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Die Unia ist nicht mächtig, aber mächtig bürokratisch

Eingereicht on 27. Oktober 2021 – 16:07

Philipp Gebhardt. Der „Skandal“ um das Millionenvermögen der Unia wird von den Bürgerlichen für eine Schlammschlacht gegen die Gewerkschaften genutzt. Die Linke wiederum versucht das Vermögen zu rechtfertigen. Das eigentlich Spannende an der Offenlegung der Jahresrechnungen ist allerdings, dass die Unia dadurch einen Einblick in das Funktionieren ihrer Bürokratie verrät.

„Die Unia dürfte mit hoher Wahrscheinlichkeit die finanzkräftigste politische Organisation der Schweiz sein – potenter als alle Parteien, Wirtschaftsverbände und NGOs.“ Diese Schlagzeile aus dem Tages-Anzeiger wirbelt seit dem 13. September 2021 durch die Presse, als bekannt wurde, dass die Unia sehr reich ist.

Publik wurde die ganze Sache nur, weil die Unia ihre Steuerrechnung von 2018 angefochten hat, das Urteil bis vor Bundesgericht weiterzog, und schliesslich einen Teil ihrer Buchhaltung offenlegen musste, die zuvor nur 129 Delegierten der nationalen Delegiertenversammlung zugänglich gewesen war. Dabei wurde bekannt, dass ihr Vermögen um einiges grösser ist, als bisher vermutet. Die Unia mit ihren rund 1200 Angestellten und 180‘000 Mitgliedern besitzt Tochtergesellschaften (z.B. Immobilienfirmen), hält Beteiligungen an Hotels und einer Druckerei, und kontrolliert eine eigene Stiftung.[1] Je nachdem, wie wohlwollend man der Gewerkschaft gegenübersteht, wird die Gesamtheit des Vermögens – zusammen mit demjenigen der Stiftung Unia, die vor allem Immobilien besitzt – auf eine halbe (WOZ) bis zu einer ganzen (Blick) Milliarde Schweizer Franken beziffert.[2] Das ausgewiesene Reinvermögen beläuft sich auf 457 Millionen Franken.

Dies brachte die Unia-Geschäftsleitung in arge Erklärungsnot. Anfangs versuchte sie noch, die vollständige Offenlegung der Zahlen zu verhindern. Der Kommunikationschef und seit 2007 aufstrebender Bürokrat in der Unia-Hierarchie, Serge Gnos, begründete die Geheimhaltung im Tages-Anzeiger damit, dass das Vermögen der Unia zugleich ihre Streikkasse sei. Durch den öffentlichen Druck und die Gefahr des Gesichtsverlusts als Organisation, die sich normalerweise für Transparenz in Finanz- und Vermögensangelegenheiten einsetzt, war die Geschäftsleitung anfangs Oktober 2021 schliesslich gezwungen, ihre Bücher ganz offen zu legen.

Die anfängliche Argumentation, dass die Unternehmen keinen Einblick in die Buchhaltung einer Gewerkschaft haben sollten, weil diese dadurch z.B. abschätzen könnten, wie lange eine Gewerkschaft einen Streik durchhalten könnte, ist grundsätzlich richtig. Dumm nur, dass es in der Schweiz nahezu nie zu Streiks kommt und insbesondere die Unia – trotz gegenteiligen Beteuerungen von Seiten der Geschäftsleitung – alles andere als streikfreudig und kämpferisch ist. Die Unia ist im Gegenteil die offensichtlich am stärksten bürokratisierte Gewerkschaft innerhalb des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes (SGB), nur schon deshalb, weil sie am meisten zu verlieren hat.

Wie finanziert sich die Unia?

Die Offenlegung der Vermögenswerte brachte zumindest ein bisschen Klarheit in der Frage, wie sich die Unia eigentlich finanziert (zum Beispiel mit der Fremdvermietung ihrer Immobilien und den Zinsen auf Kapitalanlagen) und widerlegte das von der Geschäftsleitung jeweils erzählte Märchen, dass sich die Gewerkschaft ausschliesslich via Mitgliederbeiträgen finanzieren würde. Auch gaben die Gewerkschaften zu, dass von den staatlichen Beiträgen an die Unia-Arbeitslosenkasse etwas für die Finanzierung anderer Tätigkeiten übrigbleibt. Eine zentrale Finanzquelle der Unia liegt aber nach wie vor im Dunkeln: nämlich die konkreten Einnahmen, welche die Sozialpartner aus den Gesamtarbeitsverträgen schöpfen.

