Griechenland: Erste landesweite Konferenz der „Volkseinheit“ (LAE)
Am Rande des Festivals „Marxism 2016“, das von der britischen Socialist Workers Party (SWP) in London veranstaltet wird, hat Paul Michel Ende Juni/Anfang Juli mit Stathis Kouvelakis über die Ergebnisse der ersten landesweiten Konferenz von LAE gesprochen, die am Wochenende 25./26. Juni in Athen stattfand.
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Was sind die wichtigsten Ergebnisse der Konferenz von LAE?
Die Konferenz war auf jeden Fall insofern ein Erfolg, als da die unterschiedlichen Strömungen und Tendenzen, aus denen LAE besteht, zusammengekommen sind. Wie Du weißt, ist LAE keine einheitliche Partei, sondern eine Um- und Neugruppierung von Kräften, die für sich selbstständig sind und über eigenständige Organisationsstrukturen verfügen. Alle diese sehr unterschiedlichen Kräfte sind zum ersten Mal zu einer gemeinsamen Konferenz zusammengekommen und haben eine Debatte miteinander geführt, ausgehend von dem Selbstverständnis, dass sie alle Teile eines gemeinsamen Projekts sind. Das war sehr positiv. Der zweite positive Aspekt war, dass bei der erstmals durchgeführten Bestandsaufnahme der Mitglieder herausgekommen ist, dass wir ca. 5000 Mitglieder haben – was nicht schlecht ist.
Bei den Debatten standen Fragen der Programmatik im Mittelpunkt. Es gibt innerhalb von LAE Unterschiede dazu, wie wir uns zur „nationalen Frage“ positionieren. Die Leute, die aus der Strömung von Lafazanis kommen, sprechen von „nationaler Unabhängigkeit“ oder „nationaler Souveränität“. Aber nicht in einem nationalistischen Sinn, sondern in dem Sinn, dass es wichtig ist, gegen die Troika zu kämpfen. Sie sprechen davon, dass Griechenland zunehmend den Diktaten der Troika unterworfen ist und dass mittlerweile sogar wichtige Bestandteile des griechischen Staates wie die eigenständige Verfügung über die Steuern der griechischen Regierung entzogen und der direkten Kontrolle durch die Troika unterworfen sind. Nimmt man noch die Privatisierungen und den Ausverkauf öffentlicher Güter hinzu, so kommen sie zu dem Schluss, dass momentan so etwas wie eine Rekolonialisierung Griechenlands stattfindet.
Andere GenossInnen in LAE, im Wesentlichen die mit einem trotzkistischen Hintergrund wie die vom „Red Network“, vertreten hier eine andere Position. Sie sind der Meinung, dass der Bezug auf solche Begriffe wie „Kolonialisierung“ und die Forderung nach „Wiedergewinnung der nationalen Souveränität“ den Klassencharakter unserer Forderungen vernebeln. Sie stellen ein „Übergangsprogramm“ in Form eines „Anti-Austeritätsprogramms“ in den Vordergrund ihrer Überlegungen.
Hingegen ist es wohl die Auffassung der meisten an LAE beteiligten Strömungen, dass das „Übergangsprogramm“ sich nicht auf Anti-Austeritätsforderungen beschränken solle. Es sollte ehrgeiziger sein und eine Art der Rekonstruktion des Landes sprich der Volkswirtschaft, der Institutionen enthalten, mit der Perspektive der Schaffung einer alternativen Gesellschaft. Eines möchte ich an dieser Stelle klarstellen: Es gibt in LAE niemand, der/die eine Volksfrontkonzeption befürwortet. Niemand spricht sich für ein Bündnis mit einer vermeintlich fortschrittlichen nationalen Bourgeoisie aus, niemand propagiert die mit der Volksfrontpolitik eng verbundene Stufentheorie, die davon ausgeht, es gebe in der gegenwärtigen Phase gemeinsame Interessen mit dieser „nationalen Bourgeoisie“, so dass eine enge Zusammenarbeit mit ihr nahe liegen würde. Jeder und jede versteht das Übergangsprogramm als etwas, das auf den Sozialismus mit klar antikapitalistischer Ausrichtung orientiert. Aber natürlich gibt es unterschiedliche Ausprägungen, die nicht zuletzt auch unterschiedlichen politischen Traditionen der Einzelströmungen geschuldet sind.
Habt ihr auf dem Kongress so etwas wie eine gemeinsame Erklärung verabschiedet?
Ja, es gibt ein gemeinsames Dokument. In Kompromissformulierungen sind die unterschiedlichen Positionen darin eingearbeitet. Es zeigt, dass es eine solide Grundlage von Übereinstimmungen in LAE gibt. Auf der Konferenz gab es durchaus eine Diskussion über die unterschiedlichen Positionierungen. Es gab aber keine Abstimmungen über die unterschiedlichen Plattformen.
Wird das Dokument auch ins Englische oder Französische übersetzt?
Das ist eine gute Idee.
