Israel, Juden und Araber: Die revolutionären Perspektiven des Zusammenlebens
Interview von Henry Wilno mit Michel Warschawski
Michel Warschawski ist seit vielen Jahren in Israel politisch aktiv. Er zeichnete seine Biografie in einem seiner Bücher nach: An der Grenze (mit einem Vorwort von Moshe Zuckermann; Hamburg, Nautilus 2004). Aufgewachsen in Strassburg, entschied er sich im Alter von sechzehn Jahren nach Jerusalem auszuwandern; dort began er mit Talmud-Studien. Im Jahre 1968 schloss er sich der Sozialistischen Organisation Israels an; diese wurde 1962 von ausgeschlossenen Mitgliedern der Kommunistischen Partei und ältere, durch den Trotzkismus beeinflusste Aktivisten gegründet. Diese Gruppe war am ehesten unter dem Namen ihrer Zeitung, Matzpen («Kompass» auf Hebräisch) bekannt. Matzpen war eine revolutionäre Organisation, die den Zionismus als ein koloniales Projekt interpretierten und für die Koexistenz von Juden und Arabern auf der Grundlage von vollständiger Gleichheit kämpften. Ab dem Juni 1967 forderte Matzpen den vollständigen, sofortigen und bedingungslosen Rückzug Israels aus allen besetzten Gebieten und bekräftigte das Recht des palästinensischen Volkes, für seine Freiheit zu kämpfen.
Trotz einer kleinen Zahl von Mitgliedern hatten die Aktionen und die Positionen von Matzpen ein so grosses Echo, dass er sowohl von den rechten wie von den linken Zionisten als «innerer Feind» gebrandmarkt wurde. Seine Aktivistinnen und Aktivisten wurden des öfteren in Haft genommen. Obschon seine Mitglieder hauptsächlich jüdische Aktivistinnen und Aktivisten waren, versuchte Matzpen neben der Mobilisierung der jüdischen Jugend, auch Verbindungen mit den israelischen Arabern, mit linken palästinensischen Organisationen und solchen in arabischen Ländern aufzubauen.
In den 1970er Jahren begann im Matzpen eine Debatte über seine Perspektiven. Matzpen und Aktivisten der palästinensischen Linken entschlossen sich 1984, das Alternative Information Center (AIC) aufzubauen, eine Organisation für die Bereitstellung von Information und Solidarität. Michel Warschawski ist der Leiter des AIC. Im Jahre 1989 wurde er wegen «der Unterstützung von illegalen Organisationen» (für den Druck von Flugblättern) zu mehreren Monaten Gefängnis verurteilt. [H.Wilno]
In einer Deiner Schriften von 2014 sprichst Du von Faschismus in Israel. Welches sind die Wurzeln dieser Entwicklung? Ist sie einfach das Produkt des Kriegszustandes? Können wir davon sprechen, dass nun die extreme Rechte regiert?
Ich spreche da von einem langen Prozess, der bis zur Hass- und Delegitimierungskampagne zurückreicht, die der Ermordung von Yitzak Rabin im Jahre 1995 voranging. Die Mörder des Premier Ministers ergriffen die Macht und haben diese seit damals in ihren Händen. Darin schliesse ich die Episode unter Ehud Barak (1999 – 2001) ein, der angeblich der Kandidat der Arbeitspartei war; er verteidigte jedoch die Politik der extremen Rechten und setzte alles daran, dass Ariel Sharon Premier Minister und er selbst Verteidigungsminister wurden.
Damit haben wir 20 Jahre von kontinuierlicher Macht der Rechten. Dies änderte die Lage, nicht so sehr im Bereich der Kolonialpolitik gegenüber den Palästinensern, sondern im internen Regime im israelischen Staat.
Der Rassismus wurde losgetreten – im politischen Diskurs, auf den Strassen und in der Gesetzgebung, was im Vorschlag gipfelte, das Grundgesetz im Sinne von «Israel, der Nationalstaat der Juden» abzuändern. Eine Reihe von äusserst repressiven und offen diskriminierenden Gesetzen gegen die palästinensische Minderheit in Israel wurden bereits erlassen; andere, noch schlimmere sind unterwegs. Das oberste Gericht, das über viele Jahre hinweg der Garant eines Systems war, das den «jüdischen Staat» und den «demokratischen Staat» unter einen Hut zu bringen versucht, ist seit einiger Zeit zum Ziel heftiger Angriffe der rechten Parlamentarier geworden. Verschiedene Gesetzesentwürfe wollen seine Macht vermindern.
