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Freihandel als globalisierte Konkurrenz gegen die Lohnabhängigen

Eingereicht on 27. November 2016 – 14:02

Henri Wilno. Die heutige Realität des Welthandels weicht in seinen Formen weit von der traditionellen Vorstellung ab, nach der ein Land A einem Land B die Produkte abkauft, die ihm fehlen oder die dieses zu besseren Bedingungen herstellen kann:

Seine Formen werden immer vielfältiger und komplexer.

Der internationale Warenverkehr beruht immer weniger auf Gütern, die nicht oder nur unvollständig auf dem Gebiet der beteiligten Nationalstaaten hergestellt werden können. Zunehmend werden einander ähnliche Güter ausgetauscht (Frankreich beispielsweise importiert und exportiert Autos – die Ökonomen sprechen von einem Realtausch oder einem brancheninternen Tausch); oder es werden Bestandteile gekauft bzw. verkauft, die in einem bestimmten Land zusammengebaut werden, aber ausgehend von Gütern, die anderswo hergestellt werden. Überdies sind oft gerade Herstellerfirmen die treibenden Kräfte der Einfuhr und der Ausfuhr (die ihre Produktion ganz oder teilweise auslagern: Nike und Apple haben diesen Prozess bis zum Äussersten getrieben), oder Handelsfirmen, die im Ausland die Güter für ihre Regale unter ihrer Kontrolle§ fabrizieren lassen (derart gehören H&M, Zara und Carrefour zu den Auftraggebern in Bangladesh).

Die unterschiedlichen Facetten des internationalen Austausches

Die internationalen Kapitalbewegungen sind seit den 1980er-Jahren liberalisiert worden und sind sich seither beträchtlich angewachsen. Kapitalbewegungen und Warenbewegungen lassen sich nicht absolut unterscheiden: Die französischen Auslandsinvestitionen (oder die fremden Auslandsinvestitionen in Frankreich) zum Zwecke der Produktion (um sie von den Finanzanlagen zu unterscheiden) sind Kapitalbewegungen, die Warenbewegungen auslösen werden (Einfuhren in Frankreich im Fall von Auslagerungen), oder sie werden frühere Warenbewegungen ersetzen (wie beispielsweise die Erstellung einer Produktionseinheit in China, die Güter für den chinesischen Markt produzieren soll, die früher vom Stammhaus geliefert wurden).

Die Herausbildung von multinationalen Firmen ist die Frucht solcher internationalen Investitionen. Diese Firmen spielen fortan eine sehr wichtige Rolle: Der Handel innerhalb der Unternehmen (zwischen den Filialen der gleichen Firma) beträgt zwischen 30 und 50 % (diese Zahl ist schwierig zu ermitteln) des internationalen Handels, wo die Rechnungsstellung aufgrund von «Transferpreisen» und nicht aufgrund von «Marktpreisen» erfolgt (auch wenn dieser Begriff nicht immer Sinn macht). Dieser Transferpreis erlaubt es, die Gewinne in denjenigen Staaten zu verrechnen, wo sie am wenigsten besteuert werden.

Alles in allem aber sind die Kapitalbewegungen nur zu einem kleinen Teil an die reellen Warenbewegungen gebunden: Die Finanzmärkte haben überall ihre Knospen getrieben.

Und schliesslich haben auch die internationalen Wanderungsbewegungen der Arbeitskräfte neue Formen angenommen. Der Rückgriff auf illegale/papierlose Einwanderer spielt in den entwickelten kapitalistischen Ländern eine wichtige Rolle – und in China die inneren Wanderungsbewegungen von Arbeitskräften, die für die grossen Städte keine gültigen Niederlassungsbewilligungen besitzen. Dazu kommt in Europa noch eine Form der Regelung der Illegalität für «entsandte Arbeitskräfte», die es den Unternehmern erlaubt, die reduzierten Sozialabgaben des Heimatlandes der Lohnabhängigen zu bezahlen.

