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Proteste in Belarus: Ungebrochen, auch in den Betrieben

Eingereicht on 7. Oktober 2020 – 15:23

„… Von Protestmüdigkeit ist nichts zu bemerken, auch wenn schnelle Erfolge unwahrscheinlich sind. »Das kann noch lange dauern«, sagt Lizaweta Merliak aus Grodno der Jungle World. Sie ist bei der Belarussischen Unabhängigen Gewerkschaft zuständig für internationale Angelegenheiten. Die Gewerkschaft vertritt Beschäftigte im Bergbau, der chemischen Industrie und weiteren Branchen. Mit Begeisterung und ein wenig Wehmut in der Stimme erinnert sich Merliak an die von vielen in Belarus als »Woche der Demokratie« bezeichneten Tage vom 13. bis 19. August, die sie in Grodno erlebte. Dort wurde damals ein sogenannter Alternativer Rat gegründet, der Absprachen mit den staatlichen Stellen traf. »Die Plätze waren unsere, wir gingen, wann immer wir wollten, auf die Straße, um friedlich zu protestieren.« Sogar die Generaldirektoren der Betriebe waren ­verunsichert und suchten das Gespräch.

Fast alles schien möglich zu sein. Vielerorts kam es zu Arbeitsniederlegungen, auch im riesigen Chemiekombinat AZOT in Grodno. Aber im Unterschied zu anderen Betrieben ließ sich die Produktion dort aus Sicherheitsgründen nicht einfach herunterfahren. Um ein geordnetes Verfahren zu ermöglichen, ließ sich die Belegschaft auf eine von der Firmenleitung vorgeschlagene Abstimmung ein. Am vorgesehenen Tag konnten nur die Arbeiterinnen und Arbeiter abstimmen, die Schicht hatten. Wer sich Hoffnungen auf einen organisierten generellen Streik bei AZOT gemacht hatte, wurde bitter enttäuscht. Dienst nach Vorschrift ist als Protestmethode umstritten, hat jedoch bereits jetzt zu einer sichtbaren Reduzierung der Arbeitsleistung und damit verbundenen finanziellen Einbußen geführt. Das bekommen Beschäftigte inzwischen durch die langfristige Streichung von Prämien und Sonderzahlungen zu spüren, die bis zur Hälfte ihres Gehalts ausmachen. Gesondert abgestraft werden jene, die in der »Woche der Demokratie« einmalig ihrem Arbeitsplatz fernblieben, weil sie an Verhandlungen des Alternativen Rats teilnahmen. Als Anlass für Konsequenzen reicht aber meist schon Dienst nach Vorschrift. Da dafür eigentlich keine Disziplinarmaßnahmen vorgesehen sind, kann man gerichtlich dagegen vorgehen. Betriebsleitungen haben es statt mit ­wilden politischen Streiks plötzlich mit arbeitsrechtlichen Konflikten zu tun. Infolgedessen steigt der Organisationsgrad unter den Beschäftigten…“ – aus dem Beitrag „Die Proteste gehen weiter“ von Ute Weinmann am 01. Oktober 2020 in der jungle world (Ausgabe 40/2020) zur Entwicklung der Situation in den Betrieben in Belarus. Zur Fortsetzung der Proteste in Belarus und zu verschiedenen Aspekten der (bisher erfolgosen) Repressionsmaßnahmen zwei weitere aktuelle Beiträge – sowie der Hinweis auf den bisher letzten unserer zahlreichen Beiträge zur Demokratiebewegung in Belarus:

  • „Mitarbeiter:innen vom Druck-Kollektiv „Listovka“ in Minsk festgenommen“ am 02. Oktober 2020 beim Anarchist Black Cross Dresdenmeldet: „… Heute wurden in #Minsk zwei Menschen vom Druck-Kollektiv „Listovka“ festgenommen, Jewgeni Diatkowski (Genja) und Konstantin Nesterowitsch (Kostja). Geja wurde am Morgen direkt im Laden festgenommen, Kostja später gegen Mittag. „Listovka“ existiert bereits seit 2017 und ist ein Copyshop der selbstorganisiert als Kollektivbetrieb funktioniert. Von Kostja ist mittlerweile bekannt, dass er im Untersuchungsgefängnis Okrestin in Minsk ist. Dort muss er bis Montag bleiben, dann gibt es einen Prozess. Wo sich Genja befindet ist momentan noch unklar. Was der Kooperative überhaupt vorgeworfen wird ist momentan ebenfalls unklar. Allerdings ist es nicht das erste Mal, dass sich das Druck-Kollektiv mit Repression konfrontiert sieht. Bereits am 12. September veröffentlichte „Listovka“, dass die Cops da waren und nach illegale Flugblätter gesucht hat. Die Betreiber:innen entschieden sich einfach weiter zu arbeiten und sich nicht einschüchtern zu lassen. Bereits 2017 kam es ebenfalls zu massiver Repression als das komplette Equipment beschlagnahmt wurde. Damals gab es eine 11 Stunden andauernde Hausdurchsuchung bei der alle Drucker, Computer und USB-Sticks beschlagnahmt wurden. Tatsächlich wurde nach mehreren Monaten die Technik wieder zurückgegeben und die Kooperative konnte weiter arbeiten…“
  • „Jäger und Gejagte“ von Olga Deksnis am 03. Oktober 2020 in der taz onlineüber weitere Formen der (erfolglosen) Repression unter anderem: „… „Heute gab es im Stadtteil Sucharewo am Minsker Stadtrand eine Razzia“, schreibt eine belarussische Journalistin auf ihrer Website. „Die Menschen wurden auf dem Feld gepackt, sie sind durch den Wald weggerannt, ins Wasser gefallen und haben sich gegenseitig wieder herausgeholfen. Schwarzgekleidete Männer mit Taschenlampen haben sie verfolgt und bedroht: Wir werden schießen! Wissen Sie, was heute im Bezirks-Chat erörtert wurden? In welchen Sportschuhen man am besten fliehen könne. Ob man sich Springerstiefel anschaffen solle. Man sollte vielleicht Wachtposten an den Kreuzungen aufstellen, damit die Leute rechtzeitig abhauen könnten. Und ja, es lohne sich, Handfunkgeräte anzuschaffen.“ Es scheint, als könnten uns seltsame Nachrichten schon längst nicht mehr überraschen. Aber weit gefehlt: Das Informationsministerium deaktiviert ab 1. Oktober für drei Monate den Medienstatus des meistgelesenen Portals, die Seiten von tut.by. Die Journalist:innen arbeiten weiter, aber verlieren ihre Akkreditierungen. Man kann sie „legal“ – so der Standpunkt der Machthaber – verhaften, wie auch die Teilnehmer:innen der Protestaktionen. Die Arbeit wird für sie schwieriger. Seit dem 7. August 2020 hat das Portal tut.by schon vier Verwarnungen für verschiedene Texte über die Situation im Wahlkampf und nach den Wahlen bekommen…“

Quelle: labournet.de… vom 7. Oktober 2020

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