Die Regierung stützt sich auf einen Block aus drei Parteien der extremen Rechten, einen Block, in dem Netanyahu geradezu als Gemässigter erscheint!
Wenn ich vor einem Jahr über Faschismus redete, so deshalb, weil wir zusätzlich zu dem oben Erwähnten die Gewalt durch kleine faschistische Gruppen oder gar von Passanten gegen demokratische Organisationen, Aktivistinnen und Aktivisten in Betracht ziehen müssen. Eine Regierung der extremen Rechten + harte Strafen + Gewalt, um jede Äusserung von Kritik einzuschüchtern = Faschismus!
Israel ist gegenwärtig eines der Länder mit der grössten sozialen Ungleichheit (einschliesslich unter Juden) und wo soziale Errungenschaften durch die neoliberale Politik geschleift werden. Und doch, wenn man von aussen schaut, scheint die politische und soziale Debatte unter der jüdischen Bevölkerung Israels vollständig um zwei Themen polarisiert zu sein: Religion und «Sicherheit». Stimmt dieser Eindruck? Sind soziale Themen aus der Debatte verschwunden?
Israel steht in der Gruppe der industrialisierten Ländern tatsächlich auf dem zweiten Platz hinsichtlich des Abstandes von Arm und Reich: eine sehr reiche Bourgeoisie und viele sehr arme Leute. Gemäss den Daten der israelischen Sozialbehörden leben 32 Prozent der israelischen Kinder – Juden wie Araber – unterhalb der Armutsgrenze! Die Zerschlagung des Wohlfahrtsstaates und seiner Errungenschaften wurden mit solcher Brutalität und Schnelligkeit durchgezogen, die Margret Thatcher vor Neid hätten grün werden lassen.
Bei all dem bleiben die sozialen Kämpfe, insbesondere die Gewerkschaftskämpfe äusserst eingeschränkt. Und dies aus drei Gründen: der wirtschaftliche Erfolg Israels, welcher es ermöglicht, den Lohnabhängigen einige Krümel abzugeben; die Tatsache einer sehr tiefen Arbeitslosigkeit (weniger als 2 %); das Fehlen von Gewerkschaftstraditionen und –organisationen, die diesen Namen verdienen. Fünfzig Jahre absoluter Macht für den Histadrut, welcher nichts mit einer Gewerkschaft zu tun hat, nur schon mal einer klassenkollaborationistischen, hat die Herausbildung eines selbst primitiven Klassenbewusstseins verhindert. Obwohl es zu Kämpfen kommt, so bleiben sie beschränkt auf einen Betrieb – normalerweise wegen Entlassungen -, oder finden in eher privilegierten Sektoren statt (Krankenpflegerinnen, Lehrer).
Reagiert die breite Bevölkerung auf die Abbaumassnahmen? Was ist mit der Bewegung der «Indignados» von vor zwei Jahren? Was repräsentiert die Gewerkschaft Koach Ovdim («Arbeiterstärke»), die auf Kosten des Histadrut an Stärke zu gewinnen scheint?
Die Bewegung der Indignados war ein Strohfeuer: eine gigantische Mobilisierung mit Hundertausenden von Leuten, die eine Rückkehr zum Wohlfahrtsstaat forderten aber nur eine nationale Kommission hervorbrachte (die Trachtenberg Kommission)…. deren Vorschläge beinahe alle durch die Regierung zurückgewiesen wurden. Koach Ovdim, die erste vom Histadrut unabhängige Gewerkschaft, bleibt im Vergleich dazu eine kleine Organisation. Es gelang ihr aber, Streiks und andere ökonomische Kämpfe in einigen der am meisten vernachlässigten Sektoren zu organisieren. Beispielsweise mit Unterhaltsarbeitern in grösseren Sektoren des öffentlichen Dienstes oder mit den Arbeitern in einem Steinbruch in der Nähe von Jerusalem.
Die Mehrheit der israelischen Arbeiter sieht ihre gesellschaftliche Stellung, einschliesslich ihre Identität in erster Linie durch die politische und «nationale» Zugehörigkeit definiert und erst weit danach durch die soziale Klasse, der sie angehören. Wenn Du jemanden fragst, was er oder sie sei, so werden sie antworten: Jude, dann Israeli, dann ob sie tunesischen oder russischen Ursprungs seien. Sehr selten nur werden sie sagen «Arbeiter» oder «Angestellter».
Was ist aus dem «Peace Camp» geworden? Ist es ihm möglich, irgendwelchen Einfluss auszuüben?
