Die Krise der Flüchtlinge als Indiz eines zerfallenden Systems
Sandra Bloodworth. In Berlin hat ein Beamter die in Deutschland ankommenden Flüchtlinge als “unerwünschten Abfall der Welt” bezeichnet. Dies geschah 1946. Der Beamte war ein Migrationsspezialist der britischen Besatzungsarmee. Er beklagte sich, dass Deutschland kein Abfalleimer mit einer unendlichen Aufnahmekapazität für diesen Müll sei.
Siebzig Jahre danach ist die Rede von Flüchtlingen, die in Europa einfallen oder Europa überschwemmen. Eine der grössten Massenversammlungen, die je in Warschau stattfanden, skandierte im vergangenen Jahr “Polen den Polen!”. Es kommt häufig zu tödlichen Angriffen auf Flüchtlingsunterkünfte in Deutschland; die extreme Rechte wächst in ganz Europa und verspottet mit ihrem anti-islamischen Schmutz die Losung “Nie wieder!¨.
Diese menschliche Tragödie verweist auf ein grundsätzlicheres Problem als es der Rassismus ist: Es geht um ein zerfallendes, in einer Krise verstricktes System.
Karl Marx sagte, dass sich der Kapitalismus von Kopf bis Fuss von Blut und Schmutz triefend entwickelte, dass er als Konkurrenzsystem nach derWeltherrschaft drängt und dass der Krieg unvermeidlich sei. Die Entfesselung der Marktkräfte würde das System regelmässig in Krisen treiben.
Seit der weltweiten Finanzkrise von 2008 sind abnehmendes Wachstum und wachsende Armut neben obsönem Reichtum zur neuen Normalität geworden; 62 Personen besitzen mittlerweile gleichviel des weltweiten Reichtums wie die ärmere Hälfte der Menschheit.
In Europa sind 22 Millionen Lohnabhängige ohne Arbeit. Die Regierungen des Kontinents, in vollem Bewusstsein des wachsenden Unmuts über die sich verschärfenden Wellen von Austerität, antworten mit der uralten Strategie: teile und herrsche. Bewaffnete Polizeieinheiten verwandeln friedliche Proteste in Kriegsgebiete und erklären sie zu “Aufständen”. Die Muslime werden verunglimpft und verfolgt. Flüchtlinge stehen zunehmend faschistischen Gesetzen gegenüber, die nahelegen, dass sie eine Gefahr seien.
Diese Art des Leidens ist unvermeidbar solange der Kapitalismus weiter lebt.
Wir haben dies bereits früher und auf erweiterter Stufenleiter erlebt. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden viele Millionen mehr als heute wie Bauern auf einem Schachbrett von den Siegermächten bei ihrem Machtspiel hin- und hergeschoben.
Im Juli 1945, als sich Churchill, Roosevelt und Stalin in Potsdam trafen, um die Kriegsbeute unter sich aufzuteilen, vereinbarten sie “anzuerkennen, dass die Verschiebung der deutschen Bevölkerung aus Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn nach Deutschland vorgenommen werden soll”. Polen wurden aus den ostpolnischen Gebieten vertrieben, die die UdSSR annektiert hatte; Tausende, insbesondere Juden, wurden zu Vertriebenen, als sie um Asyl baten.
R.M. Douglas, der diese Ereignisse untersuchte, kommt zur Schlussfolgerung: “Die Allierten machten sich an die Vertreibung von 12 bis 14 Millionen Menschen aus ihrer Heimat: die grösste Episode ethnischer Säuberung in der menschlichen Geschichte … Mindestens 500´000 … starben wegen Hunger, Vergewaltigung, Krankheit, Gewalt und aussergerichtlichen Hinrichtungen durch Soldaten und Milizverbänden der vertreibenden Länder”.
