USR III : Was geschah am 12. Februar 2017 ?
Paolo Gilardi. Die vernichtende Niederlage des Bürgertums bei der Volksabstimmung zur Unternehmenssteuerreform III (USR III) gibt weiterhin Anlass für Interpretationen, vor allem bei den Befürwortern.
Alle möglichen und unmöglichen Ursachen für diese Niederlage werden angeführt : von der Stellungnahme von Ex-Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf bis zu den Kommunikaitonsfehlern seitens der Unternehmerverbände und von economiesuisse, von einem xenophoben Reflex auf das Diktat der EU bis zum grossen taktischen Geschick von Christian Levrat, von der Arroganz der SVP-FdP-Mehrheit im Parlament bis zur mangelnden Führung des Dossiers durch Bundesrat Ueli Maurer, alles wird erwogen.
Gewiss haben zumindest ein Teil dieser Faktoren mehr der weniger zum Ergebnis beigetragen ; keiner jedoch – auch nicht ihre Kombination – kann ein so eindeutiges Ergebnis erklären. Es sei daran erinnert, dass gegen 60 % der Stimmenden das Paket an seinen Absender zurückgesandt haben ; für dieses Projekt haben sämtliche Regierungsparteien mit einer komfortablen Parlamentsmehrheit gekämpft – mit Ausnahme der SPS.
Ein Widmer-Schlumpf-Effekt ?
Schliesen wir vorerst die Idee eines xenophoben Anti-EU Votums aus. Eine solche Erklärung fusst auf einer flammenden Torheit oder gar auf einer intellektuellen Unredlichkeit. Sie abstrahiert just von der Tatsache, dass ein grosser Teil der angeblich xenophob Stimmenden die gleichen waren, die sich für die Einbürgerung der dritten Generation ausgesprochen haben. Wunderliche Fremdenfeinde….
Nun, sofern denn die deutliche Distanzierung seitens E. Widmer-Schlumpf in den Medien eine gewisse Wirkung gehabt hat, so ist ebenfalls sicher, dass dies das Schiff nicht aus dem Gleichgewicht gebracht hat. Wie kann man dies behaupten, wo doch die breite Basis der SVP, die nach wie vor für sie eine grenzenlose Verachtung empfindet, gilt sie doch als Mörderiin von Christoph Blocher, gegen die USR III gestimmt hat ?
Man kann höchsten annehmen, dass der Auftritt der ex-Finanzministerin den Diskurs über die bedrohten nationalen Interessen im Falle einer Niederlage der USR III relativiert hat. Ihr Auftritt hat ganz ebenso wie der von Ruth Dreyfuss die katastrophistischen Prophetien der USR III Befürworter weggewischt.
Die Linke vor künftigen Triumphen ?
Auf diese Weise hat die kleine sechzehnseitige Satirezeitschrift Vigousse aus der Romandie nach der Abstimmung in ihrem Inhaltsverzeichnis eine – imaginäre – Seite 17 angekündigt, wo sie angeblich auf die bevorstehenden Erfolge der Linken eingeht.
Obwohl die Unterstützer der Reforma aus Mangel an Argumenten versucht haben, aus der Abstimmung über die USR III eine links-rechts Auseinandersetzung zu machen, ist die am 12. Februar erfolgte Abstrafung nicht unbedingt ein Sieg der SPS noch die Einleitung von neuen Triumphen.
Gewiss wissen wir den Ton des Präsidenten der SPS und des Chefs ihrer parlamentarischen Gruppe wie auch die recht intensive und ungewöhnliche Kampagne der Partei zu schätzen. Dies umso mehr, als sie sich dabei deutlich von ihren Wahllokomotiven wie Pierre-Yves Maillard und Eva Herzog distanzierte.
Jedenfalls ist es durchaus wahrscheinlich, dass Vigousse dahingehend recht hat, dass es weniger die Kampagne der SPS war, die die breite Bevölkerung beeinflusst hat, als vielmehr die Unzufriedenheit der Leute, die der SPS Flügel verleiht hat.
Sind der Gewerbeverband und economiesuisse schuld ?
Die Erpressung mit den Arbeitsplätzen, das angebliche Fehlen eines Plans B oder dann die grossangelegten Manipulationen von Äusserungen von « linken » Persönlichkeiten durch die beauftragten Kampagnenagenturen für die USR III waren stossend.
Viele Stimmende fühlten sich durch eine Propaganda erpresst, die alle erdenklichen Übel prophezeite, sollte die USR III scheitern. Das Recht auf freie Entscheidung und das Recht auf eine eigene Meinung wurden verweigert.
Dies war freilich nicht das erste Mal, wo solche Praktiken angewandt wurden. Muss daran erinnert werden, dass im Kampf gegen alle Volksinitiativen, die sich mit der Armee beschäftigten, jeweils die schlichte Existenz der Schweiz ins Spiel gebracht wurde ? Dass es angeblich um die Zukunft der Schweizer Wirtschaft ging bei der Bekämpfung der sechs Ferienwochen oder neulich bei der Abstimmung zur Volksinitiative AHVplus ?
Es ist offensichtlich, dass die Drohung die Stimmenden nicht gegen diejenigen aufgebracht hat, die sie ausgestossen haben. Dasselbe gilt für die Verwendung von verschnittenen und aus ihrem Zusammenhang gerissen Zitaten von prominenten Sozialdemokraten und von offensichtlich gefälschten Fotos.
