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Neue Massenproteste im Iran: Jugend und Frauen an vorderster Front

Eingereicht on 16. Januar 2020 – 11:13

Narges Nassimi. Im Iran sind am vergangenen Samstag erneut Proteste ausgebrochen, nachdem die Regierung der Islamischen Republik zugegeben hat, ein Passagierflugzeug „versehentlich“ abgeschossen zu haben.

Nachdem die USA den hohen iranischen General und Anführer der Revolutionsgarden Qasem Suleimani am 3. Januar 2020 gezielt tötete, reagierte das iranische Regime in der Nacht zu letztem Mittwoch mit Raketenangriffen auf mindestens drei US-Militärbasen im Irak. Keine US-Soldat*innen kamen ums Leben. In den frühen Morgenstunden des vergangenen Mittwochs wurde der Ukraine Airlines Flug 752 von den Revolutionsgarden selbst, in einem bizarren Akt der Verwechslung eines feindlichen Angriffes, abgeschossen. Alle 176 Insass*innen, mit Staatsangehörigkeiten aus mindestens sieben Ländern, kamen dabei ums Leben.

Das iranische Regime nutzte den Tod von Suleimani für die Stärkung nach innen. Unzählige eigens gedruckte Transparente, in denen Suleimani als „Märtyrer“ und „Held“ gefeiert wurde, tauchten innerhalb weniger Stunden nach seiner Ermordung im ganzen Land auf. Trauerzüge in zahlreichen irakischen und iranischen Städten wurden veranlasst. Die internationale Presse sprach von Tausenden, wenn nicht Millionen Trauernden und interviewte junge Männer und weinende Frauen im schwarzen Chador[1]. Stimmen der Kritik des militärischen Oberhauptes des iranischen Regimes fanden in der bürgerlichen Presse nur von rechts Platz: Konservative und Rechte aller Fraktionen aus imperialistischen Ländern nannten Suleimani einen „Terroristen“. Am Dienstag, den 7. Januar, waren bei einem der vielen Trauerzüge für Qasem Suleimani über 50 Teilnehmende in Kerman durch eine Massenpanik zu Tode getreten worden.

Abschluss des Passagierfliegers

Während am Mittwochmorgen ein Nachtwächter am Stadtrand von Parand, einer Stadt in der Provinz Tehran, mit seinem Handy den Moment aufnahm, in dem eine Rakete auf das Ukraine International Airlines Flugzeug traf, versuchte das iranische Regime drei Tage lang alles abzustreiten. Von Hardliner*innen bis zu den Reformist*innen im Iran, von russischen Medien bis zu den sich „neutral“ gebenden Forscher*innen und Expert*innen auf BBC-Farsi, berichteten alle von einem „technischen Fehler“ der Maschine. Inzwischen wurde der Nachtwächter sogar verhaftet.

Noch am Freitag hatte Ali Abedzadeh, der Chef der iranischen Luftfahrtbehörde kategorisch ausgeschlossen, „dass das Flugzeug Typ Boeing 737–800 von einer Rakete getroffen wurde“. Relevante Videos von Handykameras und Aussagen der Einwohner*innen aus Parand auf der einen Seite, und der ausländische Druck auf der anderen Seite, haben das Regime nun am Samstag jedoch zum Geständnis gezwungen:

Nach Angaben des iranischen Oberkommandos hatte sich der ukrainische Passagierjet einem strategisch wichtigen Raketentestgelände der Revolutionsgarden genähert, weshalb er für ein feindliches Kampfflugzeug gehalten worden sei. Alle Streitkräfte hätten sich in dieser Nacht wegen der iranischen Vergeltungsschläge gegen US-Truppen im Irak in ‚höchster Alarmbereitschaft‘ befunden. ‚Aus dieser Situation heraus wurde das Flugzeug getroffen – aus Versehen und ohne Absicht‘.

