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Arbeitskämpfe und soziale Proteste rund um den Logistiksektor

Eingereicht on 9. November 2018 – 15:38

AkG. Was haben die Proteste zur #Seebrücke, die Streiks bei Ryanair oder in den Amazon Warenhäusern gemeinsam? Sie alle finden direkt oder indirekt im Logistiksektor statt. Anne Engelhardt zeigt, welche Verbindungen hier bestehen, und analysiert Ursachen für die – nicht nur von ihr konstatierte – Zunahme von sozialen und betrieblichen Kämpfen im Bereich des Logistiksektors. Der Artikel basiert auf ihrem Vortrag aus Anlass der Gründung des Arbeitskreises Arbeitskämpfe in der Assoziation für kritische Gesellschaftsforschung (AkG) vom 3. bis 5. November 2017. Mit diesem Beitrag eröffnen wir eine Reihe zum Thema Logistik.

In den letzten zwei Jahren wurden Häfen und Flughäfen zu Schauplätzen für Migrationsbewegungen weltweit. Nachdem US-Präsident Donald Trump seine Abschiebepläne für tausende von Menschen mit vorwiegend muslimischem Hintergrund veröffentlichte, besetzten AktivistInnen Flughäfen in Seattle, New York und anderen Großstädten, um Deportationen zu verhindern. In Deutschland weigerten sich PilotInnen, Geflüchtete nach Afghanistan zu transportieren, und blockierten so über 200 Abschiebungen. Gewerkschaftlich aktive Ryanair KollegInnen beteiligten sich am 13. Oktober mit einem eigenen Block an der antirassistischen #unteilbar-Demonstration in Berlin.

Rund ums Mittelmeer und die europäische Außengrenze findet immer noch der Kampf um das Recht auf Seenotrettung statt. Schiffen, die Geflüchtete vor dem Ertrinken retteten, wird das Einlaufen in die Häfen von Malta und Italien verweigert, so wird Öl in die rassistischen Kampagnen in den europäischen Ländern gegossen. Die KapitänInnen dieser Schiffe werden derzeit verurteilt, wenn sie sich gezielt an Rettungsaktionen beteiligten. Dagegen protestieren seit Wochen Tausende bei den #Seebrücke-Demonstrationen in Deutschland, auch in Barcelona gingen Hunderttausende auf die Straße und forderten, dass der Spanische Staat mehr Geflüchtete aufnehmen solle.

Betriebliche Auseinandersetzungen im Logistiksektor

Daneben findet eine Reihe wichtiger Arbeitskämpfe in dem Bereich statt. Im Dezember 2017 streikten in unterschiedlichen europäischen Ländern FlugbegleiterInnen und PilotInnen dafür, dass sie bei Ryanair eine gewerkschaftliche und betriebliche Vertretung aufbauen können. Nachdem dieser Schritt erfolgreich durchgesetzt werden konnte, gibt es nun vermehrt Kämpfe um Lohnerhöhungen und eine bessere Personalabdeckung während der Flüge, die beispielsweise in Portugal, Polen, Irland, England und momentan auch zum ersten Mal in Deutschland ausgefochten werden. Bei den Amazon-Beschäftigten, die vor allem für bessere Löhne, gegen Überwachung und Gängelung eintreten, findet eine zunehmende europäische und globale Vernetzung der Standorte statt (Apicella 2016). Denn immer wieder kommt es vor, dass Standorte in Nachbarländern für Streikbruch eingesetzt werden, wie sich bei den Arbeitskämpfen 2017 in Deutschland und Polen, aber auch immer wieder in Italien und Spanien zeigte (Boewe/Schulten 2017). In Deutschland wird wenig von den Auseinandersetzungen an europäischen Häfen wie in Italien, Spanien und Portugal berichtet, wo Beschäftigte gegen prekäre Arbeitsbedingungen kämpfen. Auch in Hamburg gibt es immer wieder Unmut insbesondere unter den in Leiharbeit angestellten Beschäftigten der Gesamthafenbetriebe (GHB), die 2017 protestierten, da ihnen für mehr als zwei Monate ihre Löhne nicht ausgezahlt wurden.