Etwa 3’000 Leute demonstrierten gegen den Angriffskrieg auf Gaza. Dies ist sehr wenig und stellt in etwa das dar, was in Frankreich als die äusserste Linke bezeichnet wird. In diesem Sinne hat sich die Massen-Friedensbewegung der 1980er und der 1990er Jahre noch nicht von ihrer vernichtenden Niederlage vom August 2000 erholt. Dieses Datum muss man sich merken, da es einen Bruch darstellt, eine Art August 1914 für die Friedensbewegung: Als Ehud Barak von den Verhandlungen in Camp David zurückkehrte – die er in Zusammenarbeit mit der Clinton Administration sabotierte – , er, der auf der Grundlage einer Alternative zur Besatzungspolitik der Rechten gewählt worden war, überzeugte sein Lager mit Erfolg davon, dass Yasser Arafat die Verhandlungen nur nutzte, um Israel in den Schlaf zu lullen, Spaltungen zu erzeugen mit dem Ziel, die Juden ins Meer zu treiben (sic!). Er fügte bei: Die Rechte hatte recht. Wir, die Pazifisten, lagen falsch.
Das Problem liegt darin, dass diese Mega-Lüge von der Friedensbewegung laut und deutlich aufgenommen wurde….. Und Sharon mit einer grossen Mehrheit gewählt wurde. Er ging daran, die von der palästinensischen Autonomiebehörde verwalteten Gebiete und die wenigen Gewinne aus den Verhandlungen zwischen Israel und der PLO zurückzuerobern. Die Friedensbewegung hat sich von dieser Schlappe nicht wieder erholt, und es wird noch lange dauern bis zu deren Wiedergeburt als einer Massenbewegung, die imstande ist, die politischen Optionen der Regierung zu beeinflussen.
Du hast erläutert, dass Teile der israelischen Linken und das Peace Camp aufgrund ihres Absehens von sozialen Fragen die sephardischen Juden in die Arme des Likud und der extremen Rechten getrieben haben. Ist dies endgültig?
Die breite Bevölkerung und insbesondere die armen Juden aus den arabischen Ländern (fälschlicherweise als «Sephardim» bezeichnet), haben sich seit den späten 1970er Jahren der Rechten angeschlossen, nicht wegen einer Identifikation mit deren Ideologie eines Gross-Israel, sondern weil sie die Oppostion zu der absoluten, totalitären und rassistischen – gegen die nichteuropäischen Juden – Macht der Pseudolinken darstellte.
Die «Linke» hat keine Chancen, die breiten Wählerschichten zurückzugewinnen, da ihre Realität und ihr Bild bürgerlich sind, ihr anti-orientaler Rassismus mit ihrer Identität verklebt ist. Die grosse russische Einwanderung hat diese Trennlinie nur noch verstärkt. Um eine Stütze in der breiten Bevölkerung zurückzugewinnen, muss eine neue Linke aufgebaut werden. Dies aber ist die Aufgabe der nächsten Generation.
Bei all dem muss aber auch erwähnt werden, dass Eheschliessungen zwischen den verschiedenen Gemeinschaften zahlreicher werden und ich denke, dass die ethnische Zuordnung in der jüdischen Gemeinschaft allmählich eher ihre Relevanz verliert.
Was ist die extreme Linke in Israel? Anarchists against the Wall ? Andere Bewegungen? Was wir hier als extreme Linke bezeichnen, ist sehr bescheiden und ist in erster Linie durch ihre Position zu politischen Fragen (kolonialer Konflikt und Kriege) definiert, auch wenn die extreme Linke im Allgemeinen eine antikapitalistische Orientierung verficht. In der jüdischen Bevölkerung gibt es keine Partei, in der sie sich organisieren könnte. Wir finden sie in Kollektiven, sei es zu politischen (Besatzung, Rassismus) oder sozialen Themen (Wirtschaftsflüchtlinge, Frauenrechte, Wohnungen, …). Anlässlich von Wahlen wählt sie standardmässig eine «arabische Partei», vor allem die Kommunistische Partei. Dies Partei streitet übrigens ab, eine «arabische Partei» zu sein, selbst wenn 85 % ihrer Wähler aus der palästinensischen Bevölkerung Israels stammen.
Die Anarchisten gegen die Mauer, einige feministischen Organisationen, verschiedene Organisaitonen, die gegen die Besatzung oder die soziale Ungerechtigkeit kämpfen oder dann das Alternative Information Center (AIC) nehmen an bestimmten Kampagnen teil (gegen die Mauer, gegen faschistische Gruppen, für papierlose Arbeiter, usw.), aber es gibt keine permanente Strukturen.
