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USA: Klassenkampf, Pandemie und der Aufstand gegen die Polizei

Eingereicht on 19. Juni 2020 – 14:47

Juan Cruz Ferre. Im Klassenkampf sind wir in eine neue Periode getreten. Diese ist gekennzeichnet durch eine Verschiebung der politischen Situation nach links, durch Versuche die störende antirassistische und antipolizeiliche Bewegung zu kooptieren, und durch zwei Akteure – die Arbeiterbewegung und die sozialistische Linke –, die daraus viel stärker hervorgehen könnten, sofern sie sich der Situation gewachsen zeigen.

Seit Anfang 2020 sind zwei politische Erdbeben über die USA hinweggerollt: Einerseits die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Folgen der Covid-19-Pandemie. Andererseits der Aufstand gegen rassistische Polizeirepression. Die Kombination dieser beiden einschneidenden Ereignisse verändert die Parameter des Klassenkampfes in den USA. Wir möchten im Folgenden auf sechs Aspekte dieser Veränderungen eingehen. 

  1. Eine Verschiebung nach links

Als erstes ist festzustellen, dass der anhaltende Aufstand gegen Polizeibrutalität und systemischen Rassismus einen Linksruck in der politischen Situation darstellt. Es hat nicht nur drei Wochen hintereinander in Dutzenden von Städten in den USA große (in einigen Fällen sehr starke) Mobilisierungen gegeben, sondern auch, und das ist das Wichtigste dabei, ist die Unterstützung für diejenigen, die trotz des Risikos, an COVID-19 zu erkranken, mobilisieren, sehr breit. Umfragen zeigen, dass den meisten Menschen die rassistische Polizeibrutalität bewusst ist und sie verurteilen – und diese Zahlen steigen bei jungen Erwachsenen auf über 80 Prozent. Eine solch tiefgreifende Infragestellung der ersten Verteidigungslinie des kapitalistischen Staates markiert einen Wandel in der Art und Weise, wie die Menschen über Politik und Regierung denken. 

Im Jahr 2016 markierte die Wahl von Donald Trump einen Rechtsruck in der politischen Situation in den USA. Wie wir jedoch auf diesen Seiten dargelegt haben, war die allgemeine Situation eher durch Polarisierung als durch einen unidirektionalen Rechtsruck gekennzeichnet. Mit anderen Worten: Donald Trump verfolgte eine Politik, die reaktionärer war als das wirkliche politische Bewusstsein unter den Menschen der Arbeiterklasse und das Kräftegleichgewicht zwischen den Klassen. 

Aktuell verschiebt sich das politische Gleichgewicht eher nach links. Dies wird deutlich an den Massen von Menschen signalisiert wird, denen (wieder einmal) die Realität eines anhaltenden, brutalen Rassismus in den USA bewusst wird und die die Polizei verurteilen. Es ist kein Wunder, dass Trump seit Beginn der Proteste völlig aus dem Takt gekommen ist. Anstatt Lippenbekenntnisse zu liberalen Ideen von Demokratie und Gleichberechtigung abzugeben, hat er die Flammen mit Twitter-Drohungen an die Protestierenden und der Weigerung, irgendein Fehlverhalten der Polizei zuzugeben, geschürt – und seine Umfragewerte sacken ab.

  1. Zwei Papiertiger gehen in den Flammen unter

Zwei Grundpfeiler der kapitalistischen Demokratie standen vor einer weit verbreiteten Herausforderung: Die Despotie des Kapitals am Arbeitsplatz und die Achtung von Recht und Ordnung – insbesondere der Strafverfolgungsbehörden. Als sich die Pandemie in den USA ausbreitete und das Leben von Beschäftigten im Gesundheitswesen und anderen Lohnabhängigen an vorderster Front ohne angemessenen Schutz forderte, verloren viele ihre Angst vor der Konfrontation mit den Bossen. Die Widersprüche zwischen denen, die jeden Tag schuften mussten, um ein Einkommen zu erhalten (und dabei ihr Leben und das ihrer Familien riskierten), und denen, die Menschen einstellten, um für sie zu arbeiten um Profit zu erzielen, ohne dabei den Hals zu riskieren, traten in aller Deutlichkeit zutage. Mitarbeiter des Gesundheitswesens in New Yorker Krankenhäusern riefen ihre CEOs auf, die sich sicher nach Florida zurückgezogen hatten. Amazonmitarbeiter prangerten ihre unsicheren Arbeitsbedingungen an, während Jeff Bezos sein Vermögen um Milliarden erhöhte

