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Wie in der Ukraine Menschen zu Staatsverrätern erklärt werden

Eingereicht on 11. September 2023 – 12:44

Maxim Goldarb. In letzter Zeit haben wir in den ukrainischen Nachrichten fast täglich davon gehört oder gelesen, dass „Staatsverräter“ vom Sicherheitsdienst (SBU) oder dem staatlichen Ermittlungsdienst DBR und der Staatsanwaltschaft bei staatsfeindlichen Aktivitäten und Verrat entdeckt worden seien. Bei diesen „Verrätern“ handelt es sich in der Regel um bekannte öffentliche Persönlichkeiten und Politiker, die mit der Politik der Regierung nicht übereinstimmen, sie kritisieren, sich gegen den Krieg und für Frieden aussprechen oder die korrupten Motive und Absichten des derzeitigen Regimes enthüllen. Seltener werden einfache Bürger wegen absolut geringfügiger „Vergehen“ als „Staatsverräter“ an den Pranger gestellt, etwa für Posts und Likes in den sozialen Netzwerken, oder weil sie öffentlich ihre Meinung äußern.

Damit verfolgen die Behörden mehrere Ziele:

1) Die ukrainische Bevölkerung soll von den Fehleinschätzungen, Fehlern, Verbrechen und dem Versagen der Regierung abgelenkt werden;

2) Den Aufbau eines Bildes von „Volksfeinden“;

3) Die strafrechtliche Verfolgung von politischen Gegnern und Rivalen;

4) Die Erzeugung und Kultivierung einer umfassenden Atmosphäre von Angst, gegenseitigem Misstrauen und Hass in der ukrainischen Gesellschaft nach dem Prinzip „Teile und herrsche“.

Die Punkte 1, 2 und 4 zielen vor allem auf psychologische Ergebnisse ab: die Gesellschaft soll getäuscht und in einen Abgrund aus Angst und Misstrauen gestürzt, und damit von der Wirklichkeit abgelenkt werden. Punkt 3 ermöglicht es der Regierung, ihre Gegner aus dem politischen Geschehen zu entfernen, zu verfolgen und in Gefängnisse zu werfen, sie zu verstümmeln oder sogar zu töten, und ihnen ihr Eigentum und ihre Geschäfte wegzunehmen.

Für den Uneingeweihten ergibt sich zweifellos die Frage, warum Gegner der Regierung oft wegen genau dieses Artikels des Strafgesetzbuchs, und gerade wegen Verrats angeklagt werden? Hierzu muss man wissen, dass die Definition des Verbrechens „Staatsverrat“ gemäß Artikel 111 des ukrainischen Strafgesetzbuchs sehr vage und abstrakt gehalten ist. Dadurch hat der Unterdrückungsapparat die Gelegenheit, jeden anzuklagen, auf den es der Präsident oder sein Team abgesehen haben.

Man darf indessen nicht vergessen, dass die derzeitige Version dieses Gesetzes von den Abgeordneten von Präsident Selenskyjs Partei „Diener des Volkes“ verfasst und abgesegnet wurde. Deshalb überrascht es nicht, dass daraus ein so „multilaterales“ und vages Gesetz wurde, das so interpretiert werden kann, wie es Lage oder Anweisungen von oben erfordern.

Im Text des Gesetzes wird Staatsverrat definiert als eine „Tat, die begangen wird zum Nachteil der Souveränität, territorialen Integrität und Unverletzlichkeit, Verteidigungsfähigkeit, staatlichen-, wirtschaftlichen- und Informationssicherheit der Ukraine“. Diese Definition kann auf nahezu alles und jeden angewandt werden. Das wichtigste grundlegende Thema ist: Wer in der Ukraine hat das Recht, dieses Gesetz anzuwenden, auszulegen und auszuwerten? Definitiv nicht die Gerichte, sondern vielmehr die besonderen Dienste und die Staatsanwaltschaft, die beide völlig vom Präsidenten selbst bzw. den Strukturen abhängig sind, die er ernennt und absetzt. Nach seiner Machtübernahme tat Selenskyj alles dafür, seine Leute als Leiter der Strafverfolgungsbehörden einzusetzen. Jetzt während des Krieges hat er es geschafft, die ganze Macht über das Justizsystem in der Ukraine in seinen Häünden zu konzentrieren, obwohl das eindeutig gegen die Vorgaben der ukrainischen Verfassung verstößt.

Die Führung der Ermittlungsbehörden – der DBR, der SBU, Staatsanwaltschaft, Polizei, das Amt für wirtschaftliche Sicherheit (BEB) – und das Justizsystem sind jetzt vollständig unter der Kontrolle des Präsidenten und ihm Rechenschaft schuldig. Tatsächlich werden sie vom Präsidenten ernannt und abgesetzt.