TTIP und CETA

Die grossen kapitalistischen Unternehmen nutzen im Alltag das gesamte Spektrum dieser Elemente aus. Die kapitalistische Welt lebt vom Schwung der Marktliberalisierungen für Güter und Kapital, die vom GATT und später von der WTO und vom IWF im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts angestossen wurden. Regionale Wirtschaftsabkommen wie NAFTA (USA-Kanada, Mexiko) ergänzen und verstärken diese, während die Europäische Union (EU) eine umfassende Zone des Freihandels aufgezogen hat.

Die neuerlichen internationalen Freihandels-Verhandlungen der EU wie der transatlantische Freihandelsvertrag mit den USA – TTIP – sowie CETA (Freihandelsvertrag mit Kanada) betreffen die Zollrechte nur am Rande. Diese sind im Allgemeinen für industrielle Erzeugnisse bereits schwach, selbst wenn sektorielle Ungleichheiten vorhanden sind. Es geht dabei im Wesentlichen um Normen. Diese betreffen die Bereiche des Rechts, der Kultur, der Finanz, Umwelt, Gesundheit, … Schematisch kann man sagen, dass diese Normen die Merkmale der hergestellten Produkte und die Bedingungen ihrer Vermarktung betreffen. Es geht nicht darum, diese Regelungen zu idealisieren, denn die Lobbys der Unternehmer haben auf ihre Festlegung grossen Einfluss ausgeübt; sie sind aber in mancher Hinsicht, gerade im Bereich der Landwirtschaft und der Nahrungsmittel (etwa in der Frage der gentechnisch veränderten Organismen) in den USA weniger strikt.

Bei diesen Verhandlungen geht es auch um den Abbau von Schiefergas, die öffentlichen Dienstleistungen, die Reglementierung der Finanzdienstleistungen, das Versicherungswesen … Gegenwärtig (und vielleicht nur vorläufig) hat das TTIP Startschwierigkeiten: Hollande hat eine Aussetzung der Verhandlungen gefordert, CETA könnte aber nächstens ratifiziert werden. Es beruht auf denselben Grundsätzen wie das TTIP, insbesondere der Einrichtung eines privaten Schiedsgerichtes, das den kanadischen Multis (und der Mehrheit derjenigen US-amerikanischen Firmen, die in Kanada Niederlassungen betreiben) erlaubt, die europäischen Staaten anzugreifen, sofern diese eine Politik betreiben, die die Rentabilität ihrer Investitionen gefährdet; dazu kommen Zollsenkungen für landwirtschaftliche Produkte, eine Senkung der Umweltstandards, eine Gefährdung der öffentlichen Dienstleistungen, usw.

Ein abgekartetes Spiel gegen die Lohnabhängigen

Die Globalisierung «mit menschlichem Angesicht» hat sich als abgekartetes Spiel herausgestellt. Die Lohnabhängigen wissen sehr wohl, dass deren einzige Logik darauf hinausläuft, sie untereinander in Konkurrenz zu setzen, um die Profite zu maximieren. Es erstaunt daher nicht, dass die protektionistischen Forderungen wie in anderen Epochen des Kapitalismus ein breites Echo finden, das durch verschiedene Politiker und Politikerinnen nur noch verstärkt wird, in Frankreich von Le Pen bis zu Mélenchon. Sie teilen alle die Ansicht, dass die ausländische Konkurrenz an der Zerstörung der Arbeitsplätze und an der Schliessung von Fabriken schuld sei.

Zunächst jedoch muss klargestellt werden, dass eine Vielzahl von Arbeitsplätzen nicht oder nur marginal der ausländischen Konkurrenz unterworfen ist; dies gilt für die öffentlichen und privaten Dienstleistungen (Verwaltung, Gesundheit, Banken, usw.) wie auch für den Bausektor bei öffentlichen Aufträgen. Wenn in diesen Bereichen die Beschäftigung zurückgeht, dann aufgrund von Unternehmerentscheiden. Auch die Einstellung von entsandten Lohnabhängigen geht auf ihre Entscheidungen zurück. Tatsächlich betrifft das Problem der Auswirkungen des Aussenhandels auf die Beschäftigung vor allem die Industrie und bestimmte Dienstleistungen, die auslagerbare Bereiche beinhalten wie Call-Zentren, Informatik-Dienstleitungen usw. Sicher werden die Verluste von Arbeitsplätzen schlussendlich alle Bereiche betreffen, da ein zerstörter Arbeitsplatz in der Industrie mindestens einen Arbeitsplatz anderswo gefährdet.

