Gibt es Gemeinsamkeiten zwischen den weltweiten Revolten?
„In Chile war es eine Fahrpreiserhöhung für U-Bahntickets um 30 Pesos (umgerechnet vier Cent), in Libanon die angekündigte Einführung einer Steuer auf Whatsapp-Telefonate. Vergangenes Jahr in Frankreich begann die Gelbwesten-Bewegung mit einer angekündigten Steuer auf Kraftstoffe. Man kann also sagen, dass die Auslöser der zeitgenössischen
Aufstandsbewegungen relativ belanglos und willkürlich sind, vergleicht man sie mit dem, was in der Folge jeweils auf den Tisch kommt. (…) Nicht die normalen Menschen schulden dem Staat Gehorsam und den Banken Geld. Das normale Leben erhebt sich und fordert etwas ganz anderes, das niemand so wirklich kennt und das vielleicht noch nicht einmal einen Namen hat. Klar ist nur, dass es irgendwie um alles geht und dass es so wie bisher nicht weitergehen soll. Das merkt man spätestens daran, dass Whatsapp-Steuern oder Bahnpreiserhöhungen längst zurückgenommen wurden, sich die Menge aber nicht damit und nicht einmal mit zusätzlich entlassenen Ministern oder angekündigten Reformen zufrieden gibt. Es geht einfach weiter. (…) Es geht nicht um eine Führung oder Ideologie, aus der sich alles ableitet, sondern es geht um die Gemeinsamkeiten, die sich quasi automatisch ergeben. Trotz aller regionalen Unterschiede sind sie auf Erfahrungen des Lebens im globalen Kapitalismus gegründet – und auf die Suche nach Möglichkeiten von Widerstand und Alternativen. Diese Gemeinsamkeiten sind daher kein Zufall. Da ist die Einheit des sozialen und politischen Charakters. Die Proteste gegen die soziale Situation sind von jeder gewerkschaftlichen und betrieblichen Begrenzung befreit. Sie artikulieren eine unmittelbare Erfahrung, nämlich die ganzheitliche Problematik aus Schulden, Löhnen, Mieten, Gesundheit, Bildung und vielem mehr. Darin sind sie mehr als bloße Interessenpolitik. Die Proteste richten sich darauf, wie die Menschen regiert werden…“ Beitrag von Mario Neumann bei neues Deutschland vom 30. Oktober 2019, siehe eine Antwort darauf und weitere Debattenbeiträge:
Der Mythos von den weltweiten Kämpfen. In vielen Ländern gehen Menschen auf die Straße. Aber es lohnt sich genauer hinzusehen, was die Ziele sind
„… Nicht nur in Hongkong gehen in diesen Wochen Menschen auf die Straße, sondern auch im Libanon, in Iran, im Irak, in Chile und in Ecuador. In vielen Ländern gibt es Massendemonstrationen, auf die die Regierungen in der Regel mit brutaler Gewalt reagieren, wie in Chile, wo zahlreiche junge Demonstranten ihr Augenlicht verloren haben. Schon schwärmen mache von der Rückkehr der globalen Aufstände, ohne Führungspersonen und Großorganisationen, die ja schon in Occupy-Zeiten mehr Wunsch als Wirklichkeit waren. Mario Neumann stellt sich in einem Kommentar in der Tageszeitung Neues Deutschland selber die Frage, ob man denn die unterschiedlichen Proteste einfach unter „globale Aufstände“ subsumieren kann. (…) Es geht nicht um eine Führung oder Ideologie, aus der sich alles ableitet, sondern es geht um die Gemeinsamkeiten, die sich quasi automatisch ergeben. Trotz aller regionalen Unterschiede sind sie auf Erfahrungen des Lebens im globalen Kapitalismus gegründet – und auf die Suche nach Möglichkeiten von Widerstand und Alternativen. Diese Gemeinsamkeiten sind daher kein Zufall. In einer Replik auf Neumann kritisiert Christopher Wimmer , dass der immer noch fragt, welche Rolle linke Parteien und Gewerkschaften in diesen Aufständen spielen könnten. Wimmer strapaziert den Mythos von Aufständen, die ohne jegliche Kooperation mit Linken und Gewerkschaften