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Zur Bewertung der laufenden Protestbewegung der «Gelben Westen»

Eingereicht on 5. Dezember 2018 – 10:03

Bernard Schmid. Ein viertes Todesopfer im Zusammenhang mit der aktuellen, heterogenen Protestbewegung der „Gelbe Warnjacken“ (oder gilets jaunes) in Frankreich ist an diesem Montagmittag zu beklagen. Bei den bisherigen drei Todesfällen handelte es sich um die Opfer von Auffahrunfällen im Zusammenhang mit Blockadepunkten im Autoverkehr; zuletzt verstarb in der Nacht vom Samstag zum Sonntag (vom 1. auf den 2. Dezember d.J.) ein Kfz-Fahrer in der Nähe des südfranzösischen Arles. (Vgl. leparisien.fr…) Erstmals kam nun jedoch eine Person indirekt durch polizeiliches Handeln zu Tode. Eine 80jährige Dame algerischer Herkunft war am Samstag, den 1. Dezember am Fenster ihrer Wohnung im Zentrum von Marseille durch eine abgefeuerte Tränengasgranate getroffen und verletzt worden. Ihr Ableben wurde am Montag mittag bekannt. (Vgl. leparisien.fr…) Im Unterschied zu den bisherigen Todesfällen kann man dieses Mal, im weiteren Sinne, von einem Repressionsopfer sprechen.

Am vergangenen Wochenende des 1./2. Dezember 18 kam es nicht allein in der Hauptstadt Paris zu einem konfrontativ gestalteten Aufeinandertreffen von Teilen der heterogenen Protestbewegung und der Staatsmacht. Beispielsweise kam es im ostfranzösischen Strasbourg zu kurzen Zwischenfällen mit polizeilichem Tränengaseinsatz am Rande einer Protestdemonstration, nachdem manche Teilnehmer/innen versucht hatten, ihre Route zu verlassen (vgl. lefigaro.fr…). In Saint-Etienne wurde ein Bus mit einer Fußballmannschaft an Bord durch Protestierende aufgehalten (vgl. lefigaro.fr…). In Charleville-Mézières in den Ardennen, unweit der belgischen Grenze, kam es zu größeren Sachbeschädigungen; vier Polizisten und zwei Protestierer wurden verletzt (vgl. lefigaro.fr…)

Im zentralfranzösischen Puy-en-Velay wurde gar die Präfektur – die juristische Vertretung des Zentralstaats im Département, welcher u.a. die Leitung der nationalen Instanzen unterstellten Polizei- sowie der Ausländerbehörden zukommt – angezündet. (Vgl. bfmtv.com… und bfmtv.com… oder europe1.fr… sowie lefigaro.fr…)

Doch jenseits der teilweise mehr oder minder spektakulären Formen, welche die – je nach Zeitpunkt, Ort sowie Sichtweise – Auseinandersetzungen oder Ausschreitungen oder Riots oder wie-man-es-auch-nennen-will annahmen, muss jedoch auch ein Blick auf die Interessen und Inhalte geworfen werden, die in dieser durchaus uneinheitlichen Bewegung zum Ausdruck kommen.

Forderungskatalog und Sprecher/innen/ausschuss

Es könnte eine Stärke und eine Schwäche zugleich ausmachen: Am Montag der vergangenen Woche (26. November 18) gab sich die Protestbewegung der gilets jaunes oder „gelben Warnjacken“, die bis dahin heterogen und diffus auftrat, erstmals acht offizielle Sprecherinnen und Sprecherinnen und einen offiziellen Forderungskatalog. (Zu Letzterem vgl. zur Gesamtdarstellung: francetvinfo.fr… und francetvinfo.fr… oder im Wortlaut auch: lejdd.fr….  Siehe daneben an Mediendarstellungen auch: cnews.fr… oder lci.fr… sowie lesechos.fr…)

Die Vorlage eines solchen Katalogs aus 42 Forderungen kündigte ein Pressekommuniqué an, nachdem sich einige der Gründungsfiguren der Protestbewegung versammelt sowie ihre Sympathisant/inn/en über Facebook konsultiert hatten. Aus Regionen wie dem Raum Toulouse oder der Bretagne, oder auch aus Ostfrankreich (vgl. actu.fr…), kam jedoch alsbald Kritik an den „selbstermächtigten Anführern“. (Vgl. lexpress.fr…)

Diese Herausbildung von Forderungskatalog und Sprechergremium kann eine Stärke darstellen, insofern als sich eine soziale oder ökonomisch motivierte Protestbewegung dadurch auskristallisiert und ihre Konturen festigt, vielleicht auch an „Glaubwürdigkeit“ gewinnt. Und es kann auch eine Schwäche bilden, entweder weil dadurch etwaige inhaltliche Mängel oder Widersprüchlichkeiten schärfer zum Vorschrein treten oder aber weil eine Konkretisierung der Forderungen es weniger leicht macht, alle möglichen Wunschprojektionen mit ihnen zu verbinden. Je nach Situation kann der eine oder andere Aspekt überwiegen.

