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Freihandel : Alle Macht dem Kapital ?

Eingereicht on 11. April 2014 – 17:17

Seit bald 30 Jahren erleben wir eine starke Zunahme des Welthandels und der Freihandelsverträge, wie auch eine Stagnation oder gar Verschlechterung der Arbeits- und Lebensbedingungen breiter Bevölkerungsschichten in Europa, der USA und vor allem in den Ländern des ehemaligen Sowjetblocks, eine Zunahme der imperialistischen Kriegstreiberei und eine Verschärfung der ökologischen Bedrohung. Ein Ende ist nicht absehbar. Wie sind die Zusammenhänge? Willi Eberle

Heute gibt es weltweit gemäss WTO gegen 400 Freihandelsverträge, vor 40 Jahren noch waren es weniger als zehn. Seit Anfang der 1990er Jahre wachsen sie geradezu explosiv an.

Gegen Ende der 1960er Jahre geriet die Weltwirtschaft, allen voran in Europa und den USA in eine Wachstumskrise, die die Unternehmer und ihre Regierungen nach Wegen suchen liess, die Kosten für die Krisenbewältigung auf die Arbeiterklasse und die neu entstandenen unteren lohnabhängigen Mittelschichten abzuwälzen. Dies mündete in Europa und den USA ab den 60er Jahren in mächtige Protestbewegungen, denen oft genug – in Frankreich, Italien, Griechenland, Grossbritannien, Belgien und anderswo – die Arbeiterbewegung voranging. Die Bourgeoisie musste diese Bewegungen besiegen, wollte sie die Krise in ihrem Sinne lösen.

Das Kapital reorganisiert sich im Weltmassstab

Ein wichtiges Mittel, um die ständig wiederkehrenden Überproduktionskrisen im Kapitalismus zu bewältigen, ist die Ausdehnung und Verankerung des Produktions- und Verwertungszyklus auf globaler Ebene und die Nutzung und Vorantreibung der technischen, politischen und organisatorischen Mittel, um diese Prozesse noch konsequenter der Herrschaft des Kapitals zu unterwerfen, das heisst die Ausrichtung der Produktion weltweit noch konsequenter zum Zwecke der Ausbeutung der lebendigen Arbeit zu organisieren,. Damit wurde  die Ausdehnung des Handels und der internationale Schutz des kapitalistischen Privateigentums über die nationalen Grenzen hinweg immer zentraler.

So stellt Marx in der Rede über die Frage des Freihandels bereits 1848 fest: « Um zusammenzufassen: Was ist also unter dem heutigen Gesellschaftszustand der Freihandel? Die Freiheit des Kapitals. . ..  Diese Gesetze [des Kapitalismus; Anm. we] bekräftigen sich in dem Maße, wie der Freihandel verwirklicht wird. Das erste dieser Gesetze sagt, daß die Konkurrenz den Preis jeder Ware [insbesondere den Preis der Ware Arbeitskraft. Anm. we] auf das Minimum ihrer Produktionskosten reduziert». Nun, diese Einschätzung scheint sich heute mehr denn je im Weltmassstab zu bestätigen.

Die politische Schwäche der Lohnabhängigen

Ein wichtiger Indikator für die Schwächung der Position der Lohnabhängigen ist der stete Rückgang der Lohnquote, des Anteils der Löhne am Bruttosozialprodukt gegenüber dem Anteil der Profite, der Profitquote. Die Lohnquote nimmt seit der Mitte der 1970er Jahre in den industrialisierten Ländern tendenziell ab und zwar von Werten über 70% (je nach Land gar gegen 80%) auf Werte zwischen 50 und 60%. Währenddessen hat die Arbeitsproduktivität je Lohnabhängigen um mehr als 50% zugenommen, so dass der Gewinn aus dieser Zunahme immer stärker dem Kapital als Profit zugutegekommen ist. Es hat seine Möglichkeiten ausgebaut, gerade auch über eine Neuausrichtung der Produktions- und Verteilungsketten die Produktion dort zu allozieren, wo die Kosten, insbesondere die Löhne, am tiefsten und weitere Bedingungen (Rechtssicherheit, berufliche Qualifikationen, politische Stabilität, Steuern, fortgeschrittene Liberalisierung des Arbeitsmarktes etc.) optimal sind.