In Branchen mit Gesamtarbeitsvertrag (GAV) sind die Lohnabhängigen und die Unternehmen dazu verpflichtet, einen Vollzugskostenbeitrag zur Umsetzung des GAV an eine Paritätische Kommission (PK) zu leisten. Die PK setzt sich aus Vertreter:innen der Arbeitgeber:innenverbände und der Gewerkschaften zusammen und finanziert im Wesentlichen drei Bereiche: erstens den GAV-Vollzug (z.B. Kontrollen auf den Baustellen, ob die Vertragsbestimmungen eingehalten werden), zweitens ein Aus- und Weiterbildungsprogramm für die Lohnabhängigen, drittens den Verwaltungsaufwand der PK selbst. Konkret umgesetzt werden die ersten zwei Aufgaben aber wiederum von den Arbeitgeber:innenverbänden und den Gewerkschaften. Es fliesst also ein wesentlicher Teil der einbezahlten Gelder direkt an die Verbände.[3]

Öffentlich bekannt sind die PK-Finanzen und die konkreten Geldflüsse aber bisher nur ansatzweise.[4] Der SVP-Parlamentarier Thomas Aeschi, der als Unternehmensberater nicht nur politisch, sondern auch beruflich auf Kriegsfuss mit den Gewerkschaften steht, stellte 2018 Berechnungen zu den allgemeinverbindlichen GAV des Gastgewerbes und des Bauhauptgewerbes an. Er kam zum Schluss, dass die PK dieser zwei GAV im Jahr 2016 rund 65,6 Millionen Franken eingenommen hatten und davon 16,8 Millionen Franken direkt an die Sozialpartner überwiesen worden waren. Die NZZ berechnete im September 2021, dass 2019 die PK der schweizweit knapp 600 GAV 233 Millionen Franken eingenommen hatten, wovon wohl mindestens ein Viertel wiederum an die Arbeitergeber:innenverbände und die Gewerkschaften geflossen war.

In ihren am 8. Oktober 2021 publizierten Zahlen bezifferte die Unia nun die Einnahmen aus ihrer Arbeitslosenkasse (50 Mio.) und aus den Beiträgen der PK (30 Mio.) für das Jahr 2020 auf total 80 Millionen Franken – im Gegensatz zu 58 Millionen Franken aus den Mitgliederbeiträgen. Wieviel von 80 Millionen konkret übrigbleibt, nachdem die ALK- und GAV-Vollzugskosten etc. abgezogen wurden, liegt weiterhin im Dunkeln.

Klar ist nun hingegen, dass die Gewerkschaften sich und ihre Strukturen zu einem nicht unwesentlichen Teil via das System der Gesamtarbeitsverträge und den damit verbundenen Geldern aus den Paritätischen Kommissionen finanzieren. Deshalb ist es nichtssagend, wenn die Unia-Delegierten am Kongress im Juni 2021 einer Resolution über das „Ende der Sozialpartnerschaft“ zustimmen. Die Hoffnungen, die einige klassenkämpferische Linke in diesen Vorstoss setzten, werden sich in Luft auflösen. Denn die Unia und ihre Exponent:innen sind nicht aufgrund ihrer mangelnden politischen Radikalität Anhänger:innen der Sozialpartnerschaft, sondern weil das Überleben des Gewerkschaftsapparates und somit ihrer Jobs davon abhängt. Die Vermögenswerte in Form von Aktien und Obligationen, die Immobilien und insbesondere auch die Gesamtarbeitsverträge sind die materielle Basis der Gewerkschaftsbürokratie.