Erst am Samstagmorgen erklärten der Präsident der Islamischen Republik, Hassan Rohani, und sein Außenminister Mohammed Javad Zarif, die Revolutionsgarden hätten die Maschine „irrtümlich“ angegriffen.

Bis zum endgültigen Bekenntnis des iranischen Regimes zu seiner Verantwortung für den Flugzeugabsturz waren die Reformist*innen und Hardliner*innen sich in der Verleugnung der Realität einig. Nachdem die Wahrheit jedoch enthüllt wurde, ist nun die Rivalität zwischen den beiden Fraktionen so intensiv, dass sich die eine den Plan des Rücktritts von Rohani mittlerweile angeschlossen hat und die andere sich als ahnungsloses Opfer einer Verschwörung der Reformist*innen bzw. von einer westlichen Verschwörung sieht. So wird nun von „psychologischer Kriegsführung des Pentagon“ gesprochen.

Das Handeln der beiden Fraktionen des Regimes brachte noch einmal die Heuchelei der Reformist*innen an die Oberfläche. Die sogenannten Reformist*innen sind dieselben Politiker*innen, die in den vergangenen Monaten an den Massakern Tausender und an der brutalen Repression und der Verhaftung von unbewaffneten Protestierenden beteiligt waren. Auf einmal inszenieren sie sich jedoch als Trauernde um die getöteten Insassen des Flugzeuges. Dabei sind sie genauso verantwortlich für die über 1500 Toten der letzten Wochen.

[1] Schiitische Ganzkörperverschleierung.

Bild: Proteste vor der Amirkabir-Universität in Teheran

Beginn der massiven Proteste am Samstag

Mindesten in fünf Städten fanden direkt am Samstag die ersten neuen Proteste statt: in Teheran, Isfahan, Hamedan, Rascht und Babol. Dabei kam die Mobilisierungskraft aus den Universitäten, wo sich Schüler*innen und Studierende gemeinsam mobilisert haben. Vor der Amir Kabir Universität, der Sharif Universität und der zentralen Teheran Universität versammelten sich am Samstag, dem ersten Wochenentag im Iran, Hunderte junger Menschen. Weitere Proteste entflammten kurz darauf auch in weiteren Städten; mittlerweile gibt es Videos auch aus Sanandadsch, Baneh, Ahwaz, Yazd, Semnan, Karaj, Tabriz, Kerman, Schiraz, Arak und Zanjan.

In der nach Autonomie strebenden Provinz Balutschistan im Südosten des Landes finden derzeit keine Proteste statt, da die Region von massiven Überschwemmungen betroffen ist. Von der Zentralregierung gibt es keine Unterstützung. Stattdessen wurden nun 200 Million Euro in die Raketen-Operation investiert. Die Student*innen haben sich heute mit dem unterdrücktem Volk in Balutschistan solidarisiert und gerufen: “Balutschistan wird überflutet, das Regime knüppelt”.

Die neuen Proteste richten sich gegen das Regime der Islamischen Republik selber und die Protestierenden fordern den Rücktritt der Regierung sowie des wichtigsten religiös-politischen Führers Ayatollah Khamenei. Dies ist eine eindeutige Radikalisierung – wenn vor einigen Wochen noch gerufen wurde, „Habt keine Angst! Wir stehen zusammen!“, hallt es jetzt in Richtung der Repressionsapparate wie der Basij: „Habt Angst vor uns, denn wir stehen zusammen!“ Auch Rufe wie „Lügner!“ werden immer wieder laut.

Die Parolen sind eindeutig politisch durchdacht und offen regierungsfeindlich. Die zornigen Massen nahmen die Katastrophe des Flugzeugabsturzes zum Anlass, um jetzt eine größere politische und soziale Empörung gegen das gesamte System der Islamischen Republik zum Ausdruck zu bringen.