Der Forderungskatalog – so, wie er konkret ausfiel – beinhaltet Anliegen, die unterschiedliche Interessen widerspiegeln. Konsens stiften dürfte unter den Unzufriedenen das Anliegen, den als behäbig geltenden Senat – das parlamentarische „Oberhaus“ in Paris – abzuschaffen, um Geld einzusparen, sowie „alle Steuern und Abgaben mit dem Ziel ihrer Senkung zu überprüfen“. Gefordert wird aber auch die, pauschal formulierte, „Senkung der Abgaben für die Unternehmen“, was nicht unbedingt Interessen der Lohabhängigen entgegen kommt, während an einer Stelle allerdings auch die Wiedereinführung der durch Emmanuel Macron 2017 abgeschafften Vermögensabgabe (ISF) gefordert wird. Auch ist davon die Rede, dass „kleine Unternehmen kleine Steuern und Großunternehmen größere Steuern“ bezahlen sollten.

Umgekehrt soll es zu einer „Anhebung der Löhne und der Renten“ kommen, die Rede ist von einem gesetzlichen Mindestlohn in Höhe von 1.300 Euro netto (derzeit rund 1.150 Euro) und einer Mindestrente in Höhe von 1.200 Euro, aber auch einem Maximal-Gehalt i.H.v. 15.000 Euro monatlich. Auch ist die Rede von der Bewahrung eines Umlagesystems, statt eines Systems privater Rentenvorsorge. Die Abschaffung der so genannten régimes spéciaux, also günstiger ausfallender Rentenregelungen für Staatsbedienstete – die historisch einmal dazu dienten, auch die Pensionsregeln für andere Beschäftigtengruppen durch Bezugnahme in den Verhandlungen „nach oben zu ziehen“, doch in den letzten 25 Jahren eher Gegenstand neoliberaler Neidkampagnen wurden – ist ebenfalls Bestandteil des Forderungskatalogs.

Zu aktuellen gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen ist einerseits zu lesen, dass das Asylrecht gewährleistet werden solle; andererseits steht dort auch, dass die Abschiebung der Abgelehnten und ihre Ausreisepflicht gefordert wird. Das umstrittene Agrargift, pardon: Pflanzenschutzmittel Glyphosat soll verboten werden (die EU lässt dafür derzeit fünf Jahre Zeit).

Der Gesamtvorschlag soll einer Volksabstimmung unterzogen werden.

Als Gesamtpaket dürften diese Vorstellungen eher nicht stimmig sein, doch vordergründig könnten sie erst einmal Einigkeit im Protest stiften. Allerdings besteht ein leichtes Übergewicht zugunsten tendenziell „sozialer“ Forderungen. Grundsätzlich finden sich aber beide Aspekte in dem Katalog wieder: die Ablehnung von Steuern respektive Abgaben auf der einen Seite, aber auch auf der anderen Seite soziale Gerechtigkeitsforderungen (welch Letztere wiederum stärker mit der Vorstellung nach gerechteren, statt keinen oder generell niedrigeren, Steuern korrespondieren). Teilaspekte des Forderungskatalogs widerspiegeln also durchaus Lohnabhängigeninteressen; andere wiederum eher jene von Selbstständigen, „Mittelständlern“ oder Kleinbürgern. Dies mit einem Schwerpunkt auf den Interessen kleinerer und mittlerer Städte, für welche ferner auch die Einstellung der Schließung von Krankenhäusern, Postämtern und Bahnlinien in kleineren Kommunen gefordert wird (letztgenannte Forderung kann man sicherlich nur unterstützen).

Dies widerspiegelt, dass es auch in der Bewegung als solcher zwei unterschiedliche Motivbündel von Anliegen als Grundansätze gibt – auf der einen Seite das nicht (als solches) soziale oder progressive Anliegen, mit Steuern und Abgaben in Ruhe gelassen zu werden, auf der anderen Seite soziale Gerechtigkeitswünsche. In einem Kontext verallgemeinerter Wut, die neben Angehörigen der sozialen Unterklassen (unter ihnen auch die Lohnabhängigenschaft) auch Teile der Mittelklassen umfasst, differenziert dies sich jedoch derzeit nicht aus, sondern steht nebeneinander.

