Frankreich: Einige Siege für Lohnabhängige und weitere Proteste
Bernard Schmid. Macron nutzt die Coronakrise für neue repressive Bestimmungen im Arbeitsrecht – Gewerkschaften im Gesundheitssektor rufen die Allgemeinheit zu Großdemonstrationen am 16. Juni dieses Jahres auf – Die den dortigen Beschäftigten versprochene Lohnprämie floss noch immer nicht, in manchen Krankenhäusern soll sie nun nach einer „Quote“ nur an einen Teil der Belegschaft ausbezahlt werden – „Sieg“ für Beschäftigte bei Amazon: Der Konzern verzichtet auf Revision gegen seine Verurteilung und ging ein Abkommen mit SUD, CGT und CFDT ein – Regierung nutzt die Krise, um befristete Arbeitsverträge erheblich zu erleichtern
Nun öffnen die Konzernfilialen von Amazon in Frankreich erneut (vgl. lesnumeriques.com…). Doch es handelt sich nicht um eine Niederlage für die abhängig Beschäftigten dort. Die linksgewerkschaftliche Union syndicale Solidaires (d.i. der Zusammenschluss, dem die Basisgewerkschaften SUD angehören) spricht von einem „vollständigen Sieg“ der Lohnabhängigen (solidaires.org…).
Die Union syndicale Solidaires war die Klägerpartei, welche mit ihrer Zivilklage dafür sorgte, dass Amazon am 14. April erstinstanzlich in Nanterre und dam 24. April in der Berufungsinstanz in Versailles wegen Gesundheitsgefährdung der dort arbeitenden Lohnabhängigen in der Corona-Krise verurteilt wurde. (Wir berichteten ausführlich) Die Wiedereröffnung, die sich nun über drei Wochen hinziehen wird, erfolgt auf der Grundlage eines Protokolls, das zwischen der Unternehmensleitung einerseits und den drei dort vertretenen Gewerkschaften SUD, CGT und CFDT andererseits vereinbart worden ist. Alle drei zusammen schlugen der Direktion zuvor eine kontrollierte Wiederöffnung nach erfolgter konkreter Risikoanalyse für alle Arbeitsplätze unter Einbeziehung der Beschäftigten und ihrer Vertreter/innen vor.(Vgl. dazu leparisien.fr… und usine-digitale.fr… sowie lepoint.fr…) Auch FO (Force Ouvrière) als vierte Gewerkschaft soll, lt. CFDT, ebenfalls ihre Zustimmung erteilt haben (vgl. dazu cfdt.fr…).
Das Protokoll sieht, neben der lange geforderten und nun durchgesetzten Arbeitsplatz-Risikobewertung, auch eine Freiwilligkeit bei der Wiederaufnahme der Tätigkeit für die Lohnabhängigen vor. (Das derzeit gültige Gesetz zum „sanitären Ausnahmezustand“ in Frankreich ist ja noch bis zum 10. Juli dieses Jahres in Kraft.)
Amazon zog unterdessen die angekündigte Revision gegen die o.g. Urteile zurück. (Vgl. lefigaro.fr…)
Unerfreulicher ist unterdessen ein Vorstoß des Regierungslagers unter Ausnutzung des sanitären Notstands: Am vorigen Freitag, den 15.05.20 nahm die Nationalversammlung neue Bestimmungen im Arbeitsrecht unter dem Vorwand der Seuchenkrise an, die bis Jahresende 2020 gelten sollen. Darin ist enthalten, dass Vereinbarungen im einzelnen Unternehmen die gesetzlichen Bestimmungen zum Abschluss von befristeten Verträgen (französisch: CDD, contrats à durée détérminée) sowie zur Leiharbeit (französisch: intérim) aushebeln können. So soll eine Unternehmensvereinbarung die gesetzlich zulässige Höchstzahl von Verlängerungen im befristeten Vertrag (ohne zwingende Umwandlung in einen unbefristeten) umgehen können. (Vgl. dazu mediapart.fr… und revolutionpermanente.fr…
Kristallisationskern: Protest im Gesundheitswesen
Eine „Aufwertung“ der Gesundheitsberufe, verbesserte Arbeitsbedingungen hatte das Regierungslager seit Ausbruch der Corona-Krise immer wieder versprochen. Jedenfalls auf verbaler Ebene.