Die Versuche der Reformist*innen, die neuen Proteste (mit Propaganda über Referendum und Reform) zu vereinnahmen, sind gescheitert. Ihr anfänglicher Versuch, in Teheran mit Blumensträußen und Kerzen um die Insass*innen des Flugzeuges zu trauern, stieß auf eine Flut von lauten Kampfansagen der Umstehenden. Parolen wie „Reformisten, Hardliner, eure Zeit ist vorbei“, „Die Islamische Republik muss zerstört werden“ und „Suleimani ist ein Mörder“, waren die vernichtenden Antworten. Die Student* innen im Iran riefen: “Nein zum Referendum, nein zur Reform, (sondern) Streik, Revolution”, “Von Teheran bis Baghdad, Elend, Unterdrückung und Gewaltherrschaft”, und “Von Teheran bis Baghdad, rufen wir Revolution!”

Dies zeigt, dass das politische Bewusstsein in den letzten Wochen stark gewachsen ist – nicht nur eine Fraktion des Regimes wird für die brutale Repression, die Massaker, den neoliberalen Kurs, der für die meisten Menschen im Iran massive Verarmung bedeutet hat, verantwortlich gemacht: Nun geht es um alles.

Die Jugend und die Frauen an vorderster Front

Auf vielen Videos sieht man, wie mutige Jugendliche „Tod den Lügnern“ und „Ihr seid Mörder“ direkt in Richtung der Sicherheitskräfte rufen. Vor allem junge Frauen, die sich auf vielen der Videos in den ersten Reihen befinden, schreien den Sicherheitskräften direkt ins Gesicht. Junge Frauen, oft in Maghnae – einer Form ‚schnellen‘ Kopftuches, in das man mit dem Kopf hineinschlüpft und das man in der Schule, an der Universität und bei Bürojobs tragen muss –, führen die Sprechchöre an und diskutieren bestimmt mit den Sicherheitskräften auf der Straße.

Man sieht sogar Videos, wo das Bild von Suleimani mit brachialer Gewalt von Protestierenden erst geschlagen und dann unter Beifall heruntergerissen wird.

„Hau ab, Diktator!“ ist ein beliebter Sprechchor und richtet sich an den obersten Führer der Islamischen Republik. Die Antwort der Regierung ließ nicht lange auf sich warten: Mit massiver Repression, Gewalt und Tränengas wird in diesen Tagen erneut versucht, die Jugend, die Frauen und alle Protestierenden in ihre Grenzen zu weisen. Es gibt erneut viele Verletzte und unzählige Festnahmen. Darunter sind viele Student*innen. In vielen Videos sieht man Unmengen an Blut auf dem Asphalt.

USA, BRD: Die Heuchelei der Imperialist*innen

Es ist keine Neuigkeit, dass die herrschende Klasse die Ermordung der Zivilist*innen als eine Art Kollateralschaden bezeichnet. Gerade im Kontext der imperialistischen Kriege mit deutscher Beteiligung in Afghanistan und im Irak ist uns dies bereits bekannt. Auch der lokale imperialistische Lakai Israel bombadriert ständig „aus Versehen“ Hochzeiten, Schulen und Krankenhäuser. In ganz Westasien werden so mit unbemannten Made-in-Germany-Kriegsgeräten Zivilist*innen angegriffen und ermordet.

Das jetzt ausgerechnet Politiker*innen aller parlamentarischer Lager der USA und auch Deutschlands „bestürzt“ sind und sich als Trauernde geben, ist unerträglich. Es sind immerhin genau diese Regierungen, die mit wirtschaftlichen Sanktionen die breite Masse der iranischen Bevölkerung tagtäglich angreifen. Mit der Lieferung von Folter- und Abhörgeräten unterstützen die USA und Deutschland die Diktatur im Iran, die die eigene Bevölkerung mit Elend, Folter und Armut überschüttet.

Die angebliche „Unterstützung“ oder „Solidarität“ von Seiten diverser Politiker*innen imperialistischer Staaten ist somit falsch und verlogen. Die Tweets auf Farsi von Donald Trump führen bloß dazu, dass das iranische Regime mit mehr Repression gegen die Protestierenden vorgeht und ihnen vorwirft, Agent*innen westlicher Länder zu sein.