Zu den mittlerweile prominentesten Exponent/inn/en zählen zwei Personen, die in der östlichen Pariser Vorortzone im Département Seine-et-Marne wohnen. Beide zusammen alimentieren seit zwei Wochen – Tag und Nacht – einen großen Teil der Nachrichtenlisten, in die man sich per Facebook eintragen kann. Ihr Profil ist unterschiedlich. Der LKW-Fahrer und Mittdreißiger Eric Drouet (actu.fr…) fiel bis dahin, folgt man seinen Veröffentlichungen in sozialen Netzwerken, eher durch rechtslastige Sprüche auf. (Vgl. observatoiredesreseaux.info…) Er forderte im Juni 18 von Präsident Emmanuel Macron, gefälligst „die Milliardenkosten der Einwanderung“ zu senken, die „eine Schande“ seien, und unterstützte im Juli d.J. migrantenfeindliche Aufrufe in Calais. Priscillia Ludosky (leparisien.fr…) ist eine schwarze Karibikfranzösin und freiberufliche Therapeutin sowie Verkäuferin von Bio-Kosmetika, die bis dahin politisch nicht in Erscheinung trat. Allerdings setzte sie sich in der Vergangenheit für ökologische Belange wie etwa Müllvermeidung an, was man unter ihren Sprecherkollegen sonst so nicht antrifft.

Insgesamt steht die Mehrheit der Exponent/inn/en eher rechts als auf der Linken, wie auch eine Auswertung ihrer Facebookprofile und ihrer dort getätigten Äußerungen ergibt. (Vgl. leparisien.fr…) Einer der acht, der heute in Südostfrankreich ansässige Thomas Miralles (vgl. 20minutes.fr…), trat bei den Kommunalwahlen im März 2014 im süd(west)französischen Perpignan für den rechtsextremen damaligen Front National – inzwischen umbenannt in Rassemblement National – an; der 27jährige spricht in diesem Zusammenhang heutzutage von einer Jugendsünde.

Das Gewicht der extremen Rechten

Dies wirft bereits die Frage nach dem eventuellen Gewicht der extremen Rechten innerhalb dieser Bewegung auf.

Vorausgeschickt sei, dass es sich bei ihr tatsächlich um eine Art „Front der sozial oder wirtschaftlich Unzufriedenen“, also um eine sozio-ökonomische, und nicht um eine parteipolitisch dominierte Bewegung handelt (als solche würde sie in ihrer jetzigen Form, sprich Massendynamik, nicht funktionieren). Dies ist offensichtlich ein Unterschied zu Deutschland, wo es Nachahmungsversuche gibt, die jedoch aus explizit politischen Kreisen – Neonazis, Umfeld der AfD oder PEGIDA – initiiert wurden. Auf diesen Unterschied weisen inzwischen auch französische Medien hin. (vgl. orange.fr…)

In Köln etwa marschierten Nazis und Fußballhooligans am Wochenende des 24./25. November 18 auf und legten dabei gelbe Neonwesten an, und dies nicht nur aus etwaigen Witterungsgründen. Mittlerweile erfuhr der Verfasser dieser Zeilen von einem vertrauenswürdigen antifaschistischen Genossen aus Sachsen, dort sprössen mittlerweile die Gelbe Westen-Kollektive aus dem Boden – bundesweit gebe es inzwischen ihrer vierzig, mit bis zu 800 angegebenen Mitgliedern -, welche allem Anschein nach vor allem das PEGIDA-Spektrum anziehen.

In einem einschlägigen rechtsextremen Magazin in Deutschland liest man dazu, im Hinblick auf Frankreich, in einem Leserkommentar (O-Ton; Schreibweise wie im Original belassen): „Dass die “Gelben Westen” in ihrer überwältigenden Mehrheit Weisse und Araber sowie Neger unter ihnen nur sehr spärlich vertreten ist, weist darauf hin, dass sich hier eine authentische Widerstandsbewegung der autochthonen Franzosen bildet.“ (Vgl. Compact Magazin, Leserbeitrag vom 01. Dezember 18 um 21.31 Uhr)

Hier handelt es sich um relativ durchsichtige Versuche von Kreisen, die sich über politische Ideologie definieren und organisieren, an ein echtes oder vermeintliches Erfolgskonzept aus dem europäischen Ausland anzuknüpfen. Im Unterschied dazu betreiben zwar vergleichbare Kreise ebenfalls innerhalb und über die Protestbewegung und aus ihr heraus eine eigene politische Aktivität – sie inszenieren diese Proteste jedoch nicht, sondern nutzen diese (als „echten“, überwiegend sozio-ökonomisch motivierten Protest) nur aus.