Zudem wird Staatsverrat als besonders schweres Verbrechen gehandhabt und Artikel 111 sieht Haftstrafen von bis zu fünfzehn Jahren vor. Das Strafprozessrecht erlaubt in diesem Fall die Verhaftung eines Verdächtigen ohne Recht auf Kaution oder Freilassung.

Zweifellos würde jeder vernünftige Anwalt aus einem demokratischen Land einwenden, dass es offensichtliche und unwiderlegbare, in ausschließlich legaler Weise gesammelte Beweise geben muss, um die Schuld einer Person an einem so gravierenden Verbrechen zu beweisen. Dazu gehört Material aus operativen Aktivitäten wie Abhöraktionen, abgefangene und gelesene Korrespondenz, Videos von Überwachungskameras und Tonaufnahmen von Unterhaltungen, Treffen, Taten, physische Beweise, qualitative Berichte von Agenten, etc. Eine faire und objektive juristische Entscheidung über Schuld oder Unschuld des Angeklagten wäre nur auf der Grundlage der Gesamtheit aller derartigen Beweise und ihrer umfassenden Würdigung vor Gericht möglich. Ein solcher Anwalt würde natürlich absolut richtig liegen…

Allerdings mit einer Einschränkung: Im Land und im Justizsystem des Anwalts könnte es notwendig sein, erst die Schuld einer Person nachzuweisen, noch bevor der Richter sein Urteil fällt. In der Ukraine besteht diese Notwendigkeit seit Beginn des Krieges nicht mehr. Der Gegner der Behörden, das Opfer, muss lediglich in Gewahrsam genommen werden. In der Untersuchungshaft lebt der Angeklagte in unerträglichen Bedingungen: er wird auf ungewisse Zeit gefoltert, misshandelt und erpresst. Das Verfahren geht sehr, sehr langsam vonstatten, und selbst wenn es zur Verhandlung kommt, kann der Verhaftete weiter in Haft gehalten werden. Das ist das, was gegenwärtig passiert. Die ganze Welt weiß, wie schlimm die Lage für linke Gegner und Antifaschisten wie die Brüder Alexander und Michail Kononowitsch, den Publizisten und Blogger Dmitri Skworzow, die Anwältin, Menschenrechtsaktivisten und bekannte Antifaschistin Elene Bereschnaja und andere Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens ist, die oppositionelle Ansichten geäußert haben.

Aber, so wird sich der Leser fragen, ist es nicht unmöglich, jemanden einfach ohne die geringste juristische Rechtfertigung hinter Gitter zu stecken und ihn eines der schwerwiegendsten Verbrechen gegen das Land anzulasten, wie es die Gestapo in Hitler-Deutschland getan hat? Es ist möglich. In der heutigen Ukraine ist es möglich. Doch um der völligen Gesetzlosigkeit zumindest den Anschein einer gewissen Legitimität zu verleihen, haben die Strafverfolgungsbehörden (SBU, DBR und Staatsanwaltschaft) gelernt, – Achtung! – „Expertengutachten“ über die Äußerungen und Kommentare einer Person in den sozialen Netzwerken einzuholen.

Zu diesem Zweck lassen die Strafverfolgungsbehörden einen Experten für Linguistik die Äußerungen eines Gegners der derzeitigen Regierung – egal ob in Form eines Social-Media-Posts, einer Rede im Fernsehen oder eines Zeitungsartikels – einer forensischen linguistischen Untersuchung unterziehen. Dabei geht es um folgende Fragen:

1) Beinhalten diese Worte irgendetwas Schlechtes über die Ukraine?

2) Deutet irgendetwas in diesen Worten an, dass die Person direkt oder indirekt den Feind unterstützt?

3) Besteht eine lose Beziehung zwischen diesen Worten und daraus entstehenden Folgen?

Und so geht es weiter. Erwartungsgemäß kann jedes Wort, jede Position und Äußerung als „schlecht“ eingestuft werden, weil der forensische Experte auf der Grundlage hochgradig relativer und subjektiver Auswertungen sowie subjektiver Wahrnehmung vorgeht. Und das wichtigste in einem solchen Fall ist es, den „richtigen“ Experten zu finden, der die Worte des Opfers des Regimes „korrekt“ auswertet und das „notwendige“ Gutachten ausstellt.

Wo kommt dieser Experte her? Wie wird sein Bericht verfasst? Und hier wird es besonders interessant für diejenigen, die noch nicht erlebt haben, mit welchen Mitteln das derzeitige ukrainische System Abweichler verfolgt. Ein Teil des Expertengutachtens kann in staatlichen Instituten mit forensischer Expertise durchgeführt werden, in denen der Experte vom Direktor des Instituts einen Befehl erhält, den er erfüllt, indem er das Notwendige schreibt. Weil in der Ukraine Experten heute für nichts mehr verantwortlich sind, können sie schreiben, was sie wollen.

