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„Gelbe Westen“ und der Aufbau revolutionärer Organisationen

Eingereicht on 31. Dezember 2018 – 9:59

Das folgende Interview wurde  von Leo Lüdemann mit  Nicolás, einem Studenten und militanten Anarchisten aus Paris geführt und ins Deutsche übersetzt. Seit dem 8. Dezember nimmt Nicolás an den Protesten der »Gilets Jaunes« teil und ist über Unterstützungsgruppen aktiv an der Mobilisierung der Universitäten beteiligt.

Online findet man eine Liste von 42 Forderungen der »Gilets Jaunes«. Gefordert werden unter anderem eine Erhöhung des Mindestlohns, der Rücktritt von Präsident Emanuel Macron und die Wiedereinführung der Vermögenssteuer »ISF«, welche Macron zu Beginn seiner Amtszeit außer Kraft setzte. Die »Gilets Jaunes« sind eine breite Massenbewegung. Wer spricht für die Bewegung und wie ist sie organisiert?

Die sogenannten Rädelsführer sind schwierig zu definieren: viele von ihnen wurden von den »Gilets Jaunes« denunziert, da sie keine Mandate hatten um für die Bewegung zu sprechen, andere weil sie extrem rechts sind. Es gibt keine politische Koordinierung auf nationaler Ebene. Die Demonstrationen werden über die sozialen Medien, vor allem Facebook, angekündigt. Dort finden sich je nachdem wo man sucht verschiedenste soziale Forderungen. Allerdings gibt es durch die Heterogenität der Bewegung auch Forderungen die kritisch zu betrachten sind – einige sind pro Migration zum Beispiel, andere aber auch rassistisch.

Dies hindert einige »Gilets Jaunes« nicht daran in den Medien als Vertretende zu sprechen. Es gibt eine Vielzahl von Aktiven, jedoch repräsentieren sie oftmals keine Gruppe, da wenige von ihnen demokratisch gewählt wurden um für andere zu sprechen.

Während Macron sich als unbeliebtester Präsident in der Geschichte der 5. Französischen Republik erweist unterstützen 84% der französischen Bevölkerung die »Gilets Jaunes«. Wer demonstriert auf den Straßen und wie reagiert die Regierung auf den massiven Druck der Bevölkerung?

Die Bewegung ist sehr groß und divers. Ich habe ehrlich gesagt nicht oft genug an den Blockaden teilgenommen um mir ein realistisches Bild von der Situation zu machen. Zudem ist es natürlich nicht einfach auf den Demonstrationen zu diskutieren, da wir konstantem Tränengasbeschuss und anderen Angriffen der Polizei ausgesetzt sind. Die Personen mit denen ich dennoch ins Gespräch gekommen bin sind hauptsächlich Leute aus den unteren Klassen, welche sehr selten oder noch nie demonstriert haben.

Macron versucht weiter die Bevölkerung zu beschwichtigen. In seiner Ansprache vom Samstag versuchte er erneut friedliche und gewaltbereite Demonstranten zu spalten. Zudem erweckte er den Anschein, als kümmere er sich um die Arbeiterklasse – das hat allerdings nicht funktioniert. Macrons TV-Spot ist ein echter Betrug: Er versprach beispielsweise den Mindestlohn um 100 Euro zu erhöhen. In der Tat war eine Erhöhung von 70 Euro bereits seit langem geplant und die restlichen 30 Euro werden nicht von den Bossen bezahlt, sondern durch unsere eigenen Sozialabgaben. Die Leute lassen sich nicht von seinen Reden täuschen und lediglich eine kleine Minderheit von Menschen kauft ihm seinen Diskurs ab. Zudem scheint es Verwirrungen in der Regierung zu geben: An einem Tag meldet sich der Premierminister zu Wort und am nächsten Morgen sagt Macron das Gegenteil.