Das Wesen der Bürokratie in Organisationen der Arbeiter:innen

Die Entstehung einer Bürokratie, also einer Herrschaft der Verwaltung (im Gegensatz zu einer Herrschaft der Mitglieder), hat in Arbeiter:innenorganisationen ihre Ursache in einem Paradox, das der marxistische Theoretiker Ernest Mandel die „Dialektik der partiellen Errungenschaften“ nennt.[5] Sobald eine Arbeiter:innenorganisation, sei es eine Partei oder eine Gewerkschaft, einen Teilfortschritt zur Verbesserung des (Arbeits-)Lebens für die Lohnabhängigen erzielt, hat sie fortan das Interesse, diese Errungenschaft zu verteidigen. Das nächste Mal, wenn sich die Möglichkeit einer Verbesserung stellt (z.B. wenn die nächste Arbeitsvertragsverhandlung ansteht), wird sich die Organisation tendenziell davor hüten zu viel zu riskieren, um den errungenen Fortschritt bei einer allfälligen Niederlage nicht zu gefährden. Somit enthält jede erkämpfe Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen zugleich eine konservative Schlagseite.

Bürokratisierung von Apparat und Sekretariat

Die Dialektik partieller Errungenschaften führt zu einer Bürokratisierung in organisatorischer und individueller Form. Die Organisation, welche den Fortschritt erzielt hat, stellt in der Folge das Überleben ihres Apparates über die unmittelbaren Interessen ihrer Mitglieder, weil das Weiterbestehen des Apparates die Bedingungen für den Erhalt des erreichten Fortschritts ist. Und gleichzeitig beginnen auch die besten Klassenkämpfer:innen im Sekretariat der Arbeiter:innenorganisation damit, einen Organisationsfetischismus zu entwickeln und den Apparat zu verteidigen, weil dieser wiederum der Garant ihrer Arbeitsstelle ist.

Der Schweizer Historiker und Kenner der hiesigen Arbeiter:innenbewegung Bernard Degen weist in der WOZ zu Recht darauf hin, dass das Vermögen der Unia nicht aus dem Nichts kommt, sondern sich seit dem 19. Jahrhundert angesammelt hat. Denn eine zentrale Funktion jeder Gewerkschaft war es – zumindest bis in die Nachkriegszeit – die Rolle einer kollektiven Versicherung im Falle von Arbeitslosigkeit und von Lohnausfällen bei Streiks einzunehmen. Zudem legten sie ihr Vermögen zu grossen Teilen in Immobilien an (u.a. für die Gewerkschaftssekretariate), welche seit Jahrzehnten an Wert zulegen.

In dieser Hinsicht stimmt es, wenn die WOZ das Vermögen im selben Artikel als erklärbar darstellt und die Kampagne der bürgerlichen Presse und der FDP gegen die Unia als politisches Manöver entlarvt. Gleichzeitig wird aber deutlich, dass das historisch gewachsene Vermögen der Unia ihre Strukturen umso nachhaltiger und stärker bürokratisiert hat. Denn je mehr Immobilien es zu verwalten gibt, desto mehr Jobs sind daran gebunden, und je mehr Vermögen auf dem Konto liegt, desto mehr gibt es auch zu verlieren.

Die Inhalte der Gesamtarbeitsverträge als „partielle Errungenschaften“ entsprechen quasi den soften Grundlagen; das bare Vermögen, die Immobilien und die Einkommen aus den paritätischen Verhandlungen und der Arbeitslosenkasse den harten Grundlagen der Bürokratisierung der Unia. Daran wird auch das derzeit diskutierte Projekt Unia 2.0, welches eine verstärkte Mitsprache der Basis vorsieht, nichts ändern. Diese materiellen Zwänge sind immer stärker als der Wille eines:einer Sekretär:in, der:die sich mit guten Vorsätzen für die Anliegen der Lohnabhängigen einsetzen will.

Rekrutierung neuer Bürokrat:innen

Wer sind diese Menschen, die immer wieder von neuem die Bürokratie der Gewerkschaft reproduzieren, obwohl sie vielleicht ursprünglich zum Ziel hatten, den Apparat zu demokratisieren und eine kämpferischere Linie durchzusetzen?