Die imperialistische Aggression der USA, Soleimani umzubringen, hat die militärische Eskalation zwischen USA und Iran nur noch verschärft. Aus der Intervention des Imperialismus kann nichts Gutes für die Massen der Region kommen, sondern nur noch mehr Elend und Abhängigkeit.

Deswegen fordern wir den Abzug aller imperialistischen Mächte aus Westasien! Eine tatsächliche Solidarität mit den ausgebeuteten und unterdrückten Massen im Iran kann nur eine anti-imperialistische sein, die auf die Selbstorganisierung der Protestierenden und Verstärkung der politischen Kräfte auf den Straßen Irans setzt.

„Ich bin eine von Millionen unterdrückten Frauen in Iran“

Währendessen erreicht die internationale Presse die Nachricht, dass auch die Weltklasse-Sportlerin und Medaillengewinnerin Kimia Alisadeh aus dem Iran geflohen ist. Alisadeh, die am 18. August 2016 in Rio de Janeiro als erste Iranerin eine Medaille bei Olympischen Spielen erkämpfte, Bronze in der Gewichtsklasse bis 57 Kilogramm der Taekwondoka, und 2017 Zweite der Weltmeisterschaft in Minsk wurde, ist die bekannteste Sportlerin im Land. Nun schrieb sie über ihr Instagram-Konto aus den Niederlanden folgende Nachricht:

Hallo, unterdrücktes iranisches Volk, […] Wie gut kennt ihr mich? […] Lasst mich nun frei meine zensierte Identität offenbaren. […] Ich, Kimia Alisadeh, schreibe weder Geschichte, noch bin ich Heldin, noch Flaggenträgerin Irans. Ich bin eine von Millionen unterdrückten Frauen in Iran […]. Sie haben mich hingebracht, wo sie wollten. Ich habe getragen, was sie mir sagten. Jeden Satz, den sie bestellten, sagte ich. Wenn es ihnen passte, nahmen sie mich in Beschlag. Sie haben die Medaillen auf den obligatorischen Schleier gelegt und behauptet, ihr Management und ihre Dezenz seien ausschlaggebend gewesen. Ich war ihnen egal. Sie sind uns allen egal – wir sind ihre Werkzeuge. Es geht ihnen um die Medaillen, mit denen sich politischer Einfluss kaufen lässt, zu einem Preis, den sie selbst setzen. Und zugleich demütigen sie uns, sagen sie: Es schickt sich nicht für eine Frau, ihre Beine zu strecken. […] Mein unruhiger Geist passt nicht zu euren schmutzigen wirtschaftlichen Kanälen, eure engen politischen Zirkel. Ich wünsche mir nichts mehr als Taekwondo, Sicherheit und ein gesundes und glückliches Leben. Liebes iranisches Volk, ich will nicht die Stufen der Korruption und Lügen hinaufsteigen […]. Diese Entscheidung fiel mir schwerer als ein Kampf um Olympisches Gold, aber ich bleibe ein Kind Irans, wo auch immer ich mich aufhalte.

Ob die Proteste fortgesetzt oder quantitativ sowie qualitativ ausgeweitet werden können, wie hoch das Ausmaß der Repression sein wird usw., ist nicht vorhersehbar. Eins ist jedoch klar, dass es die Parole jeder Kundgebung und Demonstration ist, die ihre Expansionsfähigkeit, Forderungen und ihre Natur definiert. Diese Proteste, auch wenn sie sich bisher auf die Mittelschicht bezogen, wurden von den Protesten im Januar und November beeinflusst. Die Mörder von Januar und November (inklusive der Reformisten) dürfen sie daher nicht vereinnahmen.

Quelle: klassegegenklasse.org… vom 16. Januar 2020

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