Beiläufig bemerkt: Nicht alle Rechtsextremen in Deutschland teilen diese Sichtweise, also diesen Instrumentalisierungsversuch. Es gibt auch schriftliche Ergüsse aus dem rechtsextremen Spektrum, die die „Gelben Westen“-Proteste eher als Teil einer – unvermeidlichen – Verschwörung betrachten; bei manchen schriftlichen Zeugnissen mag man sich dabei fragen, bis wohin (in ihrem Inhalt) die politische Ideologie reicht und wo die Geisteskrankheit anfängt…

Beispiel Nummer 1: Der „Gelbe Westen“-Protest wird demnach durch Emmanuel Macron bewusst inszeniert, um die Leute davon abzulenken, dass sie eigentlich gegen den geplanten UN-Migrationspaket – aufgeblasen zu einer teuflischen Verschwörung, statt einer unverbindlichen Absichtserklärung, die er in Wirklichkeit ist – protestieren wollten oder sollten. Kostprobe: „Wenn man aber weiß, daß die Beliebtheit des Staatspräsidenten bei 25% dümpelt, entsteht die Frage, warum die Franzosen im Gegensatz zu zahlreichen Deutschen nicht gegen den Migrationspakt demonstrieren. (…) Die Bürger sind seit Oktober voll beschäftigt, die Demonstrationen gegen die Benzin- und Dieselpreiserhöhungen zu organisieren, die Emmanuel Macron unter dem Vorwand des Umweltschutzes vorgenommen hat… (….): Ohne die geringsten Angebote an die Gelbwesten zu machen, duldet Emmanuel Macron die Proteste bewußt; sie sollen bis zum 11. Dezember 2018 alle Kräfte der Bürger binden. Vom Migrationspakt redet niemand…“ (Vgl. zu diesen Ergüssen aus der Feder einer deutsch-französischen, früher einmal irgendwie als links geltenden, Autorin: eussner.blogspot….)

Und Beispiel Nummer 2: Die „Gelben Westen“ sind eine Erfindung der USA, um Präsident Macron für seinen jüngsten Vorstoß zur Einrichtung einer Euro-Armee zu bestrafen; genauso, wie die USA auch den Pariser Mai 1968 inszenierten, wegen eines außenpolitischen Zwists mit Charles de Gaulle. Vgl. zu dieser Variante von Verschwörungswahn: „Es sind diese Schatten, die mir seit gestern im Kopf herumgehen. Ich sah die gewalttätigen Demonstrationen in Paris (…). Und dachte an den von Emmanuel Macron seit Herbst immer stringenter verfolgten Plan, eine europäische Armee aufzubauen, ohne, ja sogar gegen (!) den alten NATO-Partner USA. Marianne will Uncle Sam verlassen – kurz darauf liegt das Gesicht der stolzen Nationalheiligen am Arc de Triomphe in Trümmern Dabei erinnerte ich mich – manchmal mischen sich alte Bilder unter die neuen – dass Charles de Gaulle die NATO verließ und wenig später, 1968, Goldtonnagen aus den USA abzog (…). Unmittelbar darauf begannen in Paris die Studentenunruhen – so gewalttätig, dass der Präsident aus seiner eigenen Hauptstadt fliehen musste.“ (compact-online.de…) Man verkneift sich gerade noch einmal die Bemerkung: So kackdoof können Rechte sein…

Kurz und gut, kommen wir zum französischen Protestgeschehen zurück – die dortige (hiesige) extreme Rechte hat die Proteste als solche nicht initiiert. Doch sie betreibt Politik mit und ihnen.