Ein paar Monate nach dem Einsetzen der Pandemie, nachdem das Video von George Floyds Ermordung aufgetaucht war, wurde die öffentliche Meinung gegenüber der Politik von «Recht und Ordnung» skeptisch. Nicht, dass Polizisten vor dem abscheulichen Mord an Floyd durch die Polizei von Minneapolis besonders gerne gesehen gewesen wären. Aber die Kombination der rassistischen Morde an George Floyd und Breonna Taylor (zusammen mit Ahmaud Arbery, der von einem ehemaligen Polizeibeamten getötet wurde) mit der rücksichtslosen Unterdrückung von Demonstranten führte zu einer weiteren Delegitimierung der Ordnungskräfte. Die Mitarbeiter des Gesundheitswesens, die auf dem Höhepunkt der Pandemie als Helden gefeiert wurden, werden jetzt von der New Yorker Polizei verhaftet. Massen von Demonstranten widersetzten sich den Ausgangssperren, prangerten die Brutalität der Polizei an, und die öffentliche Meinung einer wandte sich rasch starken Unterstützung der Mobilisierung für Black Lives Matter gegen die polizeilichen Gewalttaten zu.

  1. Polizisten sind keine Freunde der Arbeiterklasse

Der Kampf in den eigenen Reihen der Arbeiterbewegung für den Ausschluss von Polizisten aus unseren Organisationen hat wieder an Zugkraft gewonnen. Es begann damit, dass der Präsident der AFL-CIO von Minnesota den Präsidenten der Polizeigewerkschaft von Minnesota zum Rücktritt aufrief, ein Aufruf, der von anderen in Minnesota und anderswo aufgegriffen wurde. Einige Gewerkschaften gingen darüber hinaus und forderten den Ausschluss von Polizeigewerkschaften aus der AFL-CIO und ihren Mitgliedsgewerkschaften (die Internationale Gewerkschaft der Polizeibeamten ist direkt der AFL-CIO angeschlossen, aber andere Gewerkschaften wie AFSCME, CWA und SEIU vertreten Strafverfolgungsbeamte). Dies ist eine notwendige Debatte innerhalb unserer Gewerkschaften und kann das Klassenbewusstsein der Gewerkschaftsmitglieder erhöhen: Die Polizei war immer und wird immer ein Feind der Arbeiterklasse sein, von deren Organisationen und Aktivisten, die die von den Bossen und der Regierung auferlegten Grenzen ausreizen, die sich an legalen und illegalen Aktionen beteiligen, um für die Interessen der Arbeiterklasse zu kämpfen. Die Polizei wird immer ein Feind der Minderheiten innerhalb der Arbeiterklasse sein, von denjenigen, die unter den Arbeitern und Arbeiterinnen am meisten unterdrückt werden. 

Und dieser Aspekt hat einen besonderen Einfluss auf die Strategie und Taktik der Linken. Einige verwirrte Sozialisten argumentieren, dass Polizisten «Arbeiter in Uniform» seien, und sehen dabei an der Tatsache vorbei, dass die Polizei im Kapitalismus eine besondere Rolle spielen muss: Streikende Arbeiter zu unterdrücken, die am stärksten Unterdrückten in unseren Reihen zu terrorisieren und zu disziplinieren und sie davon abzuhalten, gegen ein zutiefst ungerechtes System zu rebellieren. Um die am meisten Unterdrückten in unserer Klasse für eine sozialistische Perspektive zu gewinnen – und eine potentiell revolutionäre Kraft zu gewinnen –, müssen wir zeigen, dass die Arbeiterklasse und ihre Organisationen kämpfen können und wollen, um Rassismus, Sexismus und alle Arten von Unterdrückung zu bekämpfen. Während sich die Gewerkschaftsbürokraten damit begnügen, ihre beitragszahlende Mitgliedschaft beizubehalten, selbst wenn Polizisten unter ihnen sind, um ihre Gewerkschaft am Laufen zu halten, müssen wir Sozialisten für die Hegemonie der Arbeiterklasse kämpfen: Das bedeutet zu zeigen, dass die als Klasse organisierten Arbeiter und Arbeiterinnen die einzigen sind, die bis zur letzten Konsequenz kämpfen, um alle Arten von Unterdrückung zu beenden. Wenn wir die gegenwärtige Empörung gegen die Polizei ausnutzen und sie in einen pauschalen Ausschluss von Polizisten aus der Arbeiterbewegung verwandeln, werden die Gewerkschaften sofort stärker und in einer viel besseren Position sein, um das rassistische kapitalistische System zu bekämpfen.