Ein weiteres Indiz für die immer ungünstigere Position der Lohnabhängigen im Zeitalter der Freihandelsverträge ist die immer ungleichere Reichtums-Verteilung. Während sich das Vermögen der Milliardäre seit 2008  weltweit verdoppelt hat, gibt es heute über eine Milliarde Menschen, die von weniger als einem Dollar am Tag leben. Beinahe die Hälfte der Weltbevölkerung, über drei Milliarden Menschen, stehen weniger als 2,50 Dollar täglich zur Verfügung. Die ILO berichtet, dass 2013 die Zahl der arbeitslosen Menschen weltweit um fünf Millionen auf 202 Millionen anwuchs. Das entspricht einer weltweiten Arbeitslosenrate von rund 6%. Nach Schätzungen der Uno-Organisation dürfte die tatsächliche Arbeitslosenrate allerdings noch um einiges höher liegen, da Personen, welche die Arbeitssuche aufgegeben haben, in den ILO-Statistiken nicht mehr berücksichtigt sind. Allein im Jahr 2013 sollen 23 Mio. Personen die Arbeitssuche aufgegeben haben.

Die Illusion der Klassenzusammenarbeit für Wachstum

Weshalb hat die Arbeiterklasse über die vergangenen 40 Jahre  soviel Terrain verloren? Wie überall so war auch in der Schweiz die Herausbildung des Nationalstaates eng mit der Entwicklung der Arbeiterbewegung und ihrer Organisationen verbunden. Deren Hauptanliegen war und bleibt die Beteiligung an den Institutionen des bürgerlichen Nationalstaates. Dieser hatte im Rahmen der internationalen Konkurrenz zwischen den grossen Kapitalien für die günstigste Position zu sorgen. Wachstum und Schutz des einheimischen Kapitals sind die  Konsensgrundlage. Dies verstärkte sich in den Krisen ab den 1920er Jahren und erneut ab den 1970er Jahren.

Ab 1990 verschärften sich die Angriffe auf die Errungenschaften der Arbeiterklasse (Löhne und Renten, Arbeitsbedingungen, Demokratie, soziale Sicherungssysteme, öffentliches Eigentum, etc.). Ein wichtiges Instrument dazu sind regionale Zusammenschlüsse wie die sich herausbildende Europäische Union mit der Einheitswährung und die sich unter der Herrschaft multinationaler Konzerne vollziehende Neuorganisation der Produktions- und Verwertungsprozesse im internationalen Massstab. Dabei werden lokale Unterschiede bezüglich Löhnen, beruflichen Qualifikationen, Infrastruktur, politischer Stabilität, Steuern usw. weltweit ausgenutzt; entsprechend entfällt über 80% des Welthandels auf den Warenverkehr innerhalb der multinationalen Konzerne oder wird durch diese direkt kontrolliert. Der entfesselte Freihandel führt angesichts der anhaltenden wirtschaftlichen Wachstumsschwäche und des Fehlens genuiner politischer Instrumente der Arbeiterklasse zu einer beschleunigten Erosion der demokratischen und sozialen Errungenschaften.

Die Führungen der Arbeiterbewegung sind traditionell auf eine Vermeidung jeden Konfliktes mit der Bourgeoisie hin orientiert, abgesehen von wenigen Ausnahmen,  die aber seit vielen Jahrzehnten von der Bühne der Geschichte verschwunden sind. Die damit verbundene Bürokratisierung trieb sie notwendigerweise auf einen Konsens, um die Wachstumsschwäche seit den 1970er Jahren zu überwinden. Und da blieb nur die Stärkung der Exportorientierung und damit einhergehend letztendlich eine Förderung des Freihandels, oder doch zumindest ein sehr verhaltener Widerstand gegen die Liberalisierungen und Marktöffnungen. Die damit verknüpften Versprechungen und Illusionen sind nun durch den Strom der Geschichte weggespült worden.