Am stärksten in der öffentlichen Meinung in dieser Frage engagiert ist im Übrigen tatsächlich die jeweilige Wähler/innen/schaft des Rassemblement national (RN, „Nationale Sammlung“, vormalig Front National) von Marine Le Pen sowie der rechtskonservativen Kleinpartei Debout La France (ungefähr: „Aufstehen, Frankreich“) des letztjährigen Präsidentschaftskandidaten Nicolas Dupont-Aignan. In einer Umfrage, die am 30. November d.J. publik wurden, erklären 68 Prozent der Erstgenannten und 65 Prozent in der letztgenannten Wählergruppe ihre „Unterstützung“ für den Protest. (Vgl. orange.fr…) „Unterstützung“ ist dabei die stärkste oder aktivste drei möglichen, vorgeschlagenen Pro-Haltungen (Unterstützung, Sympathie, Verständnis..); alle drei insgesamt repräsentierten insgesamt über siebzig Prozent in derzeitigen Meinungsumfragen. Aktive „Unterstützung“, als die stärkste Form der Befürwortung, ist dabei in der FN- sowie DLF-Wählerschaft am stärksten verankert.

Hingegen repräsentiert diese „Unterstützung“ bei den Wählerinnen und Wählern des Linkssozialdemokraten und Linksnationalisten Jean-Luc Mélenchon – er erhielt bei der Präsidentschaftswahl 2017 knapp zwanzig Prozent der Stimmen und ging am 1. Dezember 18 selbst bei Protesten der Bewegung gegen die Spritsteuererhöhung auf die Straße (allerdings nicht wie angekündigt auf den Champs-Elysées, sondern in seinem Wahlkreis in Marseille (vgl. ladepeche.fr…) – „nur“ 45 Prozent. Trotz einer allgemein eher zugunsten von Sozialprotest orientierten Haltung. Als Grund dafür analysieren die Demoskopen, dass die rechtsextreme Wählerschaft ohnehin generell gegen Steuern allergisch sei; dies hat seit der mittelständisch geprägten Anti-Steuer-Protestbewegung der „Poujadisten“ in den 1950er Jahren eine feste politische Tradition. Jean-Marie Le Pen, der Gründer des Front National und dessen Vorsitzender zwischen 1972 und 2011, war einstmals Parlamentsabgeordneter der „Poujadisten“ in den Jahren ab 1956 gewesen. Hingegen würden den Demoskopen zufolge Steuern auf der Linken, auch in ihrem protestfreudigen Teil, nicht generell abgelehnt, sondern nach ihrer konkreten Erhebung und Verwendung bewertet. Grundsätzlich heiße man sie jedoch zur Finanzierung des Sozialstaats gut.

Am Montag, den 03. Dezember entschied sich der Fernsehsender TF1 – das ist der 1987 durch eine Rechtsregierung privatisierte, frühere erste Kanal des öffentlich-rechtlichen Fernsehens mit einer der höchsten Einschaltquoten – dazu, just Marine Le Pen in die Haupt-Abendnachrichten um 20 Uhr einzuladen (vgl. lefigaro.fr…), um sie als Oppositionspolitikerin zu den „gelben Westen“ und ihrem Protest sowie zum Regierungshandeln zu befragen. Dadurch wird sie in gewisser Weise bewusst als herausgehobene Exponentin hofiert.

An den gewalttätigen Ausschreitungen wie an den aufeinander folgenden Samstagen – 24. November und 1. Dezember 18 – waren unterdessen rechtsextreme außerparlamentarische Gruppen beteiligt wie die Aktivisten des Bastion Social oder die monarchistisch-nationalistische Action française. (Vgl. in der Presse dazu etwa orange.fr… und lepoint.fr…) Bastion Social, lautet der neue Name des GUD (Groupe Union Défense), einer seit 1969 existierenden, ursprünglich weitgehend studentisch geprägten, gewaltbereiten rechtsextremen Gruppe. Ein Teil der Umgebung Marine Le Pens besteht aus „alten Herren“ des Studentenmilieus des GUD.

Dabei besteht zu anderen Protestspektren nicht immer ein ausschließlich harmonisch. Yvan Benedetti, stiefelfaschistischer Aktivist bzw. Kader, ging etwa am Samstag, den 1. Dezember auf den Champs-Elysées zu Boden. (Vgl. twitter.com…) Bei ihm handelte es sich (nachdem er im Juni 2011 wegen antijüdischer Aussprüche einen vorübergehenden Parteiausschluss beim Front National für zwei Jahre erhielt) ab 2012 um der Chef der antisemitischen Splitterpartei L’Oeuvre française, welche im Juli 2013 verboten wurde. Die in den sozialen Medien zu beobachtende Szene, in welcher er auf dem Boden landet, ist interpretierungsbedürftig. Die Tageszeitung Libération suggeriert an diesem Montag, den 03. Dezember 18, er sei mutmaßlich durch linksradikale Protestierer attackiert worden. (Leid tut es uns nicht.)