Dieser Anstoss kommt zu einem Zeitpunkt, da die Gewerkschaften unter dem Druck stehen, sich zu transformieren, zu demokratisieren und kämpferischer zu werden. Während der Covid-19-Pandemie gab es eine Welle von wilden Streiks, Arbeitsniederlegungen und Arbeitsverweigerungen. In einigen Fällen, wie beim Instacart-Streik, waren diese Aktionen nationale Phänomene. Angesichts der aktuellen Wirtschaftskrise, der anhaltenden Verbreitung des neuartigen Coronavirus und der radikalisierenden Wirkung der Anti-Polizei-Proteste ist damit zu rechnen, dass es immer mehr Fälle von breiten Mobilisierungen geben wird, die ihre Gewerkschaftsführungen herausfordern werden.  

  1. Zugeständnisse von oben mit einigen Siegen für die Bewegung

Viele Gemeinden sind dazu übergegangen, Würgegriffe zu verbieten (obwohl viele dies bereits vor Jahren getan hatten), geringfügige Kürzungen ihrer Polizeibudgets vorzunehmen, den Transfer von militärischer Ausrüstung an lokale Polizeidienststellen zu stoppen und zumindest auf dem Papier die Rechenschaftspflicht um ein gewisses Mass zu erhöhen. All diese Schritte sind weitgehend symbolische Zugeständnisse, wenn man bedenkt, dass ein großer Teil der Protestierenden die völlige Abschaffung der Polizei fordert. Und vergessen wir nicht, dass Eric Garner 2014 von einem Polizeibeamten erwürgt wurde, 11 Jahre nachdem New York City ein Würgeverbot erlassen hatte. Unter unüberwindlichem Druck der Bewegung gegen Polizeibrutalität gelobte eine vetosichere Mehrheit des Stadtrates von Minneapolis, die Polizei von Minneapolis aufzulösen. Einzelheiten darüber, was sie diese ersetzen würde, sind jedoch noch nicht bekannt. Klar ist jedoch, dass es im Kapitalismus keine Abschaffung der Strafverfolgung geben kann. Solange unsere Gesellschaft in Klassen geteilt ist, wobei die eine die absolute Kontrolle über die produktiven Ressourcen ausübt und die andere, die die überwiegende Mehrheit von uns ausmacht, in den Arbeitsmarkt geworfen wird und um ihr Überleben kämpft; um diese grosse Mehrheit der Arbeiterinnen und Arbeiter unter Kontrolle zu halten, vor allem jene wachsende Zahl der Lohnabhängigen, die chronische Arbeitslosigkeit und Entbehrungen erdulden müssen, wird ein Repressionsapparat des Staates notwendig sein. 

Gleichzeitig sind die Infragestellung und mögliche Aufhebung der qualifizierten Immunität, der Stopp des Transfers von militärischer Ausrüstung an die Polizei, sofern dies denn wirksam wird und die formelle Beschränkung der Gewaltanwendung durch die Polizei, einschliesslich des Einsatzes von Massenvernichtungswaffen, Zugeständnisse, die die Bewegung stärken. Mehr Kontrolle, strengere Grenzen für das Verhalten der Polizei und mehr Rechenschaftspflicht für Strafverfolgungsbeamte bedeuten eine Verringerung der Feuerkraft des Staates. Sie setzt Grenzen für die «legitime Gewaltanwendung», die der Staat gegen jeden anwenden kann, der das Regime in Frage stellt. 