den revolutionären Weg gehen werden. Selbst, wenn man jene Proteste in den Mittelpunkt stellt, in denen eben nicht – wie in Hongkong – die Abstiegsangst einer vom Kolonialismus geförderten Schicht der Antrieb ist, wird dieses Diktum doch durch die Realität stark infrage gestellt. Im Irak, wo in den letzten Wochen die Aufstände blutig niedergeschlagen wurden, tritt die Regierung zurück, weil ein Großayatollah sie dazu aufgefordert hat. Das ist nur ein Beispiel dafür, was passiert, wenn sich aus Protesten keine stabile linke, emanzipatorische Hegemonie herausbildet. Dann bemächtigen sich Reaktionäre aller Art dieser Proteste und dann spricht eben nicht die Bevölkerung, sondern der Ayatollah. Das führt nicht zu einem kritischen linken Bewusstsein, sondern zur Verstetigung reaktionärer Ideologie. Das Beispiel Brasilien, wo die Proteste in der Endphase der Regierung der Arbeiterpartei von Rechten gekapert wurden und sie Bolsanaro den Weg bereiteten, hat unter den Unterstützern des „Aufstands ohne Führung und Großorganisationen“ kaum zum Nachdenken geführt. Auch für die Gelbwestenbewegung in Frankreich taugt Wimmers Einschätzung nicht. Tatsächlich haben die Proteste aus verständlichen Gründen ohne Gewerkschaften begonnen. Die Protagonisten sind in der Regel keine Gewerkschaftsmitglieder und die Gewerkschaften haben auch an Einfluss durch den Umbau der Arbeitsverhältnisse verloren…“ Artikel von Peter Nowak vom 02. Dezember 2019 bei telepolis
Ende der rechten Einheitsfront ‒ Wie die aktuellen Aufstände Lateinamerika verändern
„Der Neoliberalismus ist in Lateinamerika nicht oder nur mit enormer Gewalt durchzusetzen. Das ist ein Schuss vor den Bug der Eliten (…) Die Linke in Deutschland reagiert unterschiedlich. Manche sehen den Sozialismus auf dem Vormarsch. Die meisten wiegeln ab: Die neue Regierung Argentiniens ist nicht links; Morales in Bolivien verfolgt nur ein Modernisierungsprojekt; Venezuela unter Maduro ist autoritär, korrupt und abgewirtschaftet. Nirgendwo bestehe ein linkes, sozialistisches Projekt, die meisten Proteste seien strategielos. Von einem Land an der Peripherie oder Semiperipherie des neokolonialen kapitalistischen Weltsystems ein sozialistisches Projekt zu erwarten, geht an den Machtverhältnissen vorbei. Dennoch sollten die Ereignisse nicht unterschätzt werden. Die geopolitischen Verhältnisse verändern sich. Das Wegbrechen der extrem rechten Einheitsfront in Lateinamerika erschwert die aggressive US-Politik deutlich. Es entspannt die Situation für Venezuela und Kuba. Sicher ist die katastrophale Situation in Venezuela nicht nur den USA anzulasten und die Maduro-Regierung nicht sozialistisch. Doch eine Militärintervention und die rechte Opposition eröffnen sicher keine bessere Perspektive. Zugleich gibt es an der Basis starke linke Bewegungen. (…) Der Neoliberalismus ist in Lateinamerika nicht oder nur mit enormer Gewalt durchzusetzen. Das ist ein Schuss vor den Bug der Eliten. Und es strahlt auf andere Länder aus. Alternative Projekte von unten gewinnen mehr Raum, die geopolitischen Verhältnisse werden durchgeschüttelt. Das ist alles nicht die sozialistische Revolution, die muss weiterhin von unten entwickelt werden. Aber die politischen Entwicklungen in Europa, die von hiesigen Kritikern der lateinamerikanischen Linken gefeiert werden (eine sozialdemokratische Regierung in Portugal, ein politischer Rückschlag für einen rechtsextremen Innenminister in Italien …), bleiben weit dahinter zurück.“ Artikel von Dario Azzellini vom 19.11.2019 bei amerika21 erschien zuerst in der Printausgabe von „Analyse&Kritik ‒ Zeitung für linke Debatte und Praxis“ Nr. 654 vom 12. November 2019