Tiefsitzende Ablehnung des kapitalistischen Privateigentums

Seit über 200 Jahren gab es nie einen Volksaufstand für mehr Markt, Freihandel und schon gar nicht für mehr Privateigentum an den Produktionsmitteln. Im Gegenteil: Die meisten modernen Aufstände und Revolutionen haben Ansätze von Selbstorganisation basierend auf kollektivem Eigentum entwickelt. Sie hatten von daher einen proletarischen Klassencharakter, selbst wenn es oft Bauern waren, die die Masse ausmachten. Solche Ansätze wurden mit den brutalsten Methoden zerschlagen; man denke etwa an die Bluttaten gegen die Pariser Aufstände von 1848, die Pariser Kommune, die Russische Revolution, die deutsche Revolution, die spanische Revolution, die ungarische Rätebewegung von 1956, die chilenischen cordones 1973, die Rätestrukturen in Portugal 1974, in Polen 1981, in Iran 1980, usw. usf. Immer wurden von unseren Herrschenden den Cavaignacs, Noskes, Mussolinis, Francos, Pinochets, Videlas etc. anerkennend auf die Schultern geklopft. In solchen heiklen Momenten kennt die Bourgeoisie nur eines:  bedingungslose Klassensolidarität!

Dass die Gesellschaften Osteuropas und der ehemaligen Sowjetunion nach dem Zusammenbruch von deren Regimes besonders zerstörerischen Varianten des Kapitalismus unterworfen wurden, hängt weniger mit dem politischen Willen der aufständischen Massen zusammen, als mit dem absoluten Mangel von politischen und sozialen Verteidigungsstrukturen der Klasse der Lohnabhängigen. Die aus der Bürokratie hervorgegangenen Oligarchen konnten sich mit Hilfe westlichen Kapitals und dessen politischer Unterstützung den Reichtum dieser Gesellschaften aneignen und weiterhin die politischen Schlüsselpositionen kontrollieren.

Ähnliches spielte sich in China ab, deren herrschende Clique aber den Übergang in den Kapitalismus ohne den Zerfall der politischen und staatlichen Strukturen schaffte; China ist seit ca. 10 Jahren das grösste Exportland der Welt. Als solches gewährt es ausländischen  Investoren Eigentumsgarantien, erlaubt Arbeitsbedingungen, die auf einem armseligen Existenzminimum liegen und geht gegen die sich häufenden Streiks und Arbeiter- und Bauernproteste mit brutalster Gewalt vor.

ALBA und arabische Aufstände

In einigen lateinamerikanischen Staaten kamen im Verlauf der vergangenen 15 Jahre durch Volksaufstände getragene linkspopulistische Regierungen an die Macht, allen voran in Venezuela und in Bolivien. Diese versuchen durch einen handelspolitischen Zusammenschluss, ALBA, den erdrückenden Einfluss des europäischen und vor allem des US-Imperialismus zurückzudrängen. Allerdings gewähren sie den ausländischen Investoren und der lokalen Bourgeoisie Eigentumsgarantien; die Ansätze aus der Arbeiterbewegung zur Übernahme der Kontrolle in grösseren und kleineren Unternehmen (Venezuela z.B. PDVSA, Sidor) bzw. der Indiobewegung zur Bewahrung ihrer natürlichen Lebensbedingungen (Bolivien) wurden von der Regierung gewaltsam abgewehrt. Diesen Ländern ist es zudem nicht geglückt, ihren Aussenhandel aus der tödlichen Umklammerung des Imperialismus zu befreien.

Die Wurzeln der aktuellen arabischen Aufstände liegen in der autoritären Willkür und den neoliberalen Reformen, die breiteste Bevölkerungsschichten über die vergangenen Jahrzehnte in verzweifelte soziale Situationen brachte und sie letztendlich zum Aufstand trieben. Dass die Aufstände in  diesen Ländern die existierende politische und soziale (Un-)Ordnung bislang nicht überwinden konnten, gründet im verheerenden Mangel einer unabhängigen politischen Struktur, die den revolutionären Willen der Massen auf die Ziele der politischen und sozialen Machteroberung und der Entwicklung kollektiver Eigentumsformen hin orientiert hat.

Also: Weg vom Freihandel und den kapitalistischen Eigentumsformen ! Wir halten es also mit Marx (ebd): Das Freihandelssystem «… zersetzt die bisherigen Nationalitäten und treibt den Gegensatz zwischen Proletariat und Bourgeoisie auf die Spitze. Mit einem Wort, das System der Handelsfreiheit beschleunigt die soziale Revolution. Und nur in diesem revolutionären Sinne, meine Herren, stimme ich für den Freihandel.»

Erscheint im Vorwärts vom 1.Mai 2014

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