Bei den Verkehrsblockaden, die neben Straßenprotesten zu den Aktionsformen der „Gelbe Westen“-Bewegung zählen ebenfalls Vertreter der extremen Rechten an manchen Orten zu den Aktivisten. Am 17. November 18, bei den ersten Verkehrsblockaden im Rahmen der Proteste, wurde etwa ein Kommunalparlamentarier im nordfranzösischen Etaples-sur-Mer zum Opfer eines Auffahrunfalls an einem Blockadepunkt. Es handelte sich um den RN-Mandatsträger Francis Leroy. (Vgl. lavoixdunord.fr…)

Autonome und „Insurrektionalisten“

Daneben sind an den gewaltförmigen Protesten auf den Champs-Elysées aber auch autonom-anarchistische Strömungen beteiligt. Beide Spektren agieren unabhängig voneinander.

Die „ACAB“ (All cops are bastards)-Sprühereien, die „Schändung“ des Grabmals des unbekannten Soldaten am Arc de Triomphe – am Ende der Champs-Elysées – am Samstag, den 01.12.18 (auf welche andere Gilets jaunes jedoch mit dem Absingen der Marseillaise antworteten), und viele Sachschäden an Bankautomaten und bei Luxuswarenläden wie Dior gehen eher auf dieses Spektrum zurück.

Federführend sind dabei unter anderem die Insurrektionalisten, also eine Strömung, die davon überzeugt ist, für einen Umsturz bedürfe es weder irgendeines längerfristig angelegten Kräfteverhältnisses noch eine Organisierung, sondern ausschließlich des Exempels der Tat. Ungefähr nach der Kurzformel: Wut + Glasbruch = notwendige und hinreichende Bedingung für Gesellschaftsänderung (tja, hm, mit wem und wohin?).

Zu diesem Spektrum – dort, wo es Sachschäden anrichtet – gesellen sich dann regelmäßig, wie an den vergangenen beiden Samstagen rund um die Champs-Elysées, noch Plünderer hinzu. Also Personen, die entweder als „Mitläufer“ auf den Demonstrationen dabei waren und durch die Gelegenheit sowie die Gruppendynamik animiert werden – oder aber durch die Aussicht auf eine Gelegenheit zum Abräumen angezogen wurden. Oftmals überwiegen Leute aus dieser Gruppe unter den Festgenommen, denn die gewaltförmig agierenden Aktivisten – ob militante Rechtsextreme oder Autonome-Anarchisten, deren Motivationen selbstverständlich nicht gleichzusetzen sind – verstehen es weitaus eher, sich kraft Erfahrung einem polizeilichen Zugriff zu entziehen. Fest- und mitgenommen werden dann oft die mehr oder minder unerfahrenen, spontan agierenden Plünderer und Mitmacher. (Vgl. etwa leparisien.fr…)

Gewerkschaften

Wie wir in LabourNet in der Anfangsphase dieser „Gelben Weste“-Protestbewegung (rund um ihren ersten Aktionstag am Samstag, den 17. November d.J.) ausführlich darstellten, blieben die französischen Gewerkschaften dieser Mobilisierung gegenüber anfänglich ausdrücklich skeptisch.

Inzwischen hat sich dies (v.a. auf regionaler Ebene) mitunter verschoben (vgl. danactu-resistance….); insofern, als in einigen französischen Regionen die Gewerkschaften versuchen, ihre eigene soziale Basis zu mobilisieren – um den „Gelbe Westen“-Protest entweder (verkürzt formuliert) ins solidarische soziale Lager hinüberzuziehen oder eine Alternative zu ihm aufzubauen. „Drinnen“ und „draußen“ (d.h. parallel zur existierenden „Gelbe Westen“-Bewegung) verschränken sich dabei mitunter ineinander.

Auf regionaler Ebene gab es vor allem im Raum Nantes (Département Loire-Atlantique) sowie im Raum Toulouse Versuche, zu den Protestdaten im Rahmen der „Gelbe Westen“-Bewegung aufzurufen, den eigenen Protest dabei jedoch von progressiver Seite her aufzuzäumen. Etwa, indem man Forderungen nach Lohnerhöhungen – statt Steuersenkungen – primär in den Vordergrund rückt, um gegen bestehende Einkommensunterschiede vorzugehen, und auch ökologische Belange berücksichtigt.

