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Der politische und historische Hintergrund des US-Kriegskurses gegen Russland

Eingereicht on 23. Februar 2022 – 12:58

Redaktion wsws. Am Montagabend hielt der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen eine Dringlichkeitssitzung ab, in der die kapitalistischen Großmächte die Entscheidung des russischen Präsidenten Wladimir Putin anprangerten, die Unabhängigkeit zweier Regionen in der Ostukraine anzuerkennen.

Ebenfalls am Montag meldete die russische Regierung, dass zwei ukrainische Schützenpanzer in ihre Grenzen eingedrungen und zerstört worden seien, wobei fünf ukrainische Soldaten getötet worden seien. Russland kündigte die Entsendung von Streitkräften in die Ostukraine an, die von der ukrainischen Regierung unter massiven militärischen Beschuss genommen wurde.

Diese Entwicklungen markieren eine enorme Eskalation des Konflikts in der Ukraine hin zu einem umfassenden Krieg, der Russland, die Vereinigten Staaten und die europäischen Großmächte des Nato-Militärbündnisses umfassen würde.

Angesichts der Krise ist es notwendig, sich nicht von der militaristischen Propaganda mitreißen zu lassen, die unablässig in den Medien verbreitet wird. Dazu müssen die aktuellen Entwicklungen in einen breiteren historischen Kontext gestellt werden. Der gegenwärtige Konflikt ist nicht über Nacht entstanden. Er ist der Höhepunkt einer ganzen Reihe von Provokationen und Aktionen des amerikanischen und europäischen Imperialismus, der unermüdlich daran gearbeitet hat, die Nato auf Osteuropa auszuweiten.

Vor sechs Jahren, am 18. Februar 2016, veröffentlichte das Internationale Komitee der Vierten Internationale die Erklärung „Sozialismus und der Kampf gegen den Krieg“, die die aktuelle Kriegsgefahr mit bemerkenswerter Präzision voraussah. Die Publikation der deutschen Übersetzung erfolgte am 27. Februar 2016.

Die WSWS gibt im Folgenden Teile dieser Erklärung wieder. Die Tatsache, dass die Erklärung die Entwicklungen, die jetzt offen ausbrechen, so klar vorhersehen konnte, widerlegt machtvoll die Behauptungen der Biden-Regierung, dass ihre Kriegsdrohungen eine unmittelbare Antwort auf „russische Aggressionen“ und eine Verteidigung der „Souveränität und territorialen Integrität“ der Ukraine seien. Die Erklärung sollte sorgfältig von allen studiert werden, die die treibenden Kräfte hinter der gegenwärtigen Krise verstehen und wissen wollen, was getan werden muss, um die Gefahr eines dritten Weltkriegs zu bannen.

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Auszüge aus „Sozialismus und der Kampf gegen den Krieg“, Erklärung des Internationalen Komitees der Vierten Internationale, 18. bzw. 27. Februar 2016

Der »Krieg gegen den Terror«, den die USA vor 15 Jahren ausgerufen haben, ist in einen Strudel imperialistischer Gewalt gemündet, der nach und nach die ganze Welt erfasst. Afghanistan, Irak, Libyen und Syrien wurden durch die Invasionen und Interventionen unter Führung der USA in Schutt und Asche gelegt. Die NATO bereitet sich mit einem gigantischen Aufrüstungsprogramm auf einen Krieg gegen Russland vor…

Die Welt steht an der Schwelle einer katastrophalen, weltweiten militärischen Auseinandersetzung. Die Äußerungen der kapitalistischen Regierungschefs werden immer martialischer. Durch die Stellvertreterkriege in der Ukraine und Syrien rückt eine offene Konfrontation zwischen der NATO und Russland in greifbare Nähe… Genau wie in den Jahren vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 und des Zweiten Weltkriegs 1939 gelangen führende Politiker und Militärstrategen allmählich zu der Überzeugung, dass ein Krieg zwischen den Großmächten keine entfernte Möglichkeit, sondern höchst wahrscheinlich und vielleicht sogar unvermeidlich ist…

