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Marx und Jaurès über Zollschranken

Eingereicht on 20. November 2016 – 19:36

Henri Wilno. Im Zuge damaliger Debatten haben Karl Marx und später Jean Jaurès die noch immer aktuellen Grundzüge für eine antikapitalistische und sozialistische oder kommunistische oder überhaupt fortschrittliche Position zur Frage des Freihandels und des Protektionismus dargelegt.

In seiner „Rede über die Frage des Freihandels“ vom 9. Januar 1848[1] nimmt Marx zur Diskussion über die Abschaffung der Korngesetze[2] Stellung. Gegenüber den Liberalen, die diese Gesetze abschaffen wollten, argumentierte er: „Um zusammenzufassen: Was ist also unter dem heutigen Gesellschaftszustand der Freihandel? Die Freiheit des Kapitals.“ Aber weiter unten schreibt er: „Glauben Sie aber nicht, meine Herren, daß, wenn wir die Handelsfreiheit kritisieren, wir die Absicht haben, das Schutzzollsystem zu verteidigen. […]

Aber im Allgemeinen ist heutzutage das Schutzzollsystem konservativ, während das Freihandelssystem zerstörend wirkt. Es zersetzt die bisherigen Nationalitäten und treibt den Gegensatz zwischen Proletariat und Bourgeoisie auf die Spitze. Mit einem Wort, das System der Handelsfreiheit beschleunigt die soziale Revolution. Und nur in diesem revolutionären Sinne, meine Herren, stimme ich für den Freihandel.“

Der Kontext im Frankreich des späten 19. Jahrhunderts lag anders: Die Protektionisten griffen die Konkurrenz aus dem Ausland an und Jaurès wies nachdrücklich auf die Grenzen solcher protektionistischen Lösungsvorschläge hin[3]: „Es ist vor allem von der Auslandskonkurrenz die Rede und die anderen Ursachen der Misere werden übergangen, selbst die, gegen die man etwas unternehmen könnte; dabei wäre das am einfachsten zu lösende Problem die Zollfrage“. Über die Grundpositionen der Sozialisten äußert er sich so: „Es geht hier nicht um die Schutzzölle als Prinzip. Die Sozialisten sind keine Protektionisten, so wie Méline, aber genauso wenig sind sie Verfechter des Freihandels wie Say oder Aynard[4] […] Der Sozialismus, nämlich die gesellschaftliche Organisation der Produktion und des Handels, schließt zugleich den Protektionismus, der heutzutage nur der Minderheit der Großagrarier nutzen kann, und den Freihandel aus, der nur die internationale Form der wirtschaftlichen Anarchie darstellt.“

Beide Zitate liefern eine Antwort auf eine nationale Debatte – zunächst in England, dann in Frankreich – die da lautet: Kann die Arbeiterbewegung an protektionistischen Maßnahmen interessiert sein? In der bereits zitierten „Rede über die Frage des Freihandels“ geht Marx in sehr hellsichtiger Weise auf die Auswirkungen des Freihandels auf die internationale Arbeitsteilung ein: „Alle destruktiven Erscheinungen, welche die freie Konkurrenz in dem Innern eines Landes zeitigt, wiederholen sich in noch riesigerem Umfange auf dem Weltmarkt. […] Man sagt uns zum Beispiel, daß der Freihandel eine internationale Arbeitsteilung ins Leben rufen und damit jedem Lande eine mit seinen natürlichen Vorteilen harmonierende Produktion zuweisen würde.

Sie glauben vielleicht, meine Herren, daß die Produktion von Kaffee und Zucker die natürliche Bestimmung von Westindien sei. Vor zwei Jahrhunderten hatte die Natur, die sich nicht um den Handel kümmert, dort weder Kaffeebäume noch Zuckerrohr gepflanzt.

Und es wird vielleicht kein halbes Jahrhundert dauern, bis Sie dort weder Kaffee noch Zucker mehr finden. denn bereits hat Ostindien durch billigere Produktion gegen diese angeblich natürliche Bestimmung von Westindien den Kampf siegreich aufgenommen. […]

Noch ein Umstand darf dabei nie aus dem Auge gelassen werden: der nämlich, daß, wie alles Monopol geworden ist, es auch heute einige Industriezweige gibt, welche alle anderen beherrschen und den sie vorzugsweise betreibenden Völkern die Herrschaft auf dem Weltmarkt sichern.

Wenn die Freihändler nicht begreifen können, wie ein Land sich auf Kosten des anderen bereichern kann, so brauchen wir uns darüber nicht zu wundern, da dieselben Herren noch weniger begreifen wollen, wie innerhalb eines Landes eine Klasse sich auf Kosten einer anderen bereichern kann.“

Dieser Beitrag erscheint in der Inprekorr vom Januar/Februar 2017. Übersetzung MiWe

 

[1] Karl Marx – Friedrich Engels – Werke, Band 4, S. 444 – 458, Dietz Verlag, Berlin/DDR 1972

[2] Die „Korngesetze“ waren zwischen 1815 und 1828 in Großbritannien verabschiedet worden, um die Getreideeinfuhr aus dem Ausland einzudämmen. Die mit der Industrie verbundenen britischen Liberalen hingegen befürworteten niedrige Getreidepreise, um somit die Löhne niedrig halten zu können, und versuchten in diesem Sinne auf die Regierung einzuwirken. Schließlich konnten sie sich 1846 durchsetzen. Ihre Propaganda zielte auf die Einbindung der unteren Klassen in die Kampagne: Billiges Brot und die Schaffung von Arbeitsplätzen seien die natürliche Folge des Freihandels.

[3] Vgl. auch Rita Aldenhoff-Hübinger, Agrarpolitik und Protektionismus. Deutschland und Frankreich im Vergleich, 1879 – 1914 (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft Bd. 155), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2002

[4] Alle drei Genannten waren Politiker und Wirtschaftswissenschaftler in der damaligen Zeit.

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