Logistische Revolution und Containerisierung

Die aufgeführten sozialen und betrieblichen Kämpfe markieren nur einen kleinen Ausschnitt aus der Vielzahl an Auseinandersetzungen im Logistiksektor. Logistik ist zunächst ein Prozess, der für die Produktion und Reproduktion von Kapital und Arbeit unabdingbar ist. Ohne Logistik sind die sich ständig wiederholenden Prozesse des Tausches von Waren, Dienstleistungen, Arbeitskräften und Wissen unmöglich (Scherrer/Brand 2005: 9). Logistik umfasst daher ein komplexes und facettenreiches Set von technischem Wissen, Werkzeugen, Standardisierungen, Protokollen, Organisationsprinzipien, institutionellen Strukturen und rechtlichen Bedingungen (Transnational Social Strike Platform (TSS) 2017: 5). Die gesamte Wertschöpfungskette und ihre unterschiedlichen Stationen wie Fabriken, Sweat Shops, Minen, Handarbeitsgewerbe und die Arbeitskräfte, die an die jeweiligen Orte zum Arbeitseinsatz gelangen müssen, sind wie Perlen auf der Schnur Logistik miteinander verknüpft (Bensman/Jaffee 2016: 58). Laut Brett Neilson (2012: 324) ist Logistik die Kunst und die Wissenschaft, die Mobilität von Menschen und Dingen so zu organisieren, dass sie ökonomischen Zielen dient. Dazu gehören sowohl Kommunikation als auch Transport – sowohl von Menschen und Waren als auch von Nachrichten und Wissen.

Eine Reihe von WissenschaftlerInnen und AktivistInnen argumentiert, dass insbesondere durch die sogenannte ›Logistische Revolution‹ bzw. die Einführung des Containers und des globalen Standardisierungsprozesses von Schienen, Schiffen, Zügen, LKWs etc. ab den 1950er Jahren eine wichtige Veränderung eingetreten ist. Der Container ermöglicht eine intermodale und dadurch um ein Vielfaches schnellere und günstigere Verladung von Gütern. Dabei wurden sowohl die Container als auch die Transportmittel der Container nach und nach auf Standardformate normiert. Als Waggon ohne Räder kann der Container problemlos auf Schiffen gestapelt, auf Zügen wie auf LKWs transportiert werden (Levinson 2006). Die Umladung von Waren bzw. das Löschen und Beladen von Schiffen dauert nicht mehr wie zuvor eine Woche oder mehrere Tage (was noch eher ermöglichte, dass sich Beschäftigte auf Schiffen gewerkschaftlich organisieren konnten, da sie auch für längere Zeit an Land gehen konnten), sondern nur noch wenige Stunden. Die Liegezeiten der Containerschiffe wurden damit enorm reduziert. Das wiederum verringert Kosten für die Wartung, die Versorgung der Besatzung und Liegegebühren. Durch die wachsende Geschwindigkeit und die gleichzeitige dramatische Reduktion der Transportkosten waren mehrere Prozesse überhaupt erst denkbar:

  • die Massenproduktion
  • die extreme Globalisierung der Arbeitsprozesse
  • die extreme Globalisierung der Ausbeutung von Ressourcen und Arbeitskräften und
  • die Globalisierung von Warenzirkulation in dem heute bekannten Ausmaß.

Deborah Cowen (2010: 600) schreibt, dass sich mit der Revolution in der Logistik die Wahrnehmung und Nutzung von Raum für die Zulieferketten völlig verändert hat. Seit 1970 hat sich der Welthandel mehr als versechzigfacht, die Direktinvestitionsströme mehr als verhundertfacht und die Anzahl der transnationalen Unternehmen mehr als verzehnfacht (Schmalz 2015: 549).

Damit veränderte sich aber auch die Position von Unternehmen und Branchen auf dem Weltmarkt. Diese Veränderung wird von Edna Bonacich (2003) und anderen als ›from push to pull‹-Prozess bezeichnet. Statt »Waren auf den Markt zu werfen« geht es darum, »Waren auf den Markt zu ziehen«. So kam mit der logistischen Revolution ab Anfang der 2000er nach und nach auch die Revolution im Einzelhandel, die wiederum den gesamten globalen Arbeitsmarkt veränderte.

Handwerk, Gewerbe und produzierende Konzerne verloren dramatisch an Bedeutung gegenüber Konzernen wie z.B. Wal-Mart oder UPS, die den Verkauf organisieren. Die Befehlskette kehrte sich um. Wal-Mart kann aufgrund der Art, wie er logistische Prozesse organisiert, Produktionspreise drücken und Anbieter gegeneinander ausspielen. Die günstigsten Anbieter für Produkte waren häufig dort, wo die strukturelle Macht von ArbeiterInnen gering ist, also in China, Bangladesch etc.. Dies führte zu einer Verschlechterung von Arbeitsbedingungen, aber auch zu einer enormen Ausdifferenzierung von Arbeitsschritten, bis hin zu einem Rückschritt in das Verlags- und Manufakturwesen der Heimarbeit, wie z.B. in Indien, wo etwa die Produktion von Armbändern und anderen Teilprodukten von Frauen neben der Hausarbeit verrichtet wird. Eva Senghaas-Knobloch (2008: 36) beschreibt dies als Rückschritt ins 18./19. Jahrhundert, also eine Rückverlagerung der Arbeit in die Haushalte, jedoch bei einem gleichzeitig globalisierten, verästelten, digitalisierten und vernetzten Arbeitsprozess.