Du kannst Deinen GenossInnen ausrichten, dass sicher viele Linke im Rest Europas das gut fänden… Gab es auf der Konferenz Vereinbarungen dazu, welche Aktivitätsfelder in nächster Zeit im Vordergrund stehen sollen? Oder gab es dazu ohnehin keine Differenzen?
Die Priorität ist, den Widerstand gegen diesen ganzen Wust von ekligen Maßnahmen zu entwickeln, nicht nur gegen die Austeritätsmaßnahmen, sondern auch gegen die Privatisierungen. In diesen Bereichen ist LAE, zusammen mit anderen Kräften der radikalen Linken, jetzt schon sehr aktiv. Zur Zeit ist der Kampf gegen die Rentenkürzungen natürlich sehr drängend. Hinzu kommt der Umstand, dass momentan die Troika großen Druck auf Tsipras ausübt, die Arbeitsgesetzgebung in dem Sinn zu ändern, dass Streiks und alle Arten gewerkschaftlicher Arbeit erheblich erschwert werden. Hier stehen wir in nächster Zeit vor schweren Auseinandersetzungen. Es gibt einen Kampf gegen die Privatisierungen, insbesondere gegen den Verkauf des Hafens von Piräus und der riesigen Fläche von Hellenikon, des früheren Flughafen von Athen. Und natürlich ist da die Solidarität mit den Flüchtlingen.
Dazu möchte ich anmerken. Wir sind absolut gegen den Deal zwischen der EU und der Türkei. Der Deal schließt für die Flüchtlinge die Grenzen und macht den Weg frei macht für massenhafte Abschiebungen von Griechenland in die Türkei. Wir verlangen die (Wieder-) Öffnung der Grenzen. Wir nehmen an der alltäglichen Solidaritätsarbeit mit Flüchtlingen teil. Die Lage für Flüchtlinge hat sich deutlich verschlechtert, nachdem die „Hot Spots“ in geschlossene Internierungslager umgewandelt wurden. Wir verlangen die (Wieder-) Öffnung dieser Zentren.
Letzte Frage. Hat es auf dem Kongress Leitungswahlen gegeben?
Im Vorfeld hat es eine Art Bestandsaufnahme der verschieden Fraktionen gegeben. Dabei kam heraus, dass die Strömung von Lafazanis auf 56 Prozent kam. Auf den zweiten Platz kamen die althusserianischen Organisationen (bekanntester Name: Panagiotis Sotiris) mit 20 Prozent. Das „Red Network“ kam auf 12 Prozent und eine Abspaltung von den Althussianern erhielt 5 Prozent. Dieses Kräfteverhältnis wird auf allen wichtigen Ebenen der Organisation abgebildet.
In unserem letzten Gespräch hast Du kritisch angemerkt, dass Du es als Problem siehst, dass die unterschiedlichen Strömungen die jeweils eigene Fraktion – und nicht LAE – als ihr Projekt sehen. Was ist dein Eindruck nach der Konferenz?
Ich habe den Eindruck, dass diese Frage nach wie vor offen ist. LAE ist ein sehr pluralistischer Rahmen, wo wirkliche Debatten stattfinden. Aber das ist nicht, was MarxistInnen unter Demokratie verstehen. Wir MarxistInnen verstehen darunter, dass wirklich die Mitglieder die Entscheidungen treffen. Wir haben bei uns immer noch das Problem, dass der Wille der Mitglieder vermittelt über die unterschiedlichen Fraktionen ausgedrückt wird. Da werden dann im Vorfeld Kompromisse und Vereinbarungen beschlossen. Obwohl die Entscheidungen formal demokratisch ablaufen, ist da dennoch ein Element von Intransparenz dabei. Denn jede Strömung hat ihre spezifischen internen Strukturen. Das finde ich nicht gut, weil Mitglieder sich da entmündigt fühlen können. Das war ja schon so bei Syriza. Und das müssen wir hier in LAE überwinden, wenn wir vorankommen wollen.
Vielen Dank für das Gespräch.
Stathis Kouvelakis unterrichtet Politische Theorie am King’s College in London. Er war Mitglied der Linken Plattform in SYRIZA und des Zentralkomitees der Partei. Nach der Kapitulation von SYRIZA im Juli 2015 hat er die Partei verlassen. Er ist jetzt Mitglied von «Laiki Enotita» (LAE, Volkseinheit).
Zusammen mit Jacques Bidet hat er den umfangreichen Sammelband Dictionnaire Marx contemporain (2001) herausgegeben; Ausgabe auf Englisch: Critical Companion to Contemporary Marxism, Chicago, Illinois: Haymarket Books, 2009, (Historical Materialism Book Series, Bd. 16).
Zahlreiche Beiträge von ihm sind auf Englisch veröffentlicht auf:
https://www.jacobinmag.com/author/stathis-kouvelakis/ sowie https://www.versobooks.com/authors/1120-stathis-kouvelakis
Quelle: griechenlandsoli.com… vom 23. Juli 2016
Tags: Breite Parteien, Griechenland, Strategie
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