Beziehungsweise Aufstand. Um die Subjektivität der globalen Revolten zu begreifen, hilft linke Klassenkampfnostalgie nicht weiter
„Sieht man einmal von Haiti ab, wäre es falsch zu behaupten, dass die globalen Aufstände des Jahres 2019 von der deutschen Öffentlichkeit verschwiegen worden wären. Hongkong, Sudan, Ecuador, Irak, Libanon, Chile, Ägypten, Algerien, aber auch Frankreich: Man erfährt zuverlässig, dass eine weit geteilte Unzufriedenheit sich in Massenbewegungen übersetzt. Fragezeichen gibt es jedoch wenige. Der Aufstand: ein letztlich ganz normaler Vorgang, der keiner weiteren Erklärung bedarf – außer vielleicht einer näheren Betrachtung der zugrunde liegenden Missstände? Braucht es keine theoretische Diskussion, warum fast zeitgleich neue Aufstandsbewegungen die Bühne der Politik betreten? Und ist es selbsterklärend, dass viele die Form der führungslosen Demokratiebewegungen annehmen – und dass die Bilder, die sie erzeugen, an die Revolten von 2011 erinnern? Und zu guter Letzt: Haben die Ereignisse eigentlich eine Bedeutung für die Diskussionen hierzulande, oder sind sie nur Geschichten aus einer anderen politischen Welt? Diese Fragen müsste sich zumindest die Debatte der Linken stellen, die seit Jahren um die Frage kreist, welche Politik im Angesicht der multiplen Krise und ihrer autoritären, rechten Beantwortung erforderlich ist. Es gab bereits viele Vorschläge: Von einem »neuen Linkspopulismus« war die Rede, häufiger noch von einer »neuen Klassenpolitik«. Stets ging es um die Frage, wie eine Linke beschaffen sein müsste, damit die Menschen (wieder) links statt rechts werden – oder zumindest wählen. Die deutsche Diskussion hat ein ernüchterndes Ergebnis: Letztlich müsse linke Politik die materielle Lage und die daraus resultierenden Interessen der unteren Klassen wieder zu ihrem zentralen Bezugspunkt machen. Die Rückbesinnung auf Tugenden, die in Wahrheit seit Jahrzehnten im Zentrum linker Partei- und Gewerkschaftspolitik stehen, soll die Antwort auf die Schwäche linker Politik sein. Hier treffen sich linksradikale und gewerkschaftliche Positionen in einem oft ökonomistischen Menschenbild und in einer viel zu simplen Analyse, die letztlich versucht, Politik zu suspendieren. (…) Sind wir nicht fast alle Mieter*innen, Lohnabhängige, Prekarisierte? Das muss nicht immer falsch sein, wie die wichtigen Erfolge der Mieterbewegung zeigen. Trotzdem liegen die Formen, in denen sich die Massenbewegungen der letzten Jahrzehnte artikulierten, quer dazu. Die neuen Aufstände haben nicht viel zu tun mit den antiquierten Bildern von Klasse und Interesse, sie überschreiten sie von Anfang an. Das zeigt sich einerseits in der Zentralität der Demokratiefrage, andererseits in der Art und Weise, wie sich das Gemeinsame bildet. Die Aufstände haben zum Teil fast abwegige Auslöser, die die Härte des täglichen Überlebens symbolisieren und doch von jeder gewerkschaftlichen oder betrieblichen Begrenzung befreit sind. Sie artikulieren, zum Beispiel in Chile, eine ganzheitliche Erfahrung eines enteigneten Lebens, den Zusammenhang aus Schulden, Löhnen, Mieten, Gesundheit, Bildung und vielem mehr. Es geht nicht bloß um Ausbeutung und Umverteilung, es geht um Herrschaft und Emanzipation. Es geht um das politische Kommando über das Leben, um die moralische Ökonomie der Schulden, um patriarchale Gewalt und Arbeitsteilung, um Staatsbürgerschaft und autoritäre Politik. Darin öffnen sie sich ganz unterschiedlichen Realitäten und den mit ihnen verbundenen Subjekten: Frauen, Migrant*innen, Indigenen, jungen Menschen, Arbeiter*innen, Prekären. Die Regierungspolitiken und die Rolle des Staates im Neoliberalismus stehen im Zentrum der Aufstände: Der Staat hat sich nicht aus den politischen und ökonomischen Prozessen zurückgezogen und die Menschen dem Marktgeschehen überlassen. Er ist zentraler Akteur einer ökonomischen und politischen Macht, die sich auf die immer schamlosere Ausbeutung, Enteignung und Disziplinierung der Bevölkerungen richtet. Deswegen ist eine Forderung überall zentral: Es geht um Demokratie. (…) Die Menge muss nicht durch bewusstseinsbildende Maßnahmen von ihren gemeinsamen Interessen überzeugt, auf diese reduziert und in eine Klasse umgewandelt werden, um dann wiederum von linken Organisationen angeführt zu werden. Die Menge betritt unmittelbar die Bühne der Politik: In ihrer Unterschiedlichkeit sucht sie das Gemeinsame, das kollektive Potenzial – nicht den kleinsten gemeinsamen Nenner…“ Artikel von Mario Neumann in ak – analyse & kritik – zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 654 / 12.11.2019
Wacht auf, Verdammte dieser Erde
„Die Verteidiger der „wirtschaftlichen Freiheit“ kümmern sich wenig um Demokratie. Dem Neoliberalismus geht es einzig und allein um die Sicherung wirtschaftlicher Macht. Zwei der „freiesten Volkswirtschaften“ der Welt stehen in Flammen. Nach Indizes der „wirtschaftlichen Freiheit“, die jährlich unabhängig von zwei konservativen Denkfabriken veröffentlicht werden – der Heritage Foundation und dem Fraser Institute – steht Hongkong in den Rankings seit über 20 Jahren an erster Stelle. Chile belegt in beiden Indizes den ersten Platz in Lateinamerika und steht im weltweiten Ranking bei beiden auch vor Deutschland und Schweden. (…) Die Wut lässt sich vielleicht besser durch andere Rankings erklären: Chile steht zwar in Sachen wirtschaftlicher Freiheit unter den ersten 25 – tut dies aber auch bei der Einkommensungleichheit. Wäre Hongkong ein eigener Staat, würde er zu den zehn mit der weltweit größten Ungleichheit gehören. Beobachter verwenden häufig den Begriff Neoliberalismus, um die Politik hinter dieser Ungleichheit zu beschreiben. Der Begriff mag einem vage erscheinen, aber die Vorstellungen hinter dem Index für wirtschaftliche Freiheit helfen, ihn scharf zu stellen. (…) Pinochet, Thatcher und Reagan mögen tot sein. Doch die Kennzahlen für wirtschaftliche Freiheit halten das neoliberale Banner weiter in die Höhe, indem sie die Ziele sozialer Gerechtigkeit in alle Ewigkeit als unrechtmäßig verschreien und die Nationalstaaten dazu drängen, sich einzig als Wächter der wirtschaftlichen Macht zu betrachten…“ Artikel von Quinn Slobodian in der Übersetzung von Holger Hutt am 13.11.2019 beim Freitag online
Ende des Neoliberalismus? – Nicht in EUropa
„Weltweit erheben sich Menschen gegen korrupte Regimes, Armut und Unterdrückung. Manch einer sieht darin schon das Ende des Neoliberalismus. Doch Brüssel will davon nichts wissen. Chile, Libanon, Bolivien, Kuweit, Irak: Eine so große und die Kontinente übergreifende Protestwelle hat es vielleicht noch nie gegeben. Dabei war sie schon lange vorausgesagt worden. Schon 2008 prägte der US-polnische Politikwissenschafter Zbigniew Brzezinski, Berater von Lyndon B. Johnson und Jimmy Carter, den Begriff eines “globalen politischen Erweckungsmoments”. Derzeit erlebte die Welt eine neue Ausformung, beschreibt es Samuel Brannen, Senior Fellow am Center for Strategic and International Studies, in einem aktuellen Beitrag (zitiert nach “Der Standard”). Doch die EU schaut mal wieder weg. Offizielle