Im Zentrum der Kriegstreiberei stehen die Bemühungen der USA, ihre Stellung als globale Hegemonialmacht zu behaupten. Die Auflösung der Sowjetunion 1991 betrachteten die USA als Chance, auf der ganzen Welt eine unangefochtene Vormachtstellung zu beanspruchen. Die imperialistische Propaganda feierte dies als »Ende der Geschichte«, als »unipolaren Moment«, in dem die USA aufgrund ihrer unumstößlichen Macht eine neue Weltordnung im Interesse der Wall Street errichten würden. Die Sowjetunion hatte sich über weite Gebiete des Erdballs erstreckt, von der Ostgrenze Europas bis hin zum Pazifik. Und nun waren die riesigen Gebiete Eurasiens, mit einem entkräfteten Russland und den unabhängig gewordenen zentralasiatischen Staaten, wieder für die kapitalistische Ausplünderung verfügbar. In China hatten die Stalinisten durch die Restauration des Kapitalismus, die Niederschlagung des Arbeiterwiderstands 1989 und die Öffnung von »Freihandelszonen« für transnationale Investitionen ein enormes Reservoir billiger Arbeitskräfte geschaffen…

Sowohl in Europa als auch in Asien werden solche geostrategischen Pläne bereits erkennbar umgesetzt. Im Indopazifik wird die militärische Präsenz der USA und ihrer Verbündeten systematisch gegen China ausgebaut, und Russland sieht sich der Stationierung von NATO-Verbänden in Osteuropa gegenüber und muss mit ansehen, wie die USA den ultranationalistischen Regierungen der baltischen Staaten und der Ukraine militärische Unterstützung in Aussicht stellen. Die amerikanische herrschende Klasse ist zum Schluss gelangt, dass die Atommächte Beijing und Moskau eher früher als später in die Schranken verwiesen werden müssen. Das Ziel Washingtons besteht darin, China und Russland auf den Status halbkolonialer Klientelstaaten herabzudrücken, das »Kernland« zu kontrollieren und die Weltherrschaft zu erringen…

Siebzig Jahre nach dem Fall von Hitlers Drittem Reich erhebt die deutsche herrschende Klasse erneut den Anspruch, dass sich ihr Staat als unangefochtener Beherrscher Europas und als Weltmacht etabliert. Im Gegensatz zur tief in der deutschen Bevölkerung verwurzelten Ablehnung von Krieg setzt Berlin seine Interessen im Nahen Osten und in Afrika mit militärischen Mitteln durch. Enorme Summen fließen in die Aufrüstung, und Apologeten der Naziverbrechen werden vom politischen Establishment, den Medien und dem Wissenschaftsbetrieb hofiert, um das Wiederaufleben der imperialistischen Ambitionen Deutschlands zu rechtfertigen…

Der britische Imperialismus seinerseits betrachtet den Niedergang der USA als Chance, die nach wie vor bedeutsamen globalen Geschäfte der im Finanzzentrum London ansässigen Banken und Finanzinstitute auszubauen. Frankreich strebt an, seine ehemaligen Kolonialgebiete in Nord- und Westafrika wieder unter Kontrolle zu bekommen. Italien plant, seinen Einfluss in Libyen wiederherzustellen…

Aus der Krise des kapitalistischen Nationalstaatensystems ergeben sich zwei entgegengesetzte Perspektiven. Der Imperialismus versucht, den Zusammenstoß wirtschaftlicher und geostrategischer Interessen, der sich unweigerlich aus diesem System ergibt, durch den Sieg einer hegemonialen Weltmacht über alle ihre Rivalen zu überwinden. Darin besteht das Ziel seines geostrategischen Kalküls, das unabwendbar in einen globalen Krieg mündet.