  • Zum Raum Nantes: vgl. fr…sowie https://syndicollectif.fr…
  • Zum gewerkschaftlichen Aufruf in und um Toulousefr…
  • Auch in Rennesdemonstrierten am 1. Dezember 18 Gewerkschaften und „Gelbe Westen“ gemeinsam: fr…

Derzeit ist es für eine Auswertung des Erfolgs dieser Strategie sicherlich noch zu früh. Erinnert sei es daran, dass es 2013 in der Bretagne bereits eine vergleichbare Situation gegeben hat, in welcher damals die „Rote Mützen“- (nein, nicht Rotkäppchen-) Bewegung ähnliche strategische Fragen aufwarf wie nun die „gelben Westen“. (Vgl. zu damals, aus unserer seinerzeitigen Sicht heraus verfasst – auch damals existierten innerhalb der Linken und der Gewerkschaften geteilte Auffassungen: labournet.de…)

Die CGT (auf frankreichweiter Ebene) verfolgt eine etwas andere Strategie. Auch sie versucht, die Situation – die durch eine erhebliche Schwächung des Regierungslagers unter Emmanuel Macron sowie einen sich Bahn brechenden sozio-ökonomischen Unmut geprägt ist – für eine eigene Mobilisierung zu nutzen. Doch sie versucht dies eher parallel zur „Gelbe Westen“-Bewegung; oder anders ausgedrückt: sie versucht, neben der von ihnen gelegten Spur eine eigene Spur zu ziehen.

Am Samstag, den 1. Dezember 18 führte die CGT ihre jährliche, zunächst unabhängig von den „Gelbe Westen“-Protesten angekündigte, Demonstration u.a. für Erwerbslosenproteste durch. Diese findet seit mindestens zwanzig Jahren alljährlich am ersten Samstag im Dezember statt; denn im Winter 1997/88 kam es zu starken, und in Teilforderungen durchaus erfolgreichen, Erwerbslosenmobilisierung – welche sich zunächst an der Forderung „Weihnachtsgeld für Arbeitslose!“ entzündete. (Vgl. dazu Artikel von damals: jungle.world… und ungle.world…)

Nachdem sich abzeichnete, dass die diesjährige Dezember-Demonstration der CGT zeitlich mitten in den Protest der „Gelben Westen“ fallen würde, bemühte die CGT sich darum, dieses Datum (1. Dezember) zu einer Zentralmobilisierung zu machen. Überregional riefen verschiedene ihrer Kreisverbände dazu auf. Und während diese Demonstration sonst von der Métrostation Stalingrad – eher weitab vom Pariser Zentrum – loslief, wurde ihr Beginn in diesem Jahr auf die zentralere place de la République verlegt. Thematisch war die inhaltliche Palette in diesem Jahr breiter als in den Vorjahren, da die Problematik der Erwerbslosenrechte derzeit notgedrungen im Zusammenhang mit der bevorstehenden „Reform“ der Arbeitslosenkasse – d.i. einer der beiden nächsten großen „Reform“pläne Emmanuel Macrons, neben der ebenfalls drohenden Renten„reform“ – steht. Allerdings wurde die Thematik nicht direkt in Zusammenhang mit den Anliegen der „Gelben Westen“ gebracht, die nicht erwähnt wurden. (Vgl. cestlagreve.fr…)

Real wurde diese Demonstration jedoch nicht zu einem durchschlagenden Erfolg. Laut Polizeiangaben nahmen 2.100, laut Zahlen der CGT jedoch 15.000 Menschen daran teil. (Vgl. liberation.fr…) Ein mit dem Verfasser dieser Zeilen bekannter Linksgewerkschafter, welcher ebenfalls zeitweilig teilnahm, sprach seinerseits von 2.000 Personen und dem Gefühl einer geringen Dynamik. Allerdings ist auf der positiven Seite zu verbuchen, dass auch eine Reihe von „gelbe Westen“-Trägern zu der Demonstration der CGT hinzu kamen; teilweise hatten sie sich mit der Begründung dorthin gesellt, dass bei dieser Demo wenigstens nicht ständig Scheibenbrüche und Tränengaseinsätze zu erwarten seien. (Vgl. auch orange.fr…)

Seit diesem Montag (03. Dezember 18) ruft die CGT nunmehr zu einem „großen Aktionstag“ am Freitag, den 14. Dezember d.J. auf, für die „sofortige“ Anhebung von Löhnen und Renten. (Vgl. huffingtonpost.fr… und rtl.fr…) Das Datum fällt zusammen mit dem Tag, an dem eine Regierungskommission die jährlich anstehende Entscheidung zur Erhöhung – reiner Inflationsausgleich, oder mehr? – des gesetzlichen Mindestlohns (SMIC) zum 1. Januar 19 trifft.