Statements oder gar Solidaritäts-Bekundungen mit den Demonstranten sucht man in Brüssel vergeblich. Die Außenminister blenden die Krisen aus. Das ist nicht erstaunlich. Seit dem “Arabischen Frühling” fürchtet man in der EU vor allem eins: Unruhe. Und seit den Protesten der Gelbwesten in Frankreich gilt Ruhe als erste Bürgerpflicht. Erstaunlich ist hingegen, dass die EU unbeirrt an jenem neoliberalen Wirtschaftssystem festhält, das die Proteste und Aufstände in aller Welt provoziert hat. Hier ein paar Beispiele…“ Beitrag von Eric Bonse vom 13. November 2019 auf seinem Blog LostinEU
Dies ist die Rechnung: Eine Protestwelle rollt über den Globus, denn eine Generation fürchtet um ihre blanke Existenz
„Ich bin 22 Jahre alt und das ist mein Abschiedsbrief“, sind die ersten Worte des jungen Mannes. Der Großteil seines Gesichts ist mit einem schwarzen Tuch verhüllt; nur die Augen sind zu sehen mit ihrem müden und harten Blick unter dem ungeordneten Pony. „Ich habe Angst, dass ich sterben und euch nie wiedersehen werde“, fährt er mit zitternden Händen fort. „Aber ich habe keine Wahl, als auf die Straße zu gehen.“ Der namenlose Demonstrant, einer von vielen in Hongkong, die ihren Familien und Freunden schreiben, bevor sie sich wachsender Polizeigewalt in der Stadt entgegenstellen, ist von der New York Times in einem anonymen Treppenhaus mit der Kamera aufgenommen worden. Aber er hätte überall sein können, und das nicht nur, weil die Wände hinter dem 22-Jährigen weiß und nichtssagend sind, um seine Identität zu schützen. Von Ostasien bis Lateinamerika, von Nordeuropa bis Nahost versammeln sich gerade junge Leute in Hauseingängen und Hinterhöfen, Gassen und Kellern, deren Gesichter eine ähnliche Mischung aus Hochgefühl und Erschöpfung zeigen. (…) Eine offensichtliche Erklärung für das Phänomen des Aufruhrs ist auch die oberflächlichste: die Rolle der sozialen Medien. Sicher haben die digitalen Technologien flexiblere und horizontalere Organisationsmöglichkeiten geschaffen. Aber die Allgegenwärtigkeit dieser Werkzeuge im Jahr 2019 sagt nichts über die Motive, die die Menschen auf die Straßen treiben. Tatsächlich sind die sozialen Medien in vielen Staaten heute sowohl Instrument der staatlichen Repression wie der Revolte. Die wichtigste Gemeinsamkeit des Aufruhrs resultiert aus der Generation, die sich zeigt. Die Mehrheit derjenigen, die heute demonstrieren, sind Kinder der Finanzkrise von 2008/09. Eine Generation, die in den seltsamen und fiebrigen Jahren nach dem Kollaps einer kaputten ökonomischen und politischen Orthodoxie groß wurde, für die bisher kein Ersatz in Sicht ist. (…) Angesichts ihres ökonomischen und sozialen Scheiterns ist es nun für die Eliten schwieriger geworden, ihren Machtanspruch zu rechtfertigen. Sie werden von einer Generation herausgefordert, die von Hoffnungslosigkeit und Hoffnung zugleich befallen ist. Dies führt zu einer „Verzweiflungsmüdigkeit“, wie das der Anthropologe David Graeber nennt. Wenn es die gibt, setzen die Aufbegehrenden umso mehr ihre Körper aufs Spiel. Sie tun das, weil sie meinen, keine Wahl zu haben, und weil jene, die über sie herrschen, selten weniger angreifbar wirkten als jetzt. Die meisten der Demonstranten haben ihr Leben lang unter dem Druck der Maxime „Es gibt keine Alternative“ gelebt. Jetzt aber zwingen die Umstände dazu, die eigene politische Vorstellungskraft für die Suche nach etwas Neuem zu gebrauchen. Wie es ein Protestplakat in Chile formuliert: „Es geht nicht um 30 Pesos, es geht um 30 Jahre.“…“ Beitrag von Jack Shenker vom 11. November 2019 aus ‚der Freitag‘ 45/2019 (Übersetzung: Carola Torti)