Zu Anfang dieser Woche koppelte Gesundheitsminister Olivier Véran dies, insbesondere die Frage einer Lohnerhöhung, allerdings mit einer Frage zusammen: jener der Arbeitszeitregelung. Und zwar, indem er ein „Aufweichen“ der angeblich starren 35-Stunden-Woche im Gesundheitswesen versprach. (Vgl. dazu lefigaro.fr… und lefigaro.fr…)
Eine gesetzliche Regelarbeitszeit von 35 Stunden wöchentlich gilt in Frankreich seit einem sozialdemokratischen Gesetz vom 19. Januar 2000. Schon immer ließ es jedoch Arbeitgebern viel Spielraum für Flexibilität, denn die Durchschnittsdauer von 35 Stunden wöchentlich muss lediglich im Mittelwert eines Ausgleichszeitraums erreicht werden. Dieser betrug damals ein Jahr, seit der „Arbeitsrechts-Reform“ (Loi Travail) unter François Hollande 2016 kann er auf bis zu drei Jahre ausgedehnt werden, sofern manche Gewerkschaften im Unternehmen zustimmen. Was Olivier Véran im Kern verspricht, ist nichts Anderes, als dass der Verdienst am Monatsende durch Mehrarbeit und Überstunden verbessert werden könnte.
Zusätzlich soll es allerdings eine Lohnprämie als Einmalzahlung für die „Helden“ der Corona-Krise geben, um ihr Arbeitsrisiko in Seuchenzeiten zu honorieren, sowohl für Menschen in Gesundheitsberufen als auch für Arbeitskräfte in Lebensmittelläden und Supermärkten; in den letzteren Fällen lockt die Regierung die Unternehmen mit Steuererleichterungen, falls sie so verfahren. Ihre Höhe wurde ursprünglich mit 1.500 euro angekündigt. (Jedoch nur 500 Euro in Krankenhäusern, die nicht in Covid 19-Krisenregionen lagen; der Ausschluss der Krankenhäuser in Nizza, Cannes und Grasse, wo ebenfalls Covid 19-Patient/inn/en behandelt wurden, die z.T. aus anderen Regionen aufgrund vorhandener Engpässe an Behandlungskapazitäten dorthin verlegt wurden, von der vollen Prämie rief den Zorn selbst konservativer dortiger Bürgermeister hervor! (Vgl.: francetvinfo.fr…)
Die Krankenschwestern und -pfleger erhielten diese versprochene Einmalzahlung allerdings bis heute nicht, da ein Regierungsdekret dazu fehlte. Dieses wurde vor wenigen Tagen veröffentlicht (vgl. laprovence.com…), die Prämie soll nun Ende Mai oder aber „bis im Juni“ ausbezahlt werden. Überdies wurde publik, dass die Auszahlung mancherorts über einen längeren Zeitraum, jedenfalls über einen Monat hinaus gestreckt werden könnte (laut dem Notaufnahme-Mediziner und Protestbewegungsaktivisten Gilles Pialoux beim Sender BFMTV am Vormittag des Samstag, den 16.05.20). Unterdessen diskutierte die Regierung über eine „Medaille“, die den Beschäftigten in Gesundheitsberufen – sozusagen zum Trost – verliehen werden solle, was allerdings eher Protest denn Freude hervorrief und vielfach als Hohn aufgefasst wurde… (Vgl. etwa: lci.fr…, midilibre.fr… oder francetvinfo.fr…; und einen Wortwechsel dazu zwischen einem betroffenen Gewerkschaftsmitglied und Staatspräsident Macron bei seinem Krankenhausbesuch am 15.05.20 (nach dem Motto, wer das Trostpflaster nicht will, soll es eben lassen): letelegramme.fr…. Vgl. auch das Titelthema der linksliberalen Tageszeitung Libération vom Freitag, den 15.05.20 zu dem „Medaillenstreit“: liberation.fr…)
Am Mittwoch, den 20.05.20 wurde nun allerdings zusätzlich bekannt, in manchen Krankenhäusern werde es eine „Quote“ für die Auszahlung der Lohnprämie geben, also nur ein Teil der Beschäftigten in ihren Genuss kommen. (Vgl. lefigaro.fr… und lci.fr…) (Und auch nicht alle Supermarktketten spielen mit. Bei Monoprix wurden überdies zwei Beschäftigte in den Pariser Vorstädten Boulougne-Billancourt und Issy-les-Moulineaux von der Lohnprämie ausgeschlossen, weil sie ja im fraglichen Zeitraum gefehlt hätten. Beide lagen mit Covid-19 auf der Intensivstation. Wir berichteten darüber)
Verschiedentlich bereits kam es in den letzten Wochen zu Protesten bzw. Protestversuchen. Am 1. Mai d.J. wurde mancherorts versucht, zu demonstrieren – zu der Zeit waren durch das „Gesetz zum sanitären Ausnahmezustand“ Versammlungen erst ab 100 Personen verboten (nicht bis zu zehn, wie wir vor kurzem irrtümlich schrieben, wobei das Regierungslager selbst diese Obergrenze von 100 mutmaßlich versehentlich in das Dekret n° 2020-2093 vom 23.03.2020 hineinschrieb; in ihrer öffentlichen Kommunikation war davon nie die Rede… doch im Text steht einhundert!). Allerdings brauchten Privatpersonen einen, auf einen Passierschein einzutragenden und gesetzlich vorgesehenen Grund, um das Haus zu verlassen, und Demos zählten nicht dazu. Die junge Lehrerin Amélie berichtet, im 18. Pariser Bezirk habe sie am diesjährigen 1. Mai von der Polizei für denselben Ausgang nicht einen, sondern zwei Strafzettel über je 135 Euro erhalten, auf derselben Straße und in einigen Minuten Abstand. Zusammen mit einigen Dutzend Anderen hatte sie am Tor des Krankenhauses Bichat an der nördlichen Pariser Stadtgrenze mit Transparenten für bessere soziale Verhältnisse und für mehr Geld im Gesundheitswesen zu protestieren versucht. In ihrem Stadtbezirk allein wurden sechzig Personen wegen verschiedener Protestversuche am 1. Mai mit Geldbußen überzogen; eine Beratung über Rechtsmittel zum Widerspruch dagegen läuft derzeit.