Sämtliche ernsthaften ökonomischen Untersuchungen zeigen, dass die Auslagerungen nur einen beschränkten Teil der beseitigten industriellen Arbeitsplätze erklären: höchstens 20 % im Zeitraum 1995 bis 2001, der durch den Aufstieg von China und der zentral- und osteuropäischen Länder (die mittlerweile Mitglieder der EU sind) gekennzeichnet war. Gemäss einer Studie der Banque de France haben die Importe aus China zwischen 2001 (als China der WTO beitrat) und 2007 in der französischen Industrie zur Zerstörung von 90´000 Arbeitsplätzen geführt, was einem Abbau von 13 % der industriellen Arbeitsplätze entspricht.

Dies bedeutet nicht, dass diese Entwicklung nicht zu schweren Auswirkungen in einigen Bereichen führte (Textil, Schuhe, …), vor allem, wenn man die Billigimporte durch die Verteilerketten berücksichtigt. Diese Arbeitsplatzverluste haben für die betroffenen Lohnabhängigen oft dramatische Auswirkungen. Grundsätzlich jedoch wiegt die entfesselte Suche des Kapitals nach Produktivitätsgewinnen viel schwerer in einem Zusammenhang, wo die Nachfrage aufgrund der Lohndrückerei gedrückt wird.

Die « Deindustrialisierung » und das Aussenhandelsdefizit verweisen zudem auch auf die Schwächen der industriellen Struktur Frankreichs. Diese Schwächen sind ihrerseits Folgen staatlicher Entscheidungen (Wichtigkeit der atomaren-militärischen Sektoren, Mängel im Kreditsystem, das System der Forschungsunterstützung, das im Grossen und Ganzen einer zusätzlichen Hilfe für die Unternehmer gleichkommt) und/oder Konsequenz von Unternehmerentscheiden, die in Verbindung mit dem Druck der Aktionäre von einer kurzfristigen Logik geprägt sind; es sei an die Tatsache erinnert, dass die Grossunternehmen, beispielsweise in der Automobilindustrie, ihre Investitionsentscheide fällen, ohne sich um ihre Nationalität zu kümmern, sich aber sehr wohl daran erinnern, wenn sie Hilfe brauchen.

Jede fortschrittliche – und erst recht jede antikapitalistische – Position zum internationalen Freihandel sollte eine doppelte Wirklichkeit berücksichtigen:

–          Sowohl im Norden wie im Süden haben die Lohnabhängigen andere Interessen als ihre Bourgeoisie;

–          die Völker des Südens müssen ihren Weg selbst bestimmen und die Ketten des Kapitalismus abschütteln. Die Länder des Nordens, die die Weltwirtschaft lange beherrscht haben – und dies im Grossen und Ganzen weiterhin tun -, haben kein Recht, den Ländern des Südens die Bedingungen ihrer Entwicklung zu diktieren.

Darauf kann sich eine Ablehnung des Protektionismus abstützen, zumindest in den imperialistischen Ländern wie Frankreich. Am Ende des 19. Jahrhunderts bestand Jaurès darauf, dass der Protektionismus die falsche Lösung ist, die nur «der Minderheit mit den grossen Vermögen zugutekommt». Die nicht-stalinistische Tradition des Marxismus blickt in diesem Sinne mit Misstrauen auf alle protektionistischen Massnahmen der dominierenden Staaten im Kapitalismus. Sofern die Industrialisierung in den dominierten Ländern, selbst wenn sie barbarische Formen annimmt, diese von der Vorrangstellung der Landwirtschaft herausführt, so bleibt ihre Landwirtschaft selbst weiterhin gegenüber der Konkurrenz der Produktion in den reichen Ländern exponiert.

Die zerstörerischen Aspekte der kapitalistischen Globalisierung

Marx hat indessen die Ungleichheit zwischen den Ländern («ein Land kann sich auf Kosten des anderen bereichern») und die strategische Wichtigkeit bestimmter Industriezweige betont, «welche alle anderen beherrschen und den sie vorzugsweise betreibenden Völkern die Herrschaft auf dem Weltmarkt sichern».

