. April 2018 – 8:36

BFS Basel. Der folgende Text handelt von einem Gesetz, welches uns alle betreffen kann: In der Schweiz soll in Zukunft die Observation (also die Überwachung) von Menschen, die Sozialversicherungsleistungen beziehen, erlaubt werden. Dies nicht nur in öffentlichen, sondern ebenso in Privaträumen. Es handelt sich um einen grossen Schritt in Richtung Überwachungsstaat in dem jede und jeder rund um die Uhr beobachtet werden kann.

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Das Gesetz und seine Folgen

Am 12. März 2018 wurde ein Gesetz beschlossen, welches mindestens ein Grundrecht massgeblich einschneidet: Das Recht auf Privatsphäre. Die IV und andere Sozialversicherungsstellen (z.B. AHV, Krankenversicherung, Arbeitslosenversicherung, Unfallversicherung) sind neu befugt, bei einem „begründeten Verdacht“ eine Person an allen Orten, die von einem allgemein zugänglichen Ort aus frei einsehbar sind, während 30 Tagen innerhalb einer Zeitspanne von 6 Monaten mit Bild – und Videomaterial zu beobachten. Diese Frist kann noch verlängert werden. Darin eingeschlossen sind demnach nebst öffentlichen Plätzen auch private Balkone, Gärten und Wohnungen, wenn man von draussen hineinsehen kann. Was genau einen «begründeten Verdacht» darstellt, ist dabei nicht klar. Das bedeutet konkret, dass z.B. IV-Bezüger*innen damit rechnen müssen, auch auf ihrem Balkon fotografiert oder gefilmt zu werden. Auch wäre es mit dem neuen Gesetz möglich, dass man im eigenen Zuhause mittels Film- oder Fotokamera überwacht wird, wenn die Räume von draussen einsehbar sind! [1]

Befremdlich ist, dass die Massnahmen strenger sind als bei einer Strafverfolgung: Zum einen dürfen Ermittler*innen bei einer Strafverfolgung die verdächtigen Personen nur an allgemein zugänglichen Orten observieren. D.h. private Wohnungen gehören nicht dazu. Zum andern benötigt es bei einer Strafuntersuchung die Anordnung der Polizei (nach einem Monat muss die Strafuntersuchung von der Staatsanwaltschaft angeordnet werden). Beim neuen Gesetzesbeschluss zu den Sozialdetektiven bedarf nur der Einsatz von GPS-Trackern (Peilsender) einer richterlichen Genehmigung.[2]

Was ist der Hintergrund des Gesetzes?

Durch diese Massnahmen erhoffen sich die Sozialversicherungen, Betrüge aufzudecken und so Geld einzusparen. Der IV fehlten 2009 beispielsweise 13 Milliarden Franken.[3] Es ist kein Geheimnis, dass in der Staatskasse genügend Geld vorhanden ist. Doch solange der Staat lieber den Reichen Steuergeschenke macht, wird sich daran auch nicht viel ändern. Tatsache ist, dass wieder einmal die Schwächsten der Gesellschaft das Nachsehen haben und solche fragwürdigen Methoden über sich ergehen lassen müssen. Ist es wirklich der richtige Weg, auf Grund der wenigen Betrüger*innen alle Bezüger*innen von Sozialversicherungsleistungen unter einen Generalverdacht zu stellen?

Das Europäische Gericht für Menschenrechte (EGMR) stellte in seinem Grundsatzurteil fest, dass die gesetzlichen Grundlagen für das Treiben der Sozialdetektive nicht ausreichen (zu schwerer Eingriff in die Privatsphäre). Das Schweizer Parlament versuchte nun, diese Grundlage zu schaffen, um den Kantonen und Versicherungen weiterhin die Möglichkeit von Sozialdetektiven zu bieten.[4]

Sozialdetektive sind nicht neu, die rechtliche Grundlage und Rechtfertigung schon

Sogenannte Sozialdetektive gibt es schon seit längerem. Es gibt einige Beispiele von Menschen, welche mit Hilfe von Video- oder Bildaufnahmen ausspioniert wurden.[5]

