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Frauen und wilde Streiks im Europa der Nachkriegszeit

Eingereicht on 21. Januar 2020 – 18:24

Jan De Graaf.  Wie vielfach festgestellt wurde, haben Frauen eine bedeutende Rolle in der Welle wilder Streiks gespielt, die Europa nach dem Zweiten Weltkrieg erfasste. Historikerinnen und Historiker haben gezeigt, dass Frauen, die vor und während des Krieges in großen Zahlen in die Industrie gelangt waren, sich nicht nur an den Streiks „massiv beteiligten“, sondern auch die treibende Kraft hinter den Streiks in den von Männern dominierten Industrien waren. Angesichts der katastrophalen materiellen Bedingungen, die in den ersten Jahren nach dem Krieg herrschten, ermutigten sie ihre Männer, in den Streik zu treten, oder bildeten gar Streikposten, um ‚arbeitswillige‘ Männer von der Arbeitsaufnahme abzuhalten. Mehr noch: auf den Protestversammlungen und Hungerdemonstrationen, welche die Streiks begleiteten, übernahmen sie häufig die Führung.

Indes wurde die Beteiligung von Frauen an den Streikwellen der Nachkriegszeit bisher kaum tiefgehender analysiert. Historiker und Historikerinnen begnügen sich meist damit zu argumentieren, dass Frauen, denen die Haushaltsführung oblag, besonders schwer von dem gravierenden Mangel an Lebensmitteln, Kohle und Kleidung betroff­en waren. Sie hätten die Streiks als Mittel genutzt, um sich Gehör zu verschaff­en. Die einzigen Untersuchungen, die sich mit dem Anteil von Frauen an diesen Streiks und ihrer geschlechterspezifischen Qualität eingehender befassen, behandeln das kommunistische Osteuropa. In seiner berühmten Arbeit über den Wiederaufbau Polens legte Padraic Kenney die zahlreichen Schwierigkeiten off­en, welche die (mehrheitlich männlichen) Gewerkschafter dabei hatten, mit den von Frauen geführten Streiks in der Textilindustrie von Łódż zurechtzukommen. Das beruhte darauf, dass die Auseinandersetzungen zumeist spontan, führerlos und ohne konkrete Forderungen ausbrachen. Auf seiner Forschung aufbauend zeigt Małgorzata Fidelis, wie Textilarbeiterinnen in Żyrardów ‚traditionelle Geschlechtervorstellungen‘ dazu nutzten, um den längsten Streik im stalinistischen Polen auszutragen. Während des Streiks wurde eine schwangere Textilarbeiterin, die der Werkschutz nicht anrühren würde, dazu eingesetzt, die Tür zur Spinnerei zu bewachen. Indessen dienten die Damentoiletten als improvisiertes Hauptquartier der Streikenden, da die Fabrikdirektoren diese nicht betreten konnten, um die Rädelsführerinnen des Streiks auszumachen. Allgemeiner gesprochen, erö­ffnete die doppelte Rolle der Frauen als Mütter und Versorgerinnen der Familie ihnen einen größeren Spielraum, um gegen die materiellen Härten der Nachkriegsjahre und die Anforderungen, die die kommunistischen Staaten an die Arbeiterklasse stellten, zu protestieren. Im Textilsektor von Újpest beispielsweise initiierten die Textilarbeiterinnen im Februar 1947 eine Reihe von wilden Streiks gegen die Verpflichtung zu Nachtschichten an Samstagen. Dabei beriefen sie sich darauf, dass diese sie davon abhalten würden, die Sonntage mit ihren Familien zu verbringen.

All diese Untersuchungen haben gemeinsam, dass sie sich mit Streiks in Textilunternehmen auseinandersetzen. Es gibt eine lange Tradition unter Historikern und Historikerinnen, die Überschneidungen von Geschlecht und Klasse anhand der Leichtindustrien zu untersuchen, in denen die meisten Frauen beschäftigt waren. Sie geht bis auf die Pionierarbeit von Michelle Perrot über Streiks im Frankreich des 19. Jahrhunderts zurück. Dieser Beitrag verfolgt einen anderen Ansatz. Er erforscht die Beteiligung von Frauen an wilden Streiks in einigen der traditionellen Hochburgen der Arbeiterbewegung, in denen Kohle, Metall und Stahl das Feld beherrschten. Während die Historiographie dazu tendiert, die Rolle von Frauen bei Streiks in diesen Sektoren auf ein „Unterstützungssystem für streikende Männer“ zu reduzieren, stellt sich die Situation für die Nachkriegsära mindestens aus zwei Gründen in einem anderen Licht dar. Zunächst hatten der Krieg und der wirtschaftliche Aufschwung, der mit ihm einherging, nicht nur bewirkt, dass Frauen scharenweise in die Industrie strömten. Er hatte auch zu einer merklichen Verschiebung bei der Beschäftigung von Frauen geführt: weg von den Konsumgüter produzierenden Leichtindustrien hin zu den Produktionsmittel produzierenden Schwerindustrien. Zweitens machten die hohen Opferzahlen und die Abwesenheit der Männer die Mammutaufgabe, den verwüsteten Kontinent wieder aufzubauen, und die ambitionierten Industrialisierungsprogramme (insbesondere im kommunistischen Osteuropa) die Arbeit von Frauen in der Schwerindustrie auch in den ersten Nachkriegsjahren unentbehrlich. Deshalb soll hier gezeigt werden, dass wilde Streiks in diesen einstigen Männerbastionen gleichwohl geschlechterspezifische Angelegenheiten waren.

Um dies zu belegen, nimmt dieser Beitrag die Beteiligung von Frauen an wilden Streiks in vier Industrieregionen in Ost- und Westeuropa in den Fokus: das Industriedreieck Mailand, Turin und Genua in Norditalien, das „stählerne Herz“ der Tschechoslowakei um die Großstadt Ostrava, das oberschlesische Kohlerevier um Katowice in Polen und das Ruhrgebiet in (West-)Deutschland. Der erste Teil ist den konkreten wilden Streiks und Protestaktionen gewidmet, die von Frauen initiiert oder dominiert wurden. Der Fokus liegt auf dem geschlechtsspezifischen Charakter dieser Ereignisse sowie den oft erfolglosen Versuchen der Gewerkschaften, die Aktionen zu beenden. Der zweite Teil wendet sich den Ursachen zu, die für den tiefen Graben zwischen Gewerkschaftsführungen und Arbeiterinnen verantwortlich waren. Er setzt sich mit der Diskriminierung von Frauen auf den unteren Ebenen der Gewerkschaftsorganisationen auseinander, der Nachrangigkeit von Fraueninteressen in von den Gewerkschaften geführten Verhandlungen und der abschätzigen Haltung der Gewerkschafter gegenüber den Anliegen der Frauen. Damit beleuchtet der Artikel auf neue Weise die vielen Probleme, mit denen Arbeiterbewegung und Linke allgemein in der Nachkriegszeit konfrontiert waren, Frauen für ihre Sache zu gewinnen.

Ganzen Aufsatz lesen: Arbeit, Bewegung, Geschichte 2019_3_Jan-De-Graaf

Quelle: https://www.arbeit-bewegung-geschichte.de/wp-content/uploads/2019/10/ABG2019_3_Jan-De-Graaf.pdf vom 21. Januar 2020

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