Daneben gibt es „ernannte“ Experten, denen das staatliche Strafverfolgungssystem geholfen hat, die für linguistische Untersuchungen notwendige Lizenz vom Justizministerium zu erhalten. Sie stehen auf der Gehaltsliste des staatlichen Strafverfolgungssystems und erhalten ein sehr ordentliches Gehalt; als Gegenleistung dafür liefern sie die vom System benötigte Expertise. Wenn man ein schlechtes Expertengutachten will, schreiben sie ein schlechtes, wenn man ein gutes will, schreiben sie ein gutes. Dann werden die Ergebnisse dieses Expertengutachtens als Grundlage für eine Anklage und die Einleitung eines Verfahrens benutzt. Zuerst wird die Person angeklagt, kommt auf eine Fahndungsliste, wird verhaftet, eingesperrt usw.

So erging es dem Metropoliten Pawel, dem Vikar von Kiew-Petschersk Lawra, dem wichtigsten orthodoxen Kloster in der Ukraine, und so erging es vielen Oppositionellen im Parlament, Personen des öffentlichen Lebens, Politikern und Vorsitzenden von Parteien, die von Selenskyjs Regierung verboten wurden. So ergeht es denjenigen, die die derzeitige Regierung als Feinde betrachtet, aber keine Beweise für eine Schuld hat.

Man stelle sich vor, wie albern und wahnhaft der Vorwurf des Staatsverrats gegen einen ehemaligen Abgeordneten, dessen Fernsehsender von Präsident Selenskyj eingestellt wurde, klingt: Er hat einen Fernsehsender gegründet, in dem Ansichten gegen den Staat geäußert wurden? Kann irgendjemand wirklich glauben, dass ein gewissenhafter, intelligenter und wirklicher Experte sämtliche Terabyte Informationen überprüft, die Aufnahmen aus mehreren Jahren mit Tausenden von Politikern, Aktivisten, öffentlichen Persönlichkeiten, Journalisten, Experten, Spezialisten und Zuschauern durchforstet und Milliarden Worte, Sätze und Reden ausgewertet hat? Und dass jener gewissenhafte Experte auf dieser Grundlage zu dem Schluss kommen konnte, dass die Politik des Senders staatsfeindlich und verräterisch war? Natürlich nicht. Das ist absurd. Doch in der Ukraine haben sie in freundschaftlicher Eintracht ein absolut haltloses Expertengutachten vorbereitet. Und auf der Grundlage der belastenden Ergebnisse dieses Gutachtens wurde ein ehemaliger Abgeordneter wegen Verrats angeklagt und auf die Fahndungsliste gesetzt.

Insgesamt wurden in der Ukraine in den letzten eineinhalb Jahren mehr als 1.500 Strafverfahren wegen „Hochverrats“ eingeleitet. Mit anderen Worten, werden gemäß diesem Artikel täglich im Durchschnitt zwei bis drei Verfahren eröffnet.

Um es zu wiederholen: die Ergebnisse der Strafverfolgungsbehörde (die in unserem Land auch für die Anklage zuständig ist), die in Übereinstimmung mit dem Gesetz erzielt werden, sind für das Gericht bedeutungslos und kein Beweis für die Schuld einer Person. Bis der Fall vor Gericht entschieden wird, spielen Beweise überhaupt keine Rolle. Nur die Beweise, die vor Gericht vorgelegt und vom Richter während des Prozesses untersucht werden, zählen. Doch um jemanden eines Verbrechens anzuklagen, muss die Strafverfolgungsbehörde zumindest irgendwelche Daten sammeln, die irgendwie die Richtigkeit ihrer Ansicht über die Schuld der Person bestätigen. Hier kommt die per se betrügerischen Untersuchungen zu den staatsfeindlichen Ansichten einer Person ins Spiel.

Das bedeutet jedoch nicht, dass der Angeklagte auch tatsächlich schuldig gesprochen und verurteilt wird. Im Gegenteil wird ein normales Gericht sie vielmehr für unschuldig und ihre Schuld als unbewiesen befinden. Doch wird dies natürlich so schnell nicht passieren, sicherlich nicht unter dem derzeitigen Regime. Und wie viele politische Gefangene diese Veränderung noch erleben werden, ist leider eine offene Frage…

Sind Informationen zum Frieden und Aufrufe zum Frieden anti-ukrainische Informationen? Für die derzeitige Regierung, die „Partei des Kriegs“ und für diejenigen, die den Krieg fortsetzen und Geld daran verdienen wollen und für die der Krieg eine Verlängerung dieses politischen Zyklus bedeutet, lautet die Antwort „Ja“.

#Titelbild: US-Präsident Joe Biden und der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj in Kiew. (Foto: @POTUS Twitter) [Photo: @POTUS Twitter]

Quelle: wsws.org… vom 11. September 2023

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