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Chile: Kämpfen. Selbstorganisiert. Ohne auf das Parlament zu hoffen…

Eingereicht on 20. November 2019 – 16:47

„… Ich lebe in der Población Nuevo Amanecer, auch bekannt als Ex-Nueva Habana. Viele Jahre lang folgten die Menschen hier derselben neoliberalen und kapitalistischen Logik der Nabelschau und der Sorge um das eigene Wohlbefinden. Die Familien hörten auf, gemeinsam Eis auf dem Platz zu essen, der Nachbar wurde zum Unbekannten und damit sogar zum potentiellen Feind.

Der Nachbarschaftsrat, ein Raum für nachbarschaftliche Organisation in jedem Viertel, diente nur noch der Ausstellung von Dokumenten und anderen bürokratischen Verfahren. Heute haben sich die Dinge geändert. Das Militär lässt die Población (marginalisierte Viertel) in Ruhe, weil es damit beschäftigt ist, anderswo Menschen zu foltern und verschwinden zu lassen. Auch die Polizei bleibt auf Abstand – wegen „Personalmangel“. Währenddessen erwacht die nachbarschaftliche Organisation wieder zum Leben, durch einfache Dinge wie Whatsapp-Gruppen, gemeinsame cacerolazos (Kochtopfproteste) auf dem Platz, Volksküchen, oder die Sicherstellung der Wasserversorgung für alle. Ich lebe seit 23 Jahren in dieser Población und empfinde eine tiefe Liebe für sie; für ihre Räume, ihre Menschen und ihren Kampf. Aber nie zuvor waren es meine Räume, meine Menschen und mein Kampf. Diese Veränderung findet in vielen Häusern und Vierteln des Landes statt – und genau davor muss sich die Regierung fürchten, lässt sie nicht aufhören, vor Angst zu zittern. Die Nachbarschaftsorganisation ist aufgewacht, hat die Benommenheit der Routine hinter sich gelassen. Heute ist die Logik nicht mehr „Ich kämpfe für mich und meine Familie“, heute heißt es „Ich kämpfe, um mein Land zu verbessern“. Als Regierung könnte ich mir kein schrecklicheres Szenario vorstellen…“ – so die Aussage eines 22-jährigen Studenten aus Santiago, die im Rahmen der Sammlung „STIMMEN DES PROTESTS“ in den Lateinamerika Nachrichten Nummer 546 (Ausgabe Dezember 2019) dokumentiert ist. Siehe dazu drei weitere Beiträge zur Entwicklung von Selbstorganisation, einen Beitrag zu gewerkschaftlicher Reaktion auf die Manöver der Regierung und einen Kommentar zum Terror der Militärpolizei – sowie den Hinweis auf unseren bisher letzten Beitrag zum Thema:

„ES IST NOCH NICHT VORBEI“ von Caroline Kassin, Susanne Brust und Martin Schäfer ebenfalls in der Ausgabe 546 der Lateinamerika Nachrichten (Dezember 2019) zur Entwicklung im oppositionellen Lager: „… Und das vor wenigen Jahren als Hoffnungsträger gestartete und mit einer großen Parlamentsfraktion ausgestattete linke Parteienbündnis Frente Amplio hat durch interne Meinungsverschiedenheiten in der öffentlichen Wahrnehmung mittlerweile an Veränderungskraft eingebüßt. Dennoch sind es vor allem Abgeordnete des Frente Amplio und der Kommunistischen Partei, zum Teil ehemalige Anführer­*innen der Studierendenbewegung, wie Camila Vallejos und Gabriel Boric, die sich schnell mit den Protesten solidarisierten. Zumindest von der Regierung werden sie offenbar als parlamentarischer Arm der Bewegung betrachtet, den es zu bekämpfen gilt._ Eine Gruppe von Abgeordneten der rechten Regierungs­parteien hat deshalb nun gegen zwölf von ihnen Verfassungsbeschwerde eingereicht und versucht so, sie ihres Mandats zu entheben – mit der Begründung, die Abgeordneten hätten zur Unruhe und kriminellen Aktionen angestiftet. Überall im Land nehmen die Menschen das Heft nun selber in die Hand und diskutieren in selbstorganisierten Räten die aktuellen Missstände und mögliche Wege hin zu einer neuen Verfassung. Favorisiert wird dabei der Weg über eine verfassungsgebende Versammlung. Rechtlich ist die Sache jedoch nicht so einfach. Verfassungsrechtler*innen sehen den nächsten Schritt in einem Plebiszit, der darüber entscheidet, ob eine solche verfassungsgebende Versammlung einberufen wird. Allerdings bräuchte es vorher eine Verfassungsänderung, um den Entscheid verbindlich zu machen. Abgeordnete der Opposition kündigten an, diesen Prozess in Gang setzen zu wollen. Wenn ein solches Plebiszit stattfindet und die Bevölkerung mehrheitlich für eine verfassungsgebende Versammlung votiert, muss jedoch weiterhin geklärt werden, wie diese ausgestaltet wird, um eine möglichst breite Beteiligung der Bevölkerung zu ermöglichen. Nichts macht den Anschein, als würde sich die protestierende Bevölkerung mit weniger zufrieden geben Bis jetzt zieht Piñera weder einen Rücktritt noch eine verfassunggebende Versammlung in Betracht. Unter dem Druck der Proteste akzeptiert die Regierung zwar nun das Ziel einer neuen Verfassung, ausarbeiten sollen sie aber Parlamentarier*innen nach einer Erfassung von Beschlüssen der Bürger*innenversammlungen. Die Bevölkerung soll nur am Ende in einem Plebiszit über die Annahme entscheiden dürfen…“