Währenddessen spürt die Bevölkerung die Polizeigewalt. Am vorletzten Wochenende wurden massive Personendurchsuchungen durchgeführt und mögliche Demonstrationen von Anfang an mit Gewalt verhindert. Auch deswegen waren in Bordeaux und Toulouse letztendlich mehr Menschen auf der Straße als in Paris. Wir werden sehen, welche Perspektiven die Bewegung entwickeln wird, wenn es trotz der Feiertage weitergeht und die Proteste im neuen Jahr wiederaufgenommen werden.

Ungefähr 10% der französischen Arbeiterklasse ist migrantisch und teilweise auch an den Protesten beteiligt. Als wichtiges Beispiel für die migrantische Mobilisierung innerhalb der Bewegung wird immer wieder das »Comité Adama Traoré« genant. Ein antirassistisches Kollektiv welches für die Gerechtigkeit für Adama Traoré kämpft, der am 19.07.2016 von der Polizei ermordet wurde. Gleichzeitig versuchen Marine Le Pen und ihre »Front National« die Bewegung für sich zu nutzen. Wie empfindest du den Rassismus in der Bewegung ?

Die sozialen Netzwerke haben definitiv eine sehr wichtige Rolle gespielt. Durch sie wurde die Vernetzung für die verschiedensten Blockaden möglich gemacht. Sie haben somit die Macht, die Demonstranten untereinander zu vernetzen. Allerdings können so jegliche Gruppen zu Demonstrationen aufrufen, darunter auch Rechte. Die extreme Rechte hat die »Gilets Jaunes« von Anfang an unterstützt. Rassisten schreiben sich Slogans und politische Botschaften auf die Westen und machen so mit nationalistischen und reaktionären Parolen ihre Propaganda. Viele von ihnen wurden in Paris von mehreren Demonstrationen ausgeschlossen.

Man muss sich im Klaren sein, dass einige »Gilets Jaunes« auch rassistisch handeln, ohne dass rechtsextreme Gruppen vor Ort sind. Das trifft zum Beispiel auf eine Gruppe zu, welche [am 20. November nahe der Autobahn A16, d.Red.] die Polizei alarmierte, nachdem sie eine Gruppe Migranten fanden, die sich in einem Tankwagen versteckt hatten. Allerdings ist notwendig hinzuzufügen, dass ein Großteil der mobilisierten Menschen aus der Arbeiterklasse kommen und das erste Mal in einem so großen Rahmen demonstrieren. Viele kommen aus Regionen, wo politische und gewerkschaftliche Strukturen von links wie von rechts nicht mehr existieren. Viele Menschen erfahren somit politische Sozialisation allein durch die Medien. Es ist also nur logisch, dass ihre Analyse sowohl rassistische als auch antikapitalistische Positionen enthält. Hier zeigt sich die Notwendigkeit für die Linke, mit Ideen und Analysen zu intervenieren um die Bewegung nicht den Rechtsextremen zu überlassen.

Du erzählst, dass politische und gewerkschaftliche Strukturen in vielen Regionen nicht mehr existieren. Wie positionieren sich die Gewerkschaften und Parteien zu den Protesten? Können sie der Bewegung eine Perspektive geben?

Die Reaktion der Gewerkschaftsführung lässt sich vielleicht durch die Unsicherheit über eine Bewegung erklären, welche neu ist und sich ihrem traditionellen Einfluss entzieht. Ein einheitlicher Aufruf, der die wichtigsten Gewerkschaften zusammen brachte, enttäuschte viele. Es wird keine Unterstützung der Bewegung gefordert und absolut keine Perspektive aufgezeigt. Auch wird die massive Polizeigewalt nicht verurteilt. Schlimmer noch, die Gewalt der Polizei wird mit der Gewalt der Demonstranten auf eine Stufe gesetzt. Die CGT [Confédération générale du travail, Allgemeiner Gewerkschaftsbund, d.Red.] verfasste im Nachhinein einen radikaleren Aufruf, der jedoch auch nicht ausreichend ist.