In dieser Angelegenheit war dies kein Versuchsballon des Gewerbeverbandes. Obschon teilweise empört, so hat doch die Mehrheit der Stimmenden diesen nicht ernst genommen. Hätten sie sonst so eindeutig entschieden ?
Schockierende Methoden ?
Für die Kommentatoren sind mittlerweile einzelne Massnahmen des Pakets besonders problematisch. So hat sicher die Tatsache, dass Dank der USR III die Unternehmen Steuerabzüge hätten tätigen können, die ihre reellen Ausgaben um bis zum Anderthalbfachen überstiegen hätten, viele schockiert.
Es ist jedoch kaum vorstellbar, dass die Summe dieser Werkzeuge die Leute dazu gebracht hat, gegen die USR III zu stimmen. Sehr wahrscheinlich hat ein sehr grosser Teil der NEIN-Stimmenden eine nur schwache Vorstellung davon, was diese Instrumente zur Steuersenkung wirklich hätten sein sollen.
Von daher ist es ein Fehlschluss zu glauben, dass ein Nachfolgeprojekt mit Änderungen an diesen Instrumenten vom Volk akzeptiert würde.
Zudem gibt es zwischen den bürgerlichen Parteien keinen Konsens über eine Beschränkung oder gar Streichung dieser Instrumente.
Niemand kennt die Kosten
Sehr wahrscheinlich hat die Weigerung des Bundesrates, sich über die Kosten gegenüber der Öffentlichkeit zu äussern, zur Niederlage beigetragen. Dies aus zwei Gründen.
Einerseits wollte die Mehrheit des Volkes der Regierung nicht Folge leisten bei einem Abenteuer, wo diese selbst sich auf die Unmöglichkeit berief, die finanziellen Auswirkungen zu schätzen.
Andererseits lässt sich denken, dass das Volk diejenigen Lügen bestraft hat, die von der Justiz als solche bezeichnet wurden ; sie bezog sich dabei auf die USR II von 2008.
Ein grundsätzliches Unbehagen
Für sich alleine genügt aber auch die Kombination dieser Faktoren nicht, das Abstimmungsresultat zu erklären.
Wenn denn diese Kombination eine Rolle gespielt hat, so weil sie unter besonderen Voraussetzungen entstanden ist, die durch eine Zunahme der Ungleichheit, die wirtschaftliche Stagnation seit 2008, einer Verschlechterung der öffentlichen Dienstleistungen, der Armut, der viele Junge (und Alte) ausgesetzt sind und einer Verschärfung der ökologischen Krise gekennzeichnet sind…
Auf dem selben Terrain hat sich die Minder-Initaitive abgespielt und genauso die Ablehnung der Personenfreizügigkeit ohne wirksame Massnahmen gegen das Lohn- und Sozialdumping.
Chur und Hochland von Neuchâtel
Am 12. Februar fanden zwei kantonale Volksabstimmungen statt, die wichtige Elemente zum Verständnis der Niederlage der USR III beitragen.
Die bündnerische Ablehnung der Durchführung von Olymischen Spielen ist aufschlussreich. In einem Kanton, wo jeder Junge davon träumt, in die Fussstapfen von Dumeng Giovanoli zu treten, dem Ski-Champion von ehedem und Speerspitze des Komitees für Olympische Spiele, oder dann Torschütze beim HC Davos zu werden hat die Verwerfung der Vorlage mit 60 % eine Signalwirkung. Sie bedeutet, dass unter keinen Umständen Abstriche bei den öffentlichen Dienstleistungen geduldet werden, sei es auch zugunsten von olympischen Spielen.
Im Kanton Neuchâtel, insbesondere Dank der Bevölkerung in seinem Hochland von Le Locle, La Chaux-de-Fonds wurde die Schliessung eines Spitals verworfen ; dieses Projekt wurde von einem SP-Regierungsmitglied vorwärtsgetrieben…
Mit anderen Worten, es ist zulässig, zu extrapolieren und zu folgern, dass die Abstimmungen vom 12. Februar weitgehend von der Weigerung getragen war, die öffentlichen Finanzen und die öffentlichen Dienstleistungen vor die Hunde gehen zu lassen.
Am 12. Februar wurde vom Volk den Geschenken an die Milliardäre und die grossen Firmen und die Austrockung der öffentlichen Finanzen eine klare Abfuhr erteilt. Dieser Wille kann nicht durch eine Auffrischung der Fassade der USR III gebrochen werden.
Ein sehr kostspieliges Linsengericht…
Die Sache wird nun so dargestellt, als ob die Linke zu keinem Kompromis bereit wäre ; ein solcher wäre angesichts der Asymmetrie zwischen der arroganten Haltung der SVP-FdP Allianz und der Mehrheit der Bevölkerung nur verhängnisvoll.
Der Kampf um die Altersvorsorge 2020, dem sogenannten « Plan Berset » wird als Testfall dienen. Der Schweizerische Gewerkschaftsbund und die Sozialdemokratische Partei der Schweiz – wie auch ihre Juniorpartner der sogenannten « Linken der Linken » lägen mit einer Akzeptierung der Erhöhung des Rentenalters für Frauen und einer Reduktion der Renten aus der Zweiten Säule für ein Linsengericht vollständig falsch, sei es auch für ein solches von 70.-….
Tags: Neoliberalismus, Service Public, Steuerpolitik, Widerstand
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