Organisierung, nicht Organisation – Die Proteste in unterschiedlichen Teilen der Welt bringen die Frage nach gesellschaftlichen Alternativen aufs Tableau
„… Das Politische hat wieder verstärkt die Bühne betreten. Ein weltweiter Klassenkampf tobt. (…) Mario Neumann hat sich in seinem Beitrag auf der Suche nach den Gemeinsamkeiten der aktuellen Aufstände gemacht und dabei viel richtiges aufgeschrieben. Am Ende verrennt er sich jedoch in der Frage, welche »politische Kraft (…) die Macht der Menge, die sich in den Aufständen Bahn bricht, wirklich in eine politische Veränderung umsetzen« kann. Die Frage ist insofern falsch, da die Gemeinsamkeit der Bewegungen doch genau darin besteht, dass die bestehenden Apparate der Parteien und Gewerkschaften ihnen zumeist hinterherhinken oder komplett überflüssig gemacht wurden. (…) Die Protestierenden kommen aus diversen (sub)proletarischen Milieus, widerständigen Subkulturen und den Resten der alten Arbeiter*innenbewegung. Somit bilden sie keine Einheitlichkeit und Eindeutigkeit im Sinne einer Organisation, sondern sind ein vielfältiges Mosaik. Dessen Unklarheit gilt es auszuhalten, seine produktive Seite zu verstehen. (…) Ihr Kern besteht darin, die Bedingungen zu schaffen, unter denen die Menschen den Weg des kollektiven Widerstands wählen und die herrschende Ordnung radikal herausfordern. Eine politische Organisation kann da nur »eine Ordnung im Dienste der Unordnung« sein, wie der französische Philosoph Alain Badiou meint. Für den Kapitalismus ist diese Unordnung der Klassenkampf von unten, indem sich die Beteiligten selbst verbünden.“ Eine Antwort auf Mario Neumann von Christopher Wimmer bei neues Deutschland vom 10. November 2019
Weltweite Proteste – Hintergründe und Fakten
„Von Hongkong bis La Paz, von Port-au-Prince bis Quito, von Barcelona bis Beirut und Santiago de Chile – mit einer riesigen Protestwelle fordert die Zivilgesellschaft von den Verantwortlichen Veränderung. Die Anzahl derer, die weltweit auf die Straßen gehen, scheint in den letzten Monaten stetig zuzunehmen. Leider ist der Umgang mit diesen Protesten überall ähnlich: Der Staat reagiert mit äußerster Härte, immer wieder werden schwere Menschenrechtsverletzungen gemeldet. Bis Oktober 2019 hat Amnesty International bei Protesten in Bolivien, Libanon, Chile, Spanien, Irak, Guinea, Hongkong, Großbritannien, Ecuador, Kamerun und Ägypten Hinweise auf Menschenrechtsverletzungen dokumentiert. In Hongkong dauern die Proteste trotz des harten Vorgehens der Polizei noch immer an. In anderen Ländern wurden Proteste durch Maßnahmen wie Massenfestnahmen schnell unterbunden. So wurden in Ägypten im September mehr als 2.300 Menschen bei Demonstrationen festgenommen. Falls es zum Prozess kommt, wäre das das größte Strafverfahren im Zusammenhang mit Protesten in der Geschichte Ägyptens. Amnesty International betont immer wieder, dass friedlicher Protest kein Verbrechen ist, sondern ein Menschenrecht. Doch die Reaktionen der Regierungen auf die Proteste waren größtenteils völlig unverhältnismäßig und ungerechtfertigt – und damit rechtswidrig. Die Demonstrierenden üben ein Menschenrecht aus. Das sollte ihnen erlaubt werden. Und was genauso wichtig ist: Auch die Gründe, warum die Menschen auf die Straße gehen, haben oft mit Menschenrechten zu tun…“ Analyse vom 1. November 2019 von und bei Amnesty International Deutschland
Quelle: labournet.de… vom 4. Dezember 2019
Tags: Arbeiterbewegung, Frauenbewegung, Neoliberalismus, Strategie, Widerstand
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