Die Schweizer Gewerkschaftsbewegung rekrutiert ihre zukünftigen Bürokrat:innen grundsätzlich in drei gesellschaftlichen Milieus. Erstens sind die sozialdemokratischen Parteiorganisationen und ihnen nahestehende NGOs seit jeher ein beliebter Fundus für – in Ansätzen politisierte und in technokratischen Manövern geschulte – Sekretär:innen. Zweitens reproduziert sich die Bürokratie bei Lohnabhängigen, die ihren „Aufstieg“ ins Gewerkschaftsbüro von der Mirgroskasse oder der Baustelle um keinen Preis aufs Spiel setzen wollen und deshalb der Geschäftsleitung tendenziell hörig sind. Drittens bieten seit 15 Jahren vor allem die Institute für Politikwissenschaft und Soziologie an den Schweizer Hochschulen ein Reservoir von intelligenten Studierenden mit prekärer Jobaussicht.

Schon ab 2005, also kurz nach ihrer Gründung, versuchte sich die Unia mittels Import von neuen Organizingmethoden aus den USA neu zu erfinden. Die ursprünglich von Basisgewerkschafter:innen entwickelten „Bottom Up“-Methoden, welche die Lohnabhängigen selbst wieder zu Gewerschafter:innen machen wollten, wurden hierzulande von oben herab und mit bürokratischem Impetus umgesetzt. Oberstes Ziel war der Stopp des Mitgliederschwunds, der spätestens seit den 1990er Jahren die Verhandlungsmacht der Gewerkschaften gefährdete.

Dafür wurde der Job des:der Gewerkschaftssekretär:in, der:die früher nicht nur Mitglieder rekrutierte, sondern sie auch betreute, rechtlich unterstützte und politisch aktivierte, aufgesplittet. Fortan war man entweder Organizer:in oder Campaigner:in. Erstere:r geht die meiste Zeit im Stile eines:einer Corris-Agent:in auf Mitgliederjagd (deshalb war es auch nicht überraschend, als die Unia diese Aufgabe tatsächlich an Corris ausgelagert hat). Der:die Zweite ist dafür zuständig, die von oben beschlossenen politischen Kampagnen umzusetzen und die Mitglieder dafür zu aktivieren. Für beide Aufgaben eignen sich Hochschulabgänger:innen ganz passabel. Aufgrund der mangelnden Karrieremöglichkeiten bei anderen Unternehmen akzeptieren sie tendenziell die hierarchischen Strukturen der Bürokratie. Mit einem längerfristigen Vertrauensaufbau an der Basis und einer konstanteren Präsenz an den Arbeitsplätzen hat diese Form von politischem Campagning allerdings nur selten etwas zu tun.

Die Durchsetzung der Sozialpartnerschaft in der Schweiz

Der Ausbau der gewerkschaftlichen Bürokratie und die Verfestigung einer sozialpartnerschaftlichen Gewerkschaftspolitik gehen Hand in Hand. Das Zusammenspiel ist aber immer auch das Resultat von konkreten historischen Entwicklungen. Gemeinhin wird der Beginn der ausserordentlich starken Sozialpartnerschaft in der Schweiz auf das Jahr 1937 datiert. Im Laufe des Jahres 1937 kam es in der grössten Maschinenfabrik des Landes – bei Sulzer in Winterthur – zu einer Lohnbewegung, die erst dank dem massiven Druck seitens der Unternehmensleitung, dem mehrmaligen Wiederholen der Streikabstimmungen und dem direkten Verrat der nationalen Leitung der Metallarbeitergewerkschaft SMUV und seines Zentralsekretärs Konrad Ilg zu einem Abschluss gebracht werden konnte. Das Resultat war das berühmte „Friedensabkommen“ in der Schweizer Metall- und Maschinenindustrie, das fortan jegliche Kampfmassnahmen der Arbeiter:innen verbot.[6]

Das Friedensabkommen war aber noch nicht das Ende der Streikbereitschaft der Arbeiter:innen und der Beginn des absoluten Arbeitsfriedens in der Schweiz. Richtig durchgesetzt hat sich diese Form der Sozialpartnerschaft hierzulande erst in der Streikbewegung 1944-1948. Wie schon nach dem 1. Weltkrieg kam es gegen Ende des 2. Weltkrieges zu einer beachtlichen Anzahl Streiks. Vor allem in der gewerkschaftlich bisher schwach organisierten Textil-, Chemie- und Papierindustrie sowie in der Baubranche kam es zu heftigen sozialen Kämpfen.