Als das EGMR den Fall einer Frau beurteilte, wurde diesem Treiben ein Ende gesetzt. Es handelt sich um den Fall einer Frau, welche 1995 als Fussgängerin angefahren worden war und am Kopf verletzt wurde. Die Unfallversicherung wollte die finanziellen Leistungen schrittweise kürzen, wogegen die Frau kämpfte. Das Zürcher Sozialversicherungsgericht gab der Frau Recht mit der Begründung, sie leide an Kopf- und Nackenschmerzen und einer Wesensveränderung. Dadurch sei es ihr nicht mehr möglich, als Coiffeuse zu arbeiten. Die Unfallversicherung bezweifeltes dies. Sie wollte die Gesundheit der Frau genauer abklären lassen. Die Frau widersetzte sich dem und wurde in der Folge an vier Tagen von Privatdetektiven mittels Foto- und Videoaufnahmen überwacht. Die Aufnahmen zeigten die Frau, wie sie mit ihrem Hund spazieren ging, längere Strecken mit dem Auto fuhr, beim Einkaufen mit Einkaufstaschen hantierte und dabei die Arme über den Kopf hob. Laut medizinischem Gutachten war ihr dies nicht möglich.[6] Doch was sagen solche Aufnahmen über allfällige Schmerzen der Frau aus? Dies sind Momentaufnahmen; vielleicht ging es ihr zu dem Zeitpunkt so gut, dass ihr die genannten Tätigkeiten möglich waren.

Auf Grund der Beobachtungen wurden der Frau die Leistungen der Unfallversicherung gekürzt. Die Frau zog vors Bundesgericht, dieses stellte sich auf die Seite der Unfallversicherung. Die Begründung lautete, dass die Observationen rechtmässig gewesen seien, da sie auf öffentlichem Grund stattgefunden hätten. Zudem stütze sich das Bundesgericht auf den allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte stütze dieses Urteil jedoch nicht: Die Gesetzesgrundlage sei zu unbestimmt für einen dermassen schweren Eingriff in die Privatsphäre. Dauer und Zeitpunkt der Überwachung seien nicht klar geregelt gewesen. Auf Grund des Urteils des EGMR stellten u. a die IV und die SUVA ihre Observation durch Privatdetektive ein.[7]

Konkret bedeutet das Urteil des EGMR, dass die Fraue auf Grund der fehlenden Gesetzesgrundlage Recht hat! Man kann das durchaus so verstehen, dass es einfach eine gesetzliche Verankerung braucht, um eine menschenrechtlich fragwürdige Machenschaft durchzusetzen. Das Schweizer Parlament und der Bundesrat waren sich nicht zu schade, genau dies zu tun: Sie erarbeiteten nach Bekanntgabe des Urteils des EGMR eine gesetzliche Grundlage, welche das Observieren im eingangs erwähnten Ausmass regelt.

Was bedeutet dieses Gesetz konkret für Bezüger*innen von Versicherungsleistungen?

Sie müssen konstant damit rechnen, nicht nur auf öffentlichem Grund, sondern nun auch in ihren privaten Räumen observiert zu werden. Es ist ein schwerer Eingriff in das Leben von tausenden Bezüger*innen von Sozialleistungen. Jede Bewegung kann ein Indiz für das „Erschleichen“ von Dienstleistungen sein und kann mit der Kürzung oder Streichung der eigenen Lebensgrundlage einhergehen. Das heisst, dass diese Menschen nebst ihrer Einschränkung möglicherweise unter dauerndem emotionalen Stress leiden müssen. Es ist wahrscheinlich, dass sich dieser Stress nicht positiv auf die Gesundheit auswirkt!

Das Referendum wurde lanciert

Das Gesetz wurde von beiden Kammern des Parlaments angenommen. Glücklicherweise blieb der Beschluss nicht von allen unbemerkt und es kam Anfang April 2018 zum Referendum. Es verlangt, dass es eine Volksabstimmung über dieses Gesetz gibt. Insgesamt werden mindestens 50‘000 Unterschriften gebraucht, damit das Referendum zustande kommt. Die Sammelfrist endet am 5. Juli 2018. Die Bewegung für den Sozialismus unterstützt das Referendum.

Hier kann unterschrieben werden: https://pledge.wecollect.ch/content/1-home/sammelbogen_de.pdf

Quelle: sozialismus.ch… vom 23. April 2018


[1] Vgl. https://www.humanrights.ch/de/menschenrechte-schweiz/inneres/gruppen/behinderte/observation-iv-bezueger

[2]Vgl. https://www.unilu.ch/fileadmin/fakultaeten/rf/institute/staak/MAS_Forensics/dok/Masterarbeiten_MAS_2/Schwyter_Roland.pdf

[3] Vgl. http://debatte.ch/2013/04/iv-zusatzfinanzierung-achtung-falle/

[4] Vgl. https://www.humanrights.ch/de/menschenrechte-schweiz/inneres/gruppen/behinderte/observation-iv-bezueger

[5] Ein Beispiel: https://www.beobachter.ch/versicherungen/versicherung-mit-versteckter-kamera

[6] Vgl. https://www.nzz.ch/schweiz/menschenrechtsgerichtshof-schweiz-wegen-einsatz-von-detektiven-geruegt-ld.122624

[7] Vgl. https://www.humanrights.ch/de/menschenrechte-schweiz/inneres/gruppen/behinderte/observation-iv-bezueger

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