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Venezuelas unerledigte Angelegenheiten

Eingereicht on 23. Juni 2017 – 15:23

Die Bolivarische Revolution ging zu weit für den Kapitalismus, aber nicht weit genug für den Sozialismus

Daniel Finn. Es kann keinen Zweifel daran geben, dass Venezuela eine tiefe Krise durchlebt. Eine Gruppe von Sozialisten im Land, die das Erbe Hugo Chávez‘ verteidigen, zeichnen ein trostloses Bild des alltäglichen Lebens dort:

„Nahezu 19 Mindestlöhne werden gebraucht, um den Warenkorb zur Deckung der Grundbedürfnisse zu bezahlen. Dazu kann man die Inflation addieren, die als die höchste der Welt bezeichnet wird, die endlosen Schlangen aufgrund der Hortung von Waren, des spekulativen Weiterverkaufes und niedriger agroindustrieller Produktion. Neben Misshandlungen durch Polizei- und Militärpersonal stehen das Drama der kranken Menschen, die ihre Medizin nicht bekommen können, unbestrafte Korruption, eine Krise in der Elektrizitätsversorgung und das organisierte Verbrechen. All dies erzeugt ein beispielloses soziales, politisches und ökonomisches Chaos in Venezuela.“

Das Versagen der Regierung des amtierenden Präsidenten Nikolás Maduro, den allgemeinen Lebensstandard aufrechtzuerhalten, hat der rechtsgerichteten Opposition ermöglicht, die Kontrolle in der Nationalversammlung zu erlangen, was zu einem Patt zwischen Exekutive und Legislative führt, dessen Auflösung noch immer offensteht.

Die Details der venezolanischen Krise sind bereits an anderer Stelle zur Genüge berichtet worden, womit sich jedoch bislang weniger auseinandergesetzt wurde, ist die Bedeutung der Krise für die internationale Linke, die einst große Hoffnungen für die Bolivarische Revolution gehegt hat.

Zunehmende Aufmerksamkeit

Es kann keinen ehrlichen Bericht davon geben, was in Venezuela falsch gelaufen ist, ohne zuerst anzuerkennen, was der Chavismus richtig gemacht hat.

Das Experiment, das von Hugo Chávez gestartet wurde nachdem er 1999 Präsident wurde, mit einem recht zurückhaltenden sozialen Reformprogramm, kam erst allmählich in den Fokus der internationalen Linken. Richard Gott machte in seiner Biografie des venezolanischen Anführers einen frühen Versuch, dieses Phänomen zu beschreiben. Sein Buch bekam eine naserümpfende Rezension im Magazin The Guardian von einem Redakteur des Buenos Aires Herald, der behauptete, dass Lateinamerika „keine Erlöser braucht, sondern mehr gewöhnliche Männer und Frauen mit guten Qualifikationen im Wirtschaftsmanagement“. Das war den größten Anstrengungen der Anti-Globalisierungsdemonstranten zum Trotz die vorherrschende Sichtweise zu Beginn des 21. Jahrhunderts: Alle fundamentalen Fragen darüber, wie man seine Wirtschaft zu organisieren hätte, seien bereits durch den Washington-Konsens festgelegt worden, deshalb würde eine gute Führungsfigur lediglich Managerfähigkeiten brauchen.

Der erfolglose Staatsstreich gegen Chávez 2002 erhöhte das Interesse für Venezuela genau wie das gewonnene Abwahlreferendum 2004. Als er dann 2006 wiedergewählt wurde, war für die meisten Beobachter klar, dass etwas Spannendes passierte, was große Auswirkungen auf die Region, wenn nicht sogar die Welt hatte.

Die Entwicklungen in anderen lateinamerikanischen Ländern verstärkten diese Wahrnehmung, von der Amtseinführung des brasilianischen Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva 2003 bis zu den wiederkehrenden Protesten in Bolivien, die schließlich Evo Morales und seine Bewegung zum Sozialismus (MAS) an die Macht führten. Mainstream-Journalisten begannen von einer „rosafarbenen Flut“ in der Region zu sprechen – es gab viel Besorgnis um den „vergessenen Kontinent„, wo nun aus ihrer Sicht vernünftige Wirtschaftspolitik durch ungezügelten Populismus abgelöst wurde.

Für diese Kommentatoren war es verblüffend genug, dass auch nur irgendwer in Venezuela Hugo Chávez als attraktive Figur wahrnehmen würde. Die Idee, dass er einen blühenden Fanclub in Europa oder USA haben könnte, versetzte sie in den Wahnsinn. Ihre einzige Erklärung dafür war, dass die Leute dümmliche Freude bei den Reden von Chávez empfanden, wenn er gegen die Bush-Adminsitration wetterte – wie während seines Auftrittes vor der UN-Generalversammlung, bei dem er ein Exemplar von Noam Chomsky‘s Buch „Hybris“ drohend emporhielt und den US-amerikanischen Präsidenten scherzhaft als den Teufel bezeichnete.