Eines unserer Probleme besteht in dem, was ich vor Jahren als die «NGO-isierung» der Politik bezeichnet habe, Gruppen von Leuten, die bei kleinen Organisationen angestellt sind und für ihre Aktivitäten durch europäische Stiftungen oder Regierungen oft gut finanziert werden. NGOs machen oft einen guten Job bei den Informationen und bei der Bewusstseinsbildung, aber sie können unter keinen Umständen die Grundlage für eine Massenbewegung abgeben. Einige würden sogar sagen, dass sie – unwillentlich – ein Hindernis seien.
Wie entwickelt sich die Ausgrenzung der israelischen Araber? Ist die Trennung zwischen israelischen Juden und israelischen Arabern nun abgeschlossen?
Seit 2000 (im Oktober 2000 ordnete Ehud Barak in arabischen Orten eine blutige Niederschlagung der Solidaritätsdemonstrationen zu dem palästinensischen Aufstand an) sind wir Zeugen eines Zusammenbruchs der jüdisch-arabischen Front, die die Oppositionsbewegung gegen die Besatzung und die Ausgrenzung der palästinensischen Minderheit in Israel (welche 20 % der Bevölkerung ausmacht) charakterisiert. Die Palästinenser kommen für ihre Proteste nicht länger nach Tel Aviv und mobilisieren stattdessen in ihren Städten und Dörfern. Dies erklärt, weshalb die Proteste in den wichtigsten jüdischen Städten von Zehntausenden von Teilnehmern auf wenige Tausend abgenommen haben.
Hinter dieser Wahl steht auch der Wunsch nach Autonomie, denn in der «jüdisch-arabischen» Front drängte die Kommunistische Partei auf jüdische Hegemonie, wovon die Präsenz jüdischer Fahnen und die Über-Präsentation von jüdischen Rednern äussere Anzeichen waren.
Die arabische Minderheit ist in der Knesset durch drei Parteien von etwa gleichem Einfluss repräsentiert: Die Kommunistische Partei (in Form der Front für Frieden und Gleichheit, Hadash), die National Demokratische Versammlung (Balad – radikale Nationalisten), und die Vereinigte Arabische Liste (konservative Nationalisten).
Ein Abänderungsantrag zum Wahlgesetz könnte die arabischen Parteien dazu drängen, durch Listenverbindungen ihre Wahlchancen zu erhöhen. Falls dies durchkommt, könnten sie in der nächsten Knesset über 15 Sitze verfügen, aus einem Total von 120…. Ausser denn, dass die Bemühungen der äussersten Rechten Erfolg haben, einzelne arabische Parteien von den Wahlen auszuschliessen. In dieser Frage werden die kommenden Wochen entscheidend sein. [Am 22. Januar 2015 kam es tatsächlich im Hinblick auf die Parlamentswahlen vom 17. März zu einer Listenverbindung].
Für die Wiederbelebung einer jüdisch-arabischen Front ist es entscheidend, dass die jüdischen Aktivistinnen und Aktivisten ihren Anspruch auf die Hegemonie fallen lassen und zu einer unterstützenden Kraft in einer in erster Linie arabisch-nationalistischen Bewegung werden.
Was für einen Anklang findet das AIC im gegenwärtigen Zusammenhang?
Die Besonderheit des Alternative Information Center liegt, drei Jahrzehnte nach seiner Gründung, darin, dass es immer noch die einzige gemeinsame israelisch-palästinensische Organisation ist. Das AIC führt bekannte und anerkannte Aktivisten und Aktivistinnen aus der palästinensischen Linken und israelische Antizionisten zusammen. Obschon, wie sein Name sagt, Informationen und Gesellschaftsanalysen (insbesondere auf seiner Internet-Seite alternativenews.org) zu erarbeiten, besteht seine Originalität und seine Bedeutung darin, eine Bresche in der Mauer zu sein, die zwischen den beiden Gesellschaften, auch zwischen den Zusammenhängen der Aktivistinnen und Aktivisten, steht um eine Sichtweise der Zusammenarbeit und der Partnerschaft auf beiden Seiten der «grünen Linie» zu fördern.
In einer Situation, in der die Trennung als ein quasi absoluter Wert gesehen wird, wird die Perspektive des Zusammenlebens herausragend revolutionär. Sie führt zur Notwendigkeit des gemeinsamen Kampfes.
Dieses Interview erschien ursprünglich in Revue L’Anticapitaliste n°61, Januar 2015, der Monatszeitschrift der Neuen Antikapitalisten Partei (NPA) in Frankreich. Es wurde am 9. Januar 2015 aufgezeichnet. Die Übersetzung erfolgte durch die Redaktion maulwuerfe.ch
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