Rätestrukturen in Syrien
Das kriegszerstörte Syrien sah inmitten von Schutt und Asche, von Massenmord und des Zerfalls der staatlichen Strukturen die Entstehung von Rätestrukturen und von demokratischen Zusammenhängen.
Darüber wurde kaum berichtet, schon gar nicht verhandelt zwischen den interessierten und kriegstreibenden involvierten Mächten und dem Assad-Regime: sie sind allen ein Dorn im Auge. Sie entstehen in verschiedenen Gebieten, die von Rebellengruppen gehalten werden.
Dort wo Rebellengruppen Gebiete übernommen haben, die vorher vom Regime Bashar al-Assads gehalten wurden, haben die Bewohner begonnen, lokale Rätestrukturen aufzubauen, um die Grundversorgung sicherzustellen. Sie nutzten die Freiheit, die ihnen zuvor durch Assad verwehrt wurde. Zum ersten Mal seit der Machtergreifung der Ba’ath-Partei 1963 fanden Wahlen in die lokalen und in die Provinzräte statt.
Robin Yassin-Kassab and Leila Al-Shami, die Verfasser von “Burning Country: Syrians in Revolution and War” trafen sich mit Syrern und Syrerinnen, die nach dem Libanon geflohen sind, um mehr über die Rätestrukuren zu erfahren. Sie sprachen im Sommer 2016 mit Daniel Moritz-Rabson von NewsHour Weekend über die Rolle dieser Räte und über deren Herausforderungen.
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Welche Funktionen erfüllen die lokalen Rätestrukturen in Syrien für die Leute, die immer noch dort leben?
Al-Shami: Die lokalen Rätestrukturen befinden sich in den befreiten Gebieten, aus denen sich das Regime zurückgezogen hat oder aus denen es vertrieben worden ist. Jetzt funktionieren dort Verwaltungseinheiten, die für die sozialen Einrichtungen und die Wasser- und Elektrizitätsversorgung verantwortlich sind. Die humanitären Hilfsgüter stammen oft von auswärtigen Gebern oder diese wurden in der Gemeinde gesammelt. Diese Güter dienen für den Bau von notdürftigen Spitälern, notdürftigen Schulen usw. In einigen Gegenden sind sie auch verantwortlich für den Anbau und die Verteilung von Nahrungsmitteln, gerade in belagerten Gebieten, wie beispielsweise in Darayya. In Darayya haben sie auch eine wunderbare Bibliothek aufgebaut; dort gibt es ebenfalls eine Rechtsberatung. Gelegentlich betreiben sie auch einen Wachdienst oder eine Gemeindepolizei. All dies hängt von ihren Möglichkeiten und ihrer Grösse ab. «Die demokratisch gewählten Gemeindebehörden sind ein Hoffnungsschimmer, der inmitten des Chaos überlebt hat», wie Robin Yassin-Kassab gesagt hat.
Yassin-Kassab: Natürlich funktionieren sie nur im Überlebensmodus, und dies ist die düstere Seite. Sie schlagen sich mit dem Alltag herum und versuchen, das Leben unter den Bedingungen der Bombardements und der Belagerung aufrechtzuerhalten.
Operieren sie unter weniger prekären Bedingungen in den Gebieten, die von gemässigteren Rebellen gehalten werden?
Al-Shami: Ihre Anstrengung zur Aufrechterhaltung der Überlebensversorgung entspricht in etwa dem Grad, wie die entsprechende Gemeinde ein Angriffsziel für das Regime und seinen Verbündeten Russland ist. Einige der Gemeinden, die den Angriffen durch das Regime am heftigsten ausgesetzt sind, verfügten bereits über sehr erfolgreiche Erfahrungen beim Aufbau solcher Basisstrukturen, wie beispielsweise Darayya. Es scheint, dass gerade solche demokratische Strukturen an vielen Orten im Visier des Regimes standen.
Wer hat die Räte finanziert?
Al-Shami: Verschiedene Regierungen haben über die Provinzräte Geld verteilt und viele internationale und syrische Hilfsorganisationen schicken über die lokalen Räte Hilfsgüter.
Yassin-Kassab: An vielen Orten kommen in Wirklichkeit kaum Güter an, und die Leute versuchen, auf den Dächern und sonstwo Nahrungsmittel anzupflanzen. Das wirkliche Problem der Tragfähigkeit solcher Ansätze besteht darin, dass ohne einen wirklichen Zugang zu Aleppo, Wasserreiniger, Tonnen von Nahrungsmitteln und die Möglichkeit, Spitäler zu bauen fehlen. Und diese Dinge werden sogleich vom Regime und Russland wieder zerstört. Diese Ansätze sind letztendlich natürlich nicht nachhaltig, wenn die Welt weiterhin nur zuschaut.
Wie ist die geografische Ausbreitung der Rätestrukturen?