Chavismus an der Macht

Doch wenn die Tiraden gegen Bush und Cheney genug gewesen waren, um Anhänger zu gewinnen, wären doch auch Poster vom damaligen iranischen Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad gleichermaßen aufgehangen worden. In Wirklichkeit spielte die verbale Auseinandersetzung, der Chavez sich hingab, eine kleine Rolle bei seiner Beliebtheit. Die Bilanz seiner Regierung auf der heimischen Bühne war das, was wirklich wichtig war. Sobald sie mit den frühen Versuchen der ökonomischen Sabotage durch die rechte Opposition fertig geworden war, leitete die chavistische Regierung nämlich drastische Armutsminderungen ein und startete große Initiativen im Gesundheitswesen und in der Bildung, die das Leben von Millionen Menschen verbesserten.

Die Sozialausgaben stiegen von 8,2 Prozent des BIP im Jahr 1998 auf 13,6 Prozent acht Jahre später. Die Armut fiel von 55 Prozent im Jahr 2003 auf knapp über 30 Prozent im Jahr 2006. Als Chávez an die Macht kam, gab es knapp 1.600 Ärzte zur Erstversorgung für eine Bevölkerung von 23,4 Millionen. Zu der Zeit, als er seine zweite Amtszeit begann, waren es fast 20.000 für eine Bevölkerung von 27 Millionen. Mehr als eine Million erwachsene Menschen hatten sich in Alphabetisierungsprogramme eingeschrieben. Die steigenden Ölpreise machten diese Arbeit natürlich leichter – aber die schärfsten Kritiker des Chavismus haben diese Erfolge einfach komplett ignoriert.

Zusätzlich zu diesen Wirtschaftsreformen transformierte die Regierung von Chávez das politische System von Venezuela und machte es offener und demokratischer. Chávez erbte eine politische Kultur, die durch Gewalt, Korruption und die nahezu totale Entfremdung der venezolanischen Bürger von ihren Regierenden geprägt war. Der entscheidende Moment der längeren Periode, die zu Chávez‘ Sieg hinführte, war der Caracazo 1989. Ein neu gewählter Präsident, Carlos Andrés Pérez, brach damals sein Versprechen, sich gegen die Austeritätspolitik des Internationalen Währungsfonds zu stellen, setzte stattdessen tiefe Einschnitte bei den öffentlichen Ausgaben durch und entsandte die Armee, um die aufkommenden Proteste in Caracas und anderen Städten niederzuschlagen.

Die genaue Anzahl der Opfer bleibt unbekannt – viele von denen, die getötet wurden, wurden in Massengräbern begraben – aber die wahre Zahl könnte etwa 3.000 betragen. Dieses Massaker wurde von den Experten verschwiegen, die behaupteten, Chávez habe eine neue Art von Groll in das politische Leben des Landes gebracht und sein Volk gegeneinander aufgehetzt.

Als Chávez seine zweite Amtszeit begonnen hatte, konnte seine Regierung Anerkennung für einen bemerkenswerten Umschwung einfordern, wie Julia Buxton beschrieb:

„Laut einer Umfrage von Latinobarometro stieg der Prozentsatz der Venezolaner, die mit ihrem politischen System zufrieden waren, von 32 Prozent im Jahr 1998 auf über 57 Prozent und die Venezolaner sind politisch aktiver als die Bürger jedes anderen befragten Landes – 47 Prozent diskutieren regelmäßig über Politik (gegenüber einem regionalen Durchschnitt von 26 Prozent), während 25 Prozent in einer politischen Partei aktiv sind (der regionale Durchschnitt liegt bei neun Prozent). 56 Prozent glauben, dass die Wahlen im Land „sauber“ sind (regionaler Durchschnitt 41) und auf einem Rang mit den Uruguayern haben die Venezolaner das höchste Vertrauen in die Wahlen als das wirksamste Mittel zur Förderung eines Wandels im Land (beide 71 Prozent, verglichen mit 57 für ganz Lateinamerika).“

Eine neue Verfassung gab den Bürgern mehr Spielraum, um ihre Herrscher zur Verantwortung zu ziehen durch ein Abberufungsrecht für alle Beamten (die Oppositionsparteien nutzten dieses Recht in dem 2004 gescheiterten Abwahlreferendum gegen Chávez).

Das alles wurde trotz der ständigen Bemühungen der rechtspolitischen Opposition erreicht, die gewählte Regierung Venezuelas mit Gewalt zu stürzen und sie durch eine Diktatur im Stile des ehemaligen chilenischen Diktators Augusto Pinochets zu ersetzen. Trotz all der Wärme in seiner Beziehung zu Fidel Castro versuchte Chávez