  1. Radikalisierung einer neuen Generation von Sozialisten und Sozialistinnen

Bis Anfang dieses Jahres war eine junge Generation von Sozialisten in einem Dampfkochtopf angeschmort, durch den Rückgang ihrer Lebensqualität im Vergleich zu der ihrer Eltern gehärtet, durch den Aufstieg eines rassistischen Frömmlers ins Oval Office mobilisiert und durch Wahlkampagnen, insbesondere durch die Kandidatur von Bernie Sanders für das Präsidentenamt, aufgeheizt worden. Jetzt wird der Klassenkampf intensiver. Mit den Lehrerinnen und Lehrern eröffnete sich im Frühjahr 2018-2019eine neue Periode, und der Kampf gegen die unsicheren Bedingungen während der Pandemie läutete einen weiteren Aufschwung im Klassenkampf ein. Doch mit den antirassistischen Protesten nach der Ermordung von George Floyd erhöhte sich die Intensität des Klassenkampfes um Grössenordnungen. Diese neue Generation von Sozialisten und Sozialistinnen nimmt nun an Zusammenstößen mit der Polizei teil und macht dabei eine Erfahrung mit demokratischen Gouverneuren und Bürgermeistern, die nichts Besseres zu bieten haben als ihre republikanischen Amtskollegen. Für die sozialistische Linke gibt es eine hervorragende Möglichkeit, in diese Kämpfe mit ihren eigenen Losungen einzugreifen, ein antikapitalistisches Programm vorzuschlagen – ausgedrückt durch ihre eigenen unabhängigen sozialistischen Kandidaten – und die Bewegung auf nationaler Ebene mitzugestalten und zu koordinieren. Die einzige Organisation, die diese Rolle heute spielen könnte, wäre die DAS; ihre Bemühungen jedoch waren angesichts den Anforderungen der Situation vollständig verfehlt. Eine Konvergenz der neuen sozialistischen Bewegung und der Bewegung gegen Rassismus und Polizeibrutalität hätte das Potential, die amerikanische Politik dauerhaft umzugestalten.

  1. Die Wirtschaft als Störfaktor

Vor zwei Wochen überraschte der plötzliche Rückgang der Arbeitslosigkeit so ziemlich jeden. Selbst als das Bureau of Labor Statistics zugab, dass die Arbeitslosenquote für Mai aufgrund eines «Klassifizierungsfehlers» unterschätzt worden war; trotzdem triumphierte Trump. Wer sich nichts vormacht, weiss, dass die wirtschaftliche Erholung noch in weiter Ferne liegt. Auch wenn Millionen von Menschen jegliche staatliche Hilfe verweigert wurde, federn die Konjunkturprogramme und die erweiterten Arbeitslosenleistungen die Auswirkungen der Krise auf die Menschen der Arbeiterklasse ab. Das Geld aus dem Konjunkturscheck ist noch weit weg, und die Arbeitslosenunterstützung wird nicht für die Dauer dieser Krise reichen. Es ist wahrscheinlich, dass die Unruhen in dem Masse zunehmen werden, wie die Krise anhält und es den Lohnabhängigen und kleinen Ladenbesitzern immer schwerer fällt, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. 

Darüber hinaus wurde am Aktienmarkt fast der gesamte in den tragischen Märztagen verlorene Wert wiedergewonnen, aber die Instabilität ist nicht verschwunden. In der vergangenen Woche fielen die Aktien erneut, was zeigt, dass Volatilität nach wie vor die Regel ist. Diese Oszillationen sind nur ein Vorbote eines sich für die Weltwirtschaft abzeichnenden grossen Absturzes. Wie Michael Roberts zeigt, ist die gute Entwicklung der Aktienkurse ein direktes Ergebnis einer massiven Geldspritze der Zentralbanken («power money»), die Ende 2020 fast ein Viertel des nominalen BIP der Welt ausmachen würde. Mit anderen Worten: Boomende Aktien sind nur der sichtbare Ausdruck einer globalen Finanzblase, die von den Zentralbanken finanziert wird. Die politischen Folgen eines Finanzcrashs in der nahen Zukunft sind vor dem Hintergrund der weit verbreiteten Arbeitslosigkeit, der Massenmobilisierungen und der Infragestellung des Staates – zumindest seines repressiven Arms – schwer vorherzusehen.

Quelle: leftvoice.org… vom 18. Juni 2020; Übersetzung durch Redaktion maulwuerfe.ch

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