Die internationale Arbeiterklasse, die sich der Geopolitik der Kapitalistenklasse in den Weg stellt, bildet als gesellschaftliche Kraft die objektive Massenbasis für die sozialistische Weltrevolution, die dem Nationalstaatensystem insgesamt ein Ende setzt und die globale Wirtschaft auf Gleichheit und wissenschaftliche Planung basiert. Der Imperialismus erstrebt die Rettung der kapitalistischen Ordnung durch Krieg. Die Arbeiterklasse erstrebt die Überwindung der globalen Krise durch die soziale Revolution. Die Strategie der revolutionären Partei ergibt sich aus der Negation der imperialistischen, auf Nationalstaaten basierenden Geopolitik. Die revolutionäre Partei lässt sich, wie Trotzki erklärte, »nicht von der Kriegskarte, sondern der Karte des Klassenkampfs« leiten…

Die russische Regierung vertritt die Oligarchen, die aus der stalinistischen Bürokratie hervorgingen, nachdem diese den Sowjetstaat zerschlagen und die staatlichen Eigentumsverhältnisse abgeschafft hatten. Mit ihrem Eintreten für »großrussischen« Chauvinismus treibt sie den Stalinismus insofern auf die Spitze, als dieser die gewaltsame und konterrevolutionäre Zurückweisung des internationalistischen Programms des Marxismus verkörperte…

Die Weltwirtschaft und die Weltpolitik sind in ein neues Stadium eingetreten. Der kapitalistische Triumphalismus, der mit der Restauration des Kapitalismus in Osteuropa einsetzte und sich bei der Auflösung der Sowjetunion durch die Stalinisten zum Siegesgeheul steigerte, ist verflogen. Das Kartenhaus der Spekulation, aus der sich der parasitäre Reichtum der herrschenden Klasse speiste, bricht zusammen. Das Fallen der Aktienkurse schmälert nicht nur ihr Portfolio, sondern ramponiert auch Ansehen und Glaubwürdigkeit der prokapitalistischen Theoretiker und Politiker.

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Der Ausbruch der Covid-19-Pandemie vor zwei Jahren hat die vom IKVI vor sechs Jahren festgestellten Tendenzen noch verstärkt. Die Pandemie ist ein Trigger Event, ein „auslösendes Ereignis“ der Weltgeschichte, das alle grundlegenden Widersprüche der heutigen kapitalistischen Gesellschaft beschleunigt hat.

Die gegenwärtige Krise bestätigt sowohl die Analyse des IKVI von vor sechs Jahren als auch die Schlussfolgerungen, die in der Erklärung gezogen wurden. „Es gilt, eine neue internationale Antikriegsbewegung aufzubauen, in der sich die arbeitenden Menschen und die Jugend gegen Kapitalismus und Imperialismus zusammenschließen“, erklärte das IKVI. „Dieselbe kapitalistische Krise, die den Wahnsinn des Kriegs hervorbringt, erzeugt auch den Anstoß zur sozialen Revolution.“

In der Erklärung wurden die folgenden notwendigen politischen Grundlagen für eine Bewegung gegen den Krieg dargelegt:

  • Der Kampf gegen Krieg muss von der Arbeiterklasse ausgehen, die als revolutionäre gesellschaftliche Kraft alle fortschrittlichen Teile der Bevölkerung hinter sich vereint.
  • Die neue Bewegung gegen Krieg muss antikapitalistisch und sozialistisch sein, denn man kann nicht ernsthaft gegen Krieg kämpfen, ohne danach zu streben, der Diktatur des Finanzkapitals und dem Wirtschaftssystem, das die Ursache für Militarismus und Krieg bildet, ein Ende zu setzen.
  • Aus diesem Grund muss die neue Antikriegsbewegung unbedingt vollkommen unabhängig sein von allen politischen Parteien und Organisationen der Kapitalistenklasse und diese ablehnen.
  • Vor allem muss die neue Antikriegsbewegung international sein und dem Imperialismus in einem vereinten globalen Kampf die enorme Kraft der Arbeiterklasse entgegenstellen. Dem ständigen Krieg der Bourgeoisie muss die Arbeiterklasse mit der Perspektive der permanenten Revolution begegnen, die als strategisches Ziel die Abschaffung des Nationalstaatensystems und die Errichtung einer sozialistischen Weltföderation anstrebt. Auf diese Weise können die globalen Ressourcen auf rationale, planmäßige Weise erschlossen werden, um die Armut zu überwinden und die Kultur der Menschheit aufblühen zu lassen.

Quelle: wsws.org… vom 23. Februar 2022

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