Churchill versprach 1944: “Es wird keine Durchmischung von Völkern geben, die endlose Schwierigkeiten bereiten … es wird sauberer Tisch gemacht werden”. So äusserten sich die politischen Führer, die sich über wunderbare “Europäische Werte” und Demokratie grosstaten; sie stellten fest, dass unterschiedliche ethnische Gemeinschaften nicht in Frieden zusammen leben könnten.
Ein grosser Teil Europas wurde in Schutt und Asche gelegt. Der grossangelegte Wiederaufbau trug zur wirtschaftlichen Belebung bei. Dies ist die Logik des kapitalistischen Marktes. Die Zerstörung von Leben, Städten und Reichtümern ermöglicht den Kapitalisten, billig zu kaufen und aus der Krise zu kommen. Die Länder auf dem Wellenberg dieses neuen Aufschwungs nehmen Flüchtlinge auf – keineswegs aus humanitären Erwägungen, sondern weil es sich um potentiell billige Arbeitskräfte handelt. So lautete die Losung des australischen Einwanderungsministers Arthur Calwell “bevölkere oder gehe unter”. Zwischen 1947 und 1953 unterstützte die australische Regierung über 170´000 Vertriebene bei ihrer Einwanderung nach Australien. Eine Webseite der Regierung unterrichtet uns, dass die Einwanderung von 3 Millionen Menschen zwischen 1945 und 1975 “das Schlüsselelement waren, um die Bevölkerung Australiens in die Höhe zu treiben, damit die wirtschaftliche und militärische Sicherheit gewährleistet werden konnte”.
Heute haben die Kapitalisten und die Regierungen keine Lösung für die Krise des Neoliberalismus. Ihre Kriege im Mittleren Osten zerstören keine Reichtümer im Herzen des Systems; damit steht der Wiederaufbau nicht auf der Agenda. Die Millionen, die nach Europa fliehen, sind ein Bruchteil der betroffenen Bevölkerungen. Mit 500 Millionen Einwohnern und seinem Reichtum ist Europa gegenüber den 1940er Jahren florierend und könnte den Flüchtlingen leicht ein neues Leben verschaffen. Stattdessen werden Milliarden ausgegeben, um die Menschen draussen zu halten.
Beinahe 9 Milliarden $ werden ausgegeben, um die Flüchtlinge von Griechenland zurück in die Türkei zu schicken. Millionen werden aufgewendet für den rassierklingenscharfen Stacheldrahtzaun und die Grenzpatrouillen, anstatt sich der Nöte der Verzweifelten anzunehmen – wie beispielsweise der Verschaffung von Wohnung und Arbeit.
Die extreme Rechte gedeiht auf einer rassistischen Traition, wie sie von Regierungen und Literaten seit dem Ersten Weltkrieg ausgedrückt wird. Sie dringt in ein wachsendes Milieu vor, das mit Unsicherheit geplagt wird, da die Menschen ihre Arbeit durch Prekarität und Arbeitslosigkeit bedroht sehen.
Während der Kapitalismus in zunehmenden Zerfall und Chaos gleitet, wofür die breiten Massen bezahlen sollen, verabschiedet sich die EU von der Vision eines kultivierten und demokratischen Europa. Der alternde Kapitalismus wird zunehmend barbarisch.
Die Krise des Systems bedeutet nicht länger, dass Flüchtlinge wie Bauern auf dem Schachbrett herumgeschoben werden, damit sie durch die Kapitalisten besser ausgebeutet werden können. Sie bedeutet Aussschluss, Diskriminierung und die Rolle von Sündenböcken, die von der verzweifelten Bevölkerung beschuldigt werden können, anstelle des wirklichen Mülls, diese verabscheuungswürdigen Verbrecher und Parasiten, deren Kriege Flücjhtlinge generieren und die den Reichtum verzehren, der zum Aufbau einer anständigen Gesellschaft eingesetzt werden könnte.
Quelle: redflag.org.au… vom 8. April 2016; Übersetzung aus dem Englischen durch Redaktion maulwuerfe.ch
Tags: Europa, Neoliberalismus, Rassismus
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