Quelle: Historisches Lexikon der Schweiz

Ausgang der Kämpfe waren die gesunkenen Reallöhne während des Krieges und der autoritäre, gewerkschaftsfeindliche „Herr im Hause“-Standpunkt vieler Unternehmer der betroffenen Branchen. Die zwei zentralen Forderungen aller Streiks bei Kriegsende waren die Erhöhung der Reallöhne und die kollektive Regelung der Arbeitsbeziehungen. Die Entschlossenheit der Arbeiter:innen, welche viele „Herren in den Häusern“ überraschte, und der absehbare wirtschaftliche Aufschwung führten zum Einlenken der Unternehmen und in den meisten Fällen zu einem (Pyrrhus-)Sieg der Arbeiter:innen. Die Streikenden erreichten sowohl ansehnliche Lohnerhöhungen, als auch die Einführung von Kollektivarbeitsverträgen. Letztere enthielten aber – dies haben die „Herren“ vom Friedensabkommen 1937 gelernt – jeweils eine absolute Friedenspflicht während der Vertragsdauer.

Wir erkennen also auch hier die „Dialektik der partiellen Errungenschaften“: Die relative Stärke der Streiks zwischen 1944-1948 führte gleichzeitig zur endgültigen Durchsetzung der Sozialpartnerschaft auf nationaler Ebene.

Die Produktivitätssteigerungen in der Zeit des Wirtschaftsaufschwungs in den 1950er und 1960er erlaubten es den Gewerkschaften dabei relativ einfach Lohnerhöhungen für die (Schweizer) Lohnabhängigen zu erreichen, ohne dafür kämpfen zu müssen. Dieser Umstand bot zusammen mit dem Klima der Geistigen Landesverteidigung[7] und des Antikommunismus optimale Voraussetzungen, um die kämpferische Gewerkschaftspolitik ad acta zu legen und das System der Sozialpartnerschaft branchenübergreifend zu verfestigen.[8]

Die Zunahme der Anzahl Streikenden (weniger der Anzahl Streiks) um die Jahrtausendwende erklärt sich nicht durch die „neue kämpferische Linie der Unia“, sondern vor allem durch die beachtlichen Mobilisierungen der Bauarbeiter:innen, die sich 2001/02 mit Streiks und der Blockade des Bareggtunnels im November 2002 die für die Schweiz nahezu einzigartige Frühpensionierung mit 60 Jahren (statt 65) erkämpft haben. Organisiert wurde die Streikbewegung durch die Gewerkschaft Bau und Industrie (GBI), die 2004 mit dem Schweizer Metall- und Uhrenarbeiterverband (SMUV) und einer kleinen Dienstleistungsgewerkschaft zur Unia fusionierte. Weil der GAV des Bauhauptgewerbes – wie weiter oben beschrieben – zu den wichtigsten GAV gehört und damit beträchtliche Geldsummen zusammenhängen, war die Unia in den folgenden Jahren gezwungen, die GAV-Verhandlungen jeweils mit grossen (Warn-)Streiks zu begleiten, um ihre Verhandlungsposition mit den Baumeistern zu stärken. Eine Abkehr von der traditionellen Sozialpartnerschaft war damit aber nicht verbunden.

Was also tun mit den Gewerkschaften?

Die Unia ist nicht mächtig, weil sie Vermögen besitzt und sich damit einen grossen bürokratischen Apparat finanzieren kann. Eigentliche gewerkschaftliche Macht definiert sich darüber, ob die organisierten Lohnabhängigen zusammen mit ihren Gewerkschaften in der Lage sind, das Kräfteverhältnis in den Betrieben zu ihren Gunsten zu verändern und die Anliegen der Belegschaft gegen die Unternehmen durchzusetzen. Hierzu ist die Unia leider nicht fähig.