Während jede Solidarität mit den Unternehmern zurückgewiesen wird, sollten auch die nachteiligen Folgen des Freihandels beachtet werden. Zunächst die Folgen für die Arbeitsbedingungen und die Löhne in den Ländern des Nordens. Die direkten Auswirkungen der Auslagerungen und des Handels mit den Tieflohnländern auf die Beschäftigung in den Ländern des Nordens sind sicher begrenzt; aber das Lohndumping ist auch eine Waffe der Konkurrenz zwischen entwickelten kapitalistischen Ländern: In der Europäischen Union machte der deutsche Staat zusammen mit Unternehmern zu Beginn der 2000er-Jahre einen entscheidenden Schritt zur Senkung der Löhne.

Der Druck auf die Löhne ist in den Ländern des Südens ebenfalls stark. Die Drohung, die Produktion in Gebiete zu verlagern, wo die Lohnabhängigen gezwungen sind, zu noch härteren Bedingungen oder zu noch tieferen Löhnen zu arbeiten ist andauernd vorhanden. Die Sektoren in den Entwicklungsländern, die nicht in der Lage sind, den Normen des Welthandels zu genügen, werden beiseitegedrängt; das wichtigste Beispiel ist die sogenannte traditionelle Landwirtschaft.

Schlussendlich hat der verallgemeinerte Freihandel zerstörerische Auswirkungen auf die Umwelt. Die Globalisierung der kapitalistischen Produktionsweise wird von massiven Strömen industrieller und landwirtschaftlicher Produkte begleitet, die teilweise mit den natürlichen Ausstattungen der Länder in keinerlei Beziehung stehen. So legen zahlreiche Waren grosse unnötige Distanzen zwischen den Ländern aber auch innerhalb der Länder zurück, mit unheilvollen Auswirkungen auf die Umwelt.

Den freien Kapitalverkehr bekämpfen

Die französische Debatte konzentriert sich im Wesentlichen auf den Handel mit Niedriglohnländern und, in diesem Rahmen, auf die Einfuhren und die Auslagerungen. Die Betonung des Warenverkehrs geht einesteils auf die unmittelbaren Sorgen der Lohnabhängigen in der Industrie zurück, die in ihrem Alltag der Erpressung der Unternehmer mittels der Konkurrenz der Niedriglohnländer ausgesetzt sind. Sie entspricht auch einer verfehlten Analyse oder der Absicht, ein grosses Hindernis jeder Politik der gesellschaftlichen Transformation zu umgehen: den freien Kapitalverkehr.

Die Ablehnung des Protektionismus bedeutet keinesfalls die Einwilligung in die zwischen den entwickelten kapitalistischen Ländern ausgehandelten Freihandelsverträge wie TTIP oder CETA, die die Normen für Gesundheit untergraben oder die öffentlichen Dienstleistungen gefährden. Diese Verhandlungen werden oft als ein Interessenkonflikt zwischen der EU und der USA dargestellt. In Tat und Wahrheit geht es um ein Instrument der neoliberalen Offensive, das auf beiden Seiten des Atlantiks entwickelt wurde, und die multinationalen Konzerne zielen ebenso auf bestimmte US-amerikanische Bestimmungen, speziell auf den öffentlichen Märkten. US-amerikanische Gewerkschaften haben übrigens betont, dass die US-amerikanischen Lohnabhängigen durch eine Gefährdung der stärkeren europäischen Schutzklauseln nichts gewinnen können.

Die Kapitalbewegungen spielen ihrerseits – wegen der Spekulation gegen die internationale Verschuldung und gegen die Währungen – eine Hauptrolle bei der Rechtfertigung der Austeritätspolitik. Der freie Kapitalverkehr verstärkt überall den Druck auf die Löhne und die Arbeitsbedingungen, da er überall die Normen des maximalen Profits auferlegt. Er erlaubt den grossen Kapitalgruppen, für ihre Gewinne die Steuern zu umgehen. Seine Anprangerung ist ein entscheidendes Element einer antikapitalistischen Orientierung.

Quelle : Revue L’Anticapitaliste… vom September 2016. Übersetzung durch Redaktion maulwuerfe.ch

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