In gewisser Weise setzt die CGT dadurch ihre Strategie einer Mobilisierung parallel zu den „Gelben Westen“ – unter denen es bereits Aufrufe zu erneuten Protesten am Samstag, den 08. Dezember gibt – fort. Jedoch wird dieses Mal auf deren Protest Bezug genommen, und es ist die Rede davon, man „teile“ deren „Zorn“.

Den konkreten Erfolg gilt es selbstverständlich auch in diesem Falle abzuwarten.

Ausnahmezustand?

Im Laufe des Sonntag, den 02. Dezember erklärte der Pariser Polizeipräfekt (in Teilen ungefähr mit einem deutschen Polizeipräsidenten zu vergleichen, ihm untersteht jedoch auch die hauptstädtische Ausländerbehörde), ein solches Niveau von Militanz von Gewalt wie am Vortag sei noch nie dagewesen: orange.fr…

An jenem Samstag, den 1. Dezember wurden in Paris laut offiziellen Angaben zwischen 9.000 und 10.000 Gas- sowie Blendschockgranaten verschossen; 140.000 Liter Flüssigkeit wurden in Wasserwerfern ein- bzw. abgesetzt, und 776 Stück flash ball-Munition (eine Art Gummigeschosse) wurden verschossen. (Vgl. dazu: orange.fr…) Am selben Tag wurden 412 Personen in Paris festgenommen, und 378 von ihnen in Polizeigesahrsam genommen; 133 Personen wurden laut offiziellen Angaben verletzt, unter ihnen 23 Polizeibeame. (Vgl. orange.fr…) Im Laufe des Montag – 03. Dezember – wurde festgestellt, dass in 111 Fällen der Polizeigewahrsam um weitere 24 Stunden verlängert worden war.

Vor diesem Hintergrund mochte der seit kurzem amtierende französische Innenminister Christophe Castaner am Sonntagabend nicht ausgeschlossen wissen, dass der (infolge der Attentate vom 13. November 15 in Paris) von November 2015 bis zum 31. Oktober 2017 landesweit geltende Ausnahmezustand erneut verhängt werde. Diesbezüglich wollte er zunächst „keine Tabus“ in der Diskussion gelten lassen (vgl. orange.fr…). Am Montag früh (03. Dezember) schien diese Option jedoch, laut seinem Innen-Staatssekretär Christophe Nuñez, wieder vom Tisch. (Vgl. orange.fr…) Allerdings sollen nun die polizei- und ordnungsrechtlichen Maßnahmen im Hinblick auf künftige Protestversammlungen überdacht werden (vgl. orange.fr…).

Notstandsähnliche Maßnahmen ergriffen wurden unterdessen bereits in den ersten Tagen nach dem 17. November 18 (also den ersten Aktionen der „Gelben Westen“) auf der zu Frankreich gehörenden Insel La Réunion im Indischen Ozean. In diesem „Übersee-Département“, wo breite Teile der Bevölkerung unter besonders prekären sozio-ökonomischen Bedingungen leben und – durch eine auf Frankreich zugeschnittene wirtschaftliche Struktur – auf einen „Versorgungskanal“ mit Frankreich mit überteuerten Preisen angewiesen sind, eskalierten die Proteste besonders schnell und stark. Unter den besonderen Bedingungen des „überseeischen Bezirks“ wuchsen sie sich zu tagelangen, heftigen Riots aus. Daraufhin ließ Präsident Macron militärische Verstärkung aus der „Metropole“, also dem europäischen Frankreich, einfliegen (vgl. orange.fr…). Nach neun Tagen ebbten die dortigen Riots ab. Allerdings flammten zum heutigen Montag, den 03. Dezember auf der Insel erneute Auseinandersetzungen mit den Sicherheitskräften auf (vgl. lefigaro.fr…). Unterdessen drohen andauernde Verkehrsblockaden auf La Réunion nunmehr zu Versorgungsengpässen bei Grundbedarfsgütern zu führen (vgl. lefigaro.fr…). Doch die Situation im „Überseegebiet“ wird demnächst an gesonderter Stelle zu analysieren sein.

Stand um Mitternacht zwischen dem 03. und 04. Dezember 2018.

Quelle: labournet.de… vom 5. Dezember 2018

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