Yassin-Kassab: Sie existieren in den befreiten [von Rebellen gehaltenen] Gebieten. Im Süden gibt es viele von ihnen, in Daraa, wo sich das Regime aus der südlichen Provinz zurückgezogen hat, bis hinunter zur jordanischen Grenze; in den Aussenbezirken von Damaskus, die dem Regime abgerungen wurden und meistens belagert sind, an Orten wie Darayya, Douma und Harasta. Dann in Idlib, in Teilen der Hama-Provinz und in einem kleinen Stück der Homs-Provinz. In einem Teil im Norden der Latakia-Provinz, im grössten Teil der Aleppo-Provinz und der Stadt Aleppo.
Al-Shami: In Gebieten, die der Kontrolle durch das Regime unterstehen, gibt es Räte, die immer noch im Geheimen arbeiten.
Wer kann in den Räten mitarbeiten? Durchbrechen sie die sektiererischen und ideologischen Kluften und sind Frauen beteiligt?
Al-Shami: Soweit ich sehe, nehmen die Rätestrukturen als solche keine Frauen auf. Es gibt sehr wenige Frauen mit Einsitz in lokalen Räten. Diese versuchen, Leute aufgrund ihrer technischen und beruflichen Sachkenntnis aufzunehmen. Ferner versuchen sie, Leute aus prominenten Familien und Stämmen einzubeziehen. In gemischten Gemeinden haben sie immer versucht, Minoritäten, etwa aus verschiedenen Religionen und Sekten, zu berücksichtigen.
Es gab viele Kampagnen von Aktivistinnen und Aktivisten zugunsten einer stärkeren Beteiligung von Frauen.
Yassin-Kassab: Es gibt Mitglieder, die sind Liberale oder Demokraten oder dann eher gemässigte Islamisten; ferner Nationalisten und ex- Ba’athisten und so weiter. Auf eine gewisse Art jedoch war dies nicht so wichtig. Im Allgemeinen handelt es sich um nicht-ideologische Strukturen, vor allem auf lokaler Ebene, die sowas wie einen Weg nach vorne weist. Es spielt keine Rolle, ob einer ein Linker ist und der neben ihm ein Islamist. Sie arbeiten mit, weil einer von ihnen weiss, wie man die Wasserversorgung wieder instand setzt, ein anderer kennt sich im Schulsystem aus. Sie arbeiten auf ganz praktische Weise zugunsten der Gemeinschaft.
Wie gestaltet sich das wechselseitige Verhältnis der lokalen Räte mit den Rebellengruppen?
Al-Shami: Ich denke, da gibt es ganz verschiedene Erfahrungen bezüglich der Zusammenarbeit dieser Zivilpersonen und der Verwaltungsstrukturen und der bewaffneten Gruppen. Einige dieser Unterschiede hängen davon ab, ob die bewaffneten Gruppen selbst Teil der Gemeinde sind. Denn in vielen Gebieten sind die bewaffneten Gruppen, die dort operieren, die Söhne und Brüder und Väter aus der Nachbarschaft. Die Männer haben zu den Waffen gegriffen, um ihre Gemeinde zu verteidigen. Sie sind mithin Teil der gleichen Familien oder der gleichen Netzwerke wie die lokalen Räte. In solchen Gebieten ist die Zusammenarbeit sehr ausgebaut. Einige Räte, und Darayya ist ein Beispiel dafür, wurden besondere Strrukturen aufgebaut, um die Zusammenarbeit zu verbessern. So nimmt beispielsweise die Militärbrigade aus diesem Gebiet an einigen Versammlungen des lokalen Rates teil; damit wird die Zusammenarbeit sichergestellt und die Miliz untersteht als Sicherheitsorgan im Wesentlichen der Kontrolle des Volkswillens und des lokalen Rates. Dies entspricht offensichtlich einem idealen Modell. Das gilt aber nicht überall.
Wie wichtig sind diese Räte für die Zukunft Syriens?
Yassin-Kassab: Man erinnert sich nur mehr schwer daran, dass 2011, 2012 – in diesem kurzen Zeitfenster – es danach aussah, als ob die Möglichkeit für eine vollständig andere Zukunft für Syrien und den ganzen Mittleren Osten bestünde. Es kam in überwältigender Geschwindigkeit zu Veränderungen und die Menschen waren wirklich an demokratischen Vorstellungen interessiert. Diese wurden nicht als etwas vom Westen Aufgedrängtes oder Importiertes angesehen. Sie wurden als unmittelbare Notwendigkeiten aufgefasst. Und man diskutierte darüber, was das bedeutete, dass die Menschen ihr eigenes Leben in die Hand nehmen könnten, wie sie ohne Diktatur leben könnten.
Die demokratisch gewählten lokalen Räte sind ein Abglanz dieser Hoffnung, die inmitten all dieses Chaos überlebt.
Quelle: europe-solidaire.org… vom 2. Januar 2017. Übersetzung aus dem Englischen durch Redaktion maulwuerfe.ch
Tags: Imperialismus, Syrien, Widerstand
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