Unterstützung für die »Gilets Jaunes« hat auf nationaler Ebene bis jetzt nur die Gewerkschaft »Syndicale Solidaires« gefordert in welcher »SUDRail« die Föderation der Bahnarbeiter*innen organisiert ist. Sie verteidigt eine kämpferische und sozial-transformative Gewerkschaftsarbeit und ist mit Aktivist*innen an den Protesten beteiligt. Im Übrigen wurde am Freitag, dem 14. Dezember, ein eintägiger Streik ausgerufen, an dem sich Lehrer*innen und Erzieher*innen, Studierende und Bahnarbeiter*innen beteiligten. Dies war ein einzelner Streiktag und ich hoffe, dass Aktivist*innen und lokale Strukturen es schaffen, einen Generalstreik voranzubringen. Außerdem verhinderte die Positionierung der großen Gewerkschaften nicht, dass einige lokale Sektionen sich für die Bewegung aussprechen. Darunter auch die Pariser Sektion der CGT, welche klar und deutlich dazu aufgerufen hat, sich an der Bewegung zu beteiligen. Zudem haben mehrere lokale Gewerkschaftssektionen und antifaschistische Kollektive versucht, gemeinsam zu demonstrieren. Allerdings wurde dieser Versuch durch polizeiliche Maßnahmen verhindert, sodass wir uns in mehrere Gruppen spalten mussten, um der Repression so gut wie möglich zu entgehen.

Wie interveniert die radikale Linke und wo sind Schüler*innen und Studierende aktiv?

Die radikale Linke war sich zunächst nicht einig darüber, wie sie unterstützten kann. Sozialdemokratische Organisationen, wie «France Insoumise», und auch anarchistische, wie «Alternative Libertaire», haben die Bewegung von Anfang an unterstützt und griffen aktiv in Blockaden und Demonstrationen ein. Andere, wie die «Nouveau Partie Anticapitaliste», unterstützen die Bewegung erst seit 2 Wochen. Das Schlimmste kommt von der «Partie Communiste Francaise»: Sie kündigten ihre Mobilisierung für Januar an, falls die Regierung die Forderungen der Bewegung nicht erfüllt. Allerdings hindert dies auch hier nicht daran, dass Teile dieser Organisationen sich schon früher aktiv beteiligen.

Schüler*innen und Studierende mobilisieren von ihrer Seite sowohl unterstützend und innerhalb der Bewegung, als auch gegen die soziale Selektion am Anfang und während des Studiums. Ihre Proteste richten sich ebenso gegen die Erhöhung der Studiengebühren für Studierende aus Ländern außerhalb der EU. Die Bewegung der Jugend ist schnell und intensiv, genau wie die staatliche Repression und Unterdrückung, mit der sie konfrontiert sind. In Mantes-la-Jolie, einer Stadt in den Vororten von Paris wurde an mehr als 150 Gymnasiast*innen ein Exempel statuiert. Sie wurden in militärischer Manier aufgereiht und mussten mit den Händen hinter dem Kopf auf dem Boden knien. Sie sind zum Symbol der Bewegung und des Kampfes gegen die Polizeigewalt geworden. Mehrere Universitäten hatten Generalversammlungen mit tausenden Teilnehmenden. Viele Unis sind blockiert, um es den Studierenden zu ermöglichen, sich aktiv einzubringen ohne sich gleichzeitig mit Kursen und Prüfungen befassen zu müssen.

Die Regierung Macrons steht weiterhin massiv unter Druck und der Staat benutzt alle Mittel um die Proteste zu unterdrücken. Wir sehen in diesen Tagen, dass größte Polizeiaufgebot in Frankreich seit Mai 68. Vielerorts wird von Bürgerkrieg und Revolution gesprochen. Glaubst du Macron wird genug Druck bekommen um abzudanken?