„In Chile wird gefoltert“ An den Händen von Präsident Piñera klebt Blut (Foto: Diego Reyes Vielma)

„“Estamos por una nueva sociedad proveniente desde abajo”“ von Andrés Figueroa Cornejo am 19. November 2019 bei Rebelion.org ist ein Beitrag, in dem – beispielsweise – Aktive der Asambleas Populares Autoconvocadas del gran Santiago zu Wort kommen, die, wie andere darin auch, unterstreichen, dass die Entwicklung der Selbstorganisation in Chile aktuell breite Teile der Bevölkerung mobilisiert, die die Entscheidungen selbst in die Hand nehmen wollen – und dies auch nicht, wiederum beispielsweise, Kräften wie der Frente Amplio überlassen, die einiges an Vertrauen eingebüßt haben. Am Wochenende 23. November wird es unter anderem einen Versuch geben, eine überregionale Koordination der Asambleas Populares zu erreichen…

„Communiqué of the Provincial Assembly of #Concepción“ am 18. November 2019 bei Enough is enough ist die (übersetzte) Dokumentation des Aufrufs der Asamblea von Concepción, die ihre Ablehnung der Vereinbarung zwischen Regierung und Opposition über den Weg zu einer neuen Verfassung (nach deren Geschmack) zum Ausgangspunkt dafür nehmen, die eigenen Vorstellungen öffentlich zu machen, die um Selbstorganisation, Anerkennung von Unterschieden und territorialer Selbstverwaltung (unter anderem eine Forderung indigener Gruppierungen) sich drehen.

„Mesa del Sector Público acusa nula respuesta del Gobierno y llaman a paro de 48 horas“ am 18. November 2019 bei Resumen Latinoamericano ist ein Bericht über eine Pressekonferenz der Gewerkschaften im öffentlichen Dienst, worin die 16 Einzelgewerkschaften verschiedener Verbände ihren Streikaufruf für die beiden folgenden Tage mit der Nichtreaktion der Regierung auf die Forderungen der Gewerkschaftsbewegung begründen.

„Warum die Carabineros de Chile aufgelöst werden müssen“ von Ignacio Torres am 18. November 2019 beim NPLA zu dieser mehr als gerechtfertigten Schlussfolgerung aus den Entwicklungen der letzten Wochen: „… Der Aufmarsch einer Militärpolizei im ganzen Land ist für ein mittelmäßig zivilisiertes Land wie Chile sehr ungewöhnlich. In einem solchen Land hat die Polizei keine Militärfunktion, sondern eine eigene Bildung, Struktur und Organisationskultur, die sich von der des Militärs unterscheidet. In einem großen Teil der Welt wird die Polizei als zivile Organisation verstanden, die der regionalen Verwaltung untersteht und nicht in erster Linie nationalen Mandaten. Seien wir nicht naiv: Natürlich gibt es auf der Welt kriminelle Organisationen und eines der Gegenmittel ist der Einsatz von Gewalt durch die Polizei. Aber über Waffen zu verfügen bedeutet nicht, einer militärischen Struktur und Kultur auf institutioneller Ebene zu folgen. Vor einem Jahr hat der Mord am Mapuche Camilo Catrillanca die öffentliche Debatte um die Carabineros um ein Neues entfacht. Seit einem Monat gehen nun die Menschen gegen die soziale Ungleichheit und die neoliberale Kontinuität in Chile auf die Straßen: Hunderte Protestierende wurden durch Gummi-, Schrot- oder scharfe Geschosse von den Carabineros verletzt, einige getötet. Gerade jetzt wäre es gut, denjenigen Stimmen zuzuhören, die wieder und wieder vor dem militärischen Charakter dieser Polizei warnen. Zu diesem Charakter gehören eine Abneigung gegenüber den Bürger*innen; echte Zweifel der Carabineros gegenüber ihrer Unterwerfung unter die gesellschaftliche Verantwortung; eine vertikale interne Kultur, die ein Infragestellen sowohl des Mangels an Integrität als auch den exzessiven Einsatz von Gewalt verhindert und eine repressive Logik in jeglichen Angelegenheiten…“

Zum Massenproteste in Chile zuletzt: „Das hat nicht funktioniert: Der Pakt der chilenischen Reaktion für eine neue Verfassung nach ihrem Geschmack – bringt noch mehr Menschen dagegen auf die Straßen“ am 18. November 2019 im LabourNet Germany

Quelle: labournet.de… vom 20. November 2019

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