Seit der Aufhebung der generellen Ausgangsbeschränkungen am 11. Mai 20 gilt nun ein Verbot von Versammlungen ab elf Personen bis in den Juli hinein. Doch an jenem Montag kamen an den Eingängen von fünf Krankenhäusern in Toulouse über 1.000 externe Personen zusammen, die – dieses Mal ohne polizeiliche Sanktionen – zusammen mit dort Beschäftigten protestierten. Zu ähnlichen Aktionen kam es am Donnerstag voriger Woche (14.05.20 beim Krankenhaus Tenon im Pariser Osten), und kam/kommt es erneut am Mittwoch und Donnerstag dieser Woche (19. und 20. Mai 20) vor den Pariser Krankenhäusern Robert Debré und Tenon im 19. respektive 20. Pariser Bezirk.
A propos: Beim hôpital Tenon im zwanzigsten Arrondissement fand, wie am heutigen Mittwoch, den 20.05.20 durch einschlägige Kanäle (über die anarcho-syndikalistische CNT-SO, d.h. CNT-Solidarité ouvrière) bekannt wurde, am gestrigen Dienstag ein Streik des Reinigungspersonals statt. Tenon ist eines jener Paiser Krankenhäuser, in denen in den vergangenen Wochen Covid-19-Patient/inn/en behandelt wurde und, vor allem in der Anfangsphase – bevor die medizinischen Praktiken und Schutzmaßnahmen sich besser einschliffen bzw. ausreichend Schutzmasken usw. vorhanden waren – eine potenzielle Ansteckungsgefahr bestand. Zu Anfang hatte das durch eine Auftragsfirma beschäftigte Reinigungspersonal bereits das Recht auf individuelle Arbeitsverweigerung in einer Gefährdungssituation (droit de retrait) dafür ausüben müssen, individuelle Schutzvorrichtungen/Schutzkleidung zu bekommen, um gegen eine potenzielle Kontamination mit dem „neuartigen Coronavirus“ SARS Cov-2 gewappnet zu sein. Am gestrigen Tag nun erkämpfte sich das Reinigungspersonal mittels Streiks den Anspruch auf eine Lohnprämie in Höhe von 500 euro, da auch diese Beschäftigten im Corona-Arbeitseinsatz waren und zumindest potenziell (vor allem in der Frühphase, wie erwähnt) erheblichen Gesundheitsrisiken ausgesetzt waren. Der Arbeitgeber hatte eine Gesamtprämie von 100 euro „angeboten“. (Vgl. dazu bei der CNT-SO: cnt-so.org…)
Zum Schluss und als Ausblick:
Wie Anfang diese Woche beschlossen wurde, rufen die Gewerkschaften im Gesundheitssektor nun zu Großdemonstrationen am 16. Juni dieses Jahres auf, und nicht zwar nicht allein die Beschäftigten in Gesundheitsberufen, sondern ausdrücklich auch all ihre Unterstützer/innen. (Vgl. Kurzmeldung in der bürgerlichen Presse dazu: lefigaro.fr…) Ihr Protest könnte zum Kristallisationspunkt für verbreiteten sozialen Unmut werden. Abzuwarten, wie polizeilich damit umgegangen wird, da bei jetzigem Stand bis dahin noch ein Verbot von Versammlungen über zehn Personen besteht…
Quelle: labournet.de… vom 25. Mai 2020
Tags: Arbeiterbewegung, Arbeitswelt, Covid-19, Frankreich, Gewerkschaften, Repression, Widerstand
Neueste Kommentare