Die Strukturen sind nicht ausreichend für die Organisation von Gegenmacht und Selbstverteidigungsstrukturen gegen den Staat. Dennoch kann dies ein Element der Mobilisierung für die kommenden Jahre sein, welches uns ermöglicht, unsere revolutionären Organisationen und unsere Gewerkschaftsorganisationen auf der Grundlage von Kämpfen und sozialem Wandel zu formen. Auch wenn es keine Revolution ist, wollen wir sicherstellen, dass die Bourgeoisie so weit wie möglich in die Schranken gewiesen wird, und dass wir so viele Rechte wie möglich erhalten. Die Selbstorganisation der Bewegung würde es uns ermöglichen so weit wie möglich zu gehen – begleitet von einem Generalstreik angeregt von revolutionären Gewerkschaften.

Aktuell steht Macron nicht genug unter Druck, um zurückzutreten. Wir wissen, dass ein Abdanken des Präsidenten nichts an der strukturell antisozialen Politik des französischen Staates verändern wird. Dennoch lässt es natürlich ordentlich Dampf ab, einen so abscheulichen Mann bloß zu stellen. Um längerfristig zu mobilisieren, blühen Initiativen auf, welche die kämpfenden Kollektive in den Vierteln und den Unternehmen zusammenbringen. Die Frage ist, ob wir es schaffen die «Gilets Jaunes» mit einzubeziehen, von denen die meisten keine traditionellen Aktivist*innen sind.

In Berlin haben vergangenen Donnerstag, den 20. Dezember, 120 Menschen zu einer linken Solidaritätskundgebung vor der Französischen Botschaft zusammengefunden und die Verbindungen zwischen Kämpfen in Frankreich und Kämpfen in Deutschland hergestellt. Wie werdet ihr eure politische Arbeit in den nächsten Wochen fortsetzen? Wie kann Solidarität in Deutschland und dem Rest der Welt organisiert werden?

Im Laufe der nächsten Tage wird es notwendig sein, weiter zu mobilisieren um ökologische Forderungen wieder aufzugreifen und die Freilassung der verhafteten Demonstrant*innen zu fordern. Ich werde dafür sorgen, dass die Studierenden an meiner Universität für die Demonstrationen der «Gilets Jaunes» mobilisiert werden. Das Problem ist, dass die Polizeigewalt massiv zunimmt. Verglichen mit den Protesten gegen die von Macron eingeführten neoliberalen Arbeitsgesetze 2016 ist das Auftreten massiver und gewaltvoller. Am 1. Dezember 2018 wurden allein in Paris so viele Tränengasgranaten verfeuert wie sonst in ganz Frankreich in einem Jahr. Es ist daher notwendig, dass erfahrene Aktivist*innen neben diesen neuen Demonstrierenden anwesend sind, damit diese Selbstverteidigungsreflexe erlangen, die ihnen nicht unbedingt bewusst sind: Bedecke dein Gesicht bei Zusammenstößen mit der Polizei, filme keine Demonstrationen um keine Beweise an die Polizei zu liefern und so weiter.

International sind Solidaritätsdemonstrationen wichtig – natürlich auf die Fragen und Probleme der jeweiligen Länder bezogen. In Europa gibt uns das von der Europäischen Union organisierte liberale System die Möglichkeit trotz unserer Grenzen gemeinsame Forderungen zu stellen um mehr Demokratie und soziale Rechte zu erlangen. Gelbe Westen werden heute in mehreren Ländern getragen – unter anderem in Belgien, Ägypten, der Schweiz und dem Irak. Die Forderungen sind nicht die gleichen wie in Frankreich. Doch die Tatsache, dass dieses Symbol aufgegriffen wird, bestätigt, dass hier etwas passiert.

Das Symbol der Gelben Westen wird auch in Deutschland aufgegriffen. Überlasst es nicht den Faschisten!

Quelle: lowerclassmag.com… vom 31. Dezember 2018

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