Trotz aller Kritik an den Gewerkschaftsbürokratien versuchen wir als Linke jede Form von gewerkschaftlicher Organisierung zu fördern. Angesichts der Klimakatastrophe und des deshalb nötigen Um- und Rückbaus des gesamten kapitalistischen Produktionsapparats ist das Aufbauen von gewerkschaftlicher Gegenmacht in den Betrieben sogar absolut dringend. Vielfach ist die Unia (oder eine andere SGB-Gewerkschaft) auch nach wie vor der beste Ort dafür, weil die Mitgliedschaft in einer Nischengewerkschaft viel weniger Vernetzungs- und Interventionsmöglichkeit bietet.[9]

Natürlich unterstützen wir alle Bestrebungen, die Sozialpartnerschaft zu bekämpfen, wie es am letzten Kongress der Unia im Juni 2021 versucht wurde. Damit solche Vorstösse aber auch reale Konsequenzen nach sich ziehen, braucht es nicht nur innergewerkschaftliche Demokratie, sondern vor allem eine konkrete gewerkschaftliche Verankerung an den Arbeitsplätzen und damit verbundene Kollektive von Lohnabhängigen, die bereit sind für ihre Anliegen zu kämpfen, zu streiken und damit die Politik des Arbeitsfriedens herauszufordern. Das System der Sozialpartnerschaft und die damit zusammenhängenden Interessen der Bürokratie sind Hindernisse auf dem Weg zur Entwicklung einer solchen gewerkschaftlichen Gegenmacht.

Fussnoten

[1] Insgesamt gehören der Unia aktuell 2861 Wohnungen, aber auch Geschäftsliegenschaften, Hotels und Landreserven. Insgesamt sind es 151 Liegenschaften, wobei die Mehrheit davon als Gewerkschaftssekretariate genutzt werden.

[2] Die Unterschiede ergeben sich einerseits daraus, dass die bürgerlichen Medien die Hypothekarschulden und Abschreibungen nicht vom Vermögen abziehen und demnach nicht vom Reinvermögen reden. Andererseits werfen sie der Unia vor, den Wert der Immobilien nicht zu eigentlichen Marktpreisen und deshalb als zu klein auszuweisen.

[3] Die Gewerkschaften subventionieren mit den Geldern aus dem paritätischen Fonds des Bau-GAV zum Beispiel die Mitgliederbeiträge der Bauarbeiter:innen, was zumindest teilweise den verhältnismässig hohen Organisationsgrad im Bauhauptgewerbe erklärt.

[4] Die PK-Finanzen können zwar beim Staatsekretariat für Wirtschaft (Seco) eingesehen werden. Dieses berechnet dafür aber einen vierstelligen Betrag. Im September 2021 wurde im Nationalrat schliesslich eine Motion angenommen, die von den PK mehr Transparenz fordert.

[5] Siehe Ernest Mandel: Macht und Geld. Eine marxistische Theorie der Bürokratie, S. 70-76 (2000; ursprünglich publiziert 1992). Oder: Ernest Mandel: Die Bürokratie, S. 9-11 (1976, ursprünglich publiziert 1967).

[6] Abgeschlossen wurde es in erster Linie zwischen dem Arbeitgeberverband schweizerischer Maschinen- und Metallindustrieller (ASM) und dem Schweizer Metall- und Uhrenarbeiterverband (SMUV), der damals grössten und einflussreichsten Gewerkschaft des Landes.

[7] Unter Geistiger Landesverteidigung verstehen wir den kulturell-geistigen Widerstand gegen die Ideologie des Faschismus durch Schweizer Kulturschaffende und Behörden vor dem 2. Weltkrieg. Nach dem Krieg ging die Geistige Landesverteidigung nahtlos über in einen ideologischen Kampf gegen den Kommunismus und soziale Bewegungen.

[8] Siehe hierzu das 2021 erschienene Buch „Fabrikgesellschaft“ des Historikers Andreas Fasel, der die bürokratische Deformierung der Gewerkschaften zwischen 1937-1967 quellennah nachzeichnet.

[9] Nichts desto trotz sind alle Bemühungen, wie zum Beispiel von den Industrial Workers of the World (IWW), gerade in Branchen mit prekären Arbeitsbedingungen und hohen Anteil an migrantischen Arbeitskräften gewerkschaftliche Arbeit zu leisten, absolut unterstützenswert.

Quelle: sozialismus.ch… vom 27. Oktober 2021

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