Heute erleben wir eine weitere Verschiebung der globalen Marktmacht. Dieter Plehwe (2013: 59) bringt den Prozess der ›logistischen Revolution 2.0‹ sehr gut auf den Punkt, wenn er schreibt, dass es durch die Ausdehnung des elektronischen Handels mittlerweile die Logistikkonzerne selbst sind, die potenziell mit Industrie- und Handelskonzernen um die Position des »supply chain masters« konkurrieren. Zudem konkurrieren gleichzeitig strukturschwache Regionen mit hohen Arbeitslosenzahlen durch Investitionen um geplante Ansiedlungen von neuen Speditionszentren, Warenhäusern usw., wie z.B. von den DHL-Töchtern in Nordhessen oder Amazon-Lagerhäusern.

Das logistische Scharnier

Die Rolle, die die diversen Logistik-/Speditions-Unternehmen heute auf dem globalen Markt spielen, lässt die Definition der Transnational Social Strike Plattform (TSS) plausibel erscheinen, wenn die AutorInnen schreiben, Logistik sei die dem Kapitalismus aktuell zugrundeliegende Logik und die treibende Kraft hinter fortwährender Restrukturierung der Produktion, politischer Räume, Staaten, Städte, Metropolen und Herrschaftsbeziehungen. Ihre spezifische Bedeutung liegt in der Fragmentierung und gleichzeitigen Ausdehnung der unterschiedlichen Knoten und Ketten von Produktion und Reproduktion (TSS 2017: 5).

Aufgrund dieser Rolle stellt Logistik immer auch ein Scharnier zwischen Produktion und Reproduktion, zwischen privatem und öffentlichem Leben dar. Die Kämpfe in dem Sektor können aufgrund ihrer Vielseitigkeit nicht einseitig in Arbeitskampf oder Kampf um Reproduktion oder sogenannte ›alte‹ und ›neue‹ soziale Bewegungen unterteilt werden. Denn Logistik verbindet nicht nur unterschiedliche Punkte der Produktion und Reproduktion des Kapitals miteinander, sondern damit auch gleichzeitig die Kämpfe um diese Bereiche.

Aufgrund dieser veränderten Rolle der Logistikunternehmen gibt es eine Reihe von Kämpfen und Konflikten, die damit im Zusammenhang stehen. Der zentrale Ansatzpunkt ist dabei die Unterbrechung von logistischen Prozessen, denn Logistik verläuft größtenteils unsichtbar. Wir bekommen die Lokführerin des ICEs, der uns nach Hamburg bringt, so gut wie nie zu Gesicht. LKW-FahrerInnen haben auf den Raststätten oft ihren eigenen Bereich. Viele Transporte, wie die von Panzern in Kassel, laufen nachts ab, sind also aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit verbannt. Logistik wird erst durch ihre Unterbrechung sichtbar.

Logistik zwischen Migration und Grenzen

Logistische Prozesse verbinden Regionen und Staaten transnational. Damit markieren sie einerseits Grenzen, die sie andererseits auch überschreiten müssen, um eine reibungslose und schnelle Zirkulation sicherzustellen. Vor dem Hintergrund größerer Migrationsbewegungen durch wirtschaftliche, politische und umweltbedingte Zuspitzungen in unterschiedlichen Regionen der Welt wird die Frage ›Wer darf eine Grenze mittels Flugzeug/Boot/Schiff/Zug/LKW/Bus überqueren?‹ wieder zentral, sowohl in Europa als auch global. Vor diesem Hintergrund ist es auch nicht verwunderlich, dass eben genau an Häfen und Flughäfen, an Orten, an denen eine Konzentration von PassagierInnen und damit ein Nadelöhr entsteht, Potentiale für Proteste genutzt werden.

Arbeitskämpfe an Nadelöhren

Die logistische Revolution hat zu mehr Wettbewerb und zu einer höheren Bedeutung von Geschwindigkeit geführt. Gleichzeitig gibt es Knotenpunkte der Logistik, die durch die Containerisierung die Umschlagszeit von Waren verkürzen. Diese Knotenpunkte sind vor allem Häfen, an denen ein hohes Volumen an Waren transportiert wird, aber auch Flughäfen, an denen sowohl leicht verderbliche als auch sehr hochwertige Waren verladen werden. Flughäfen und Häfen bilden daher das Nadelöhr der globalen Zirkulation. HafenbetreiberInnen und Reedereien stehen dabei unter einem enormen globalen Konkurrenzdruck – insbesondere, weil die Bedeutung des Logistiksektors eine so hohe Bedeutung erlangt hat. Die Unternehmen versuchen Personalkosten einzusparen, sei es durch flexible Arbeitsverträge, niedrige Löhne oder die Einführung der »Selbstabfertigung«, d.h., dass Flugzeuge oder Schiffe nicht mehr durch das örtliche Flughafen- und Hafenpersonal entladen und gewartet werden, sondern durch firmeneigenes Personal. Durch den Widerspruch zwischen der unbedingten Personalkostensenkung einerseits und der enormen Bedeutung der Wertschöpfungskette mit dem Ziel einer ununterbrochenen Zirkulation von Waren und Arbeitskraft wird es immer häufiger auch auf betrieblicher Ebene zu Kämpfen kommen.

Prekarisierung der Arbeit ist dabei nicht nur ein Mittel, um Kosten zu senken, sondern ermöglicht auch ein größeres Drohpotential für den Arbeitgeber, gewerkschaftlich organisierte Beschäftigte schneller entlassen zu können. Der Kampf gegen Prekarisierung im Logistiksektor ist zu einer der entscheidendsten Auseinandersetzungen geworden – er dient gleichzeitig als Mittel zur gewerkschaftlichen Reorganisierung der Transportbeschäftigten und führte beispielsweise bei den Amazon-Beschäftigten, im Hafensektor in Portugal, bei den LKW FahrerInnen in den USA oder der Ryanair-Flugbegleitung zum Neuaufbau und zur Reorganisierung der gewerkschaftlichen Strukturen.

Die Entwicklung des Logistiksektors hat neue Widersprüche erzeugt und ist zunehmend in unterschiedliche politische und soziale Konflikte verwoben, was immer wieder zu sowohl betrieblichen als auch sozialen Kämpfen führen wird. Dabei ist eine Reorganisierung von gewerkschaftlichen, also auch aktivistischen, Strukturen zu beobachten, die die zentrale Rolle der logistischen Knotenpunkte in der globalen Wertschöpfungskette nutzen, um soziale und betriebliche Verbesserungen durchzusetzen.

Literatur:

  • Apicella, Sabrina (2016): »Amazon in Leipzig: Von den Gründen (nicht) zu streiken«, https://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/Studien/Studien_09- 16_Amazon_Leipzig.pdf (Accessed February 21, 2017). express Nr. 10/2018 5.
  • Bensman, David/David Jaffee (2016): »Draying and Picking: Precarious Work and Labor Action in the Logistics Sector«, WorkingUSA: The Journal of Labor and Society, 19, 57– 79.
  • Boewe, Jörn/Johannes Schulten (2017): »The long struggle of the amazon employees. Laboratory of Resistance: interim assessment and prospects for union organising at the global e-commerce leader in Germany and Europe«, https://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/engl/Long-struggle-of-Amazonemployees.pdf (Accessed September 28, 2018).
  • Bonacich, Edna (2003): »Pulling the Plug: Labor and the Global Supply Chain«, New Labor Forum, 12:2, 41–48.
  • Cowen, Deborah (2010): »A Geography of Logistics: Market Authority and the Security of Supply Chains«, Annals of the Association of American Geographers, 600–620.
  • Levinson, Marc (2006): »The box: how the shipping container made the world smaller and the world economy bigger«, Princeton, N.J: Princeton University Press.
  • Neilson, Brett (2012): »Five theses on understanding logistics as power«, Scandinavian Journal of Social Theory, 13:3, 323–340.
  • Plehwe, Dieter (2013): »Converging on strike revisited: Deregulation and the rise of low cost employment regimes in the European airline industry«, Discussion Paper SP III 2013- 502, WZB Berlin Social Science Center.
  • Scherrer, Christoph/Ulrich Brand (2005): »Contested Global Governance: Konkurrierende Formen und Inhalte globaler Regulierung«, Kurswechsel. Zeitschrift für gesellschafts-, wirtschafts- und umweltpolitische Alternativen, 1, 90–103.
  • Schmalz, Stefan (2015): »An den Grenzen des American Empire. Geopolitische Folgen des chinesischen Aufstiegs«, Prokla, 181:45, 545–562.
  • Senghaas-Knobloch, Eva (2008): »Wohin driftet die Arbeitswelt?«, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
  • Transnational Social Strike Platform (TSS) (2017): »Logistics & the Transnational Social Strike«, 1:1, 5–13. express im Netz unter: www.express-afp.info

Quelle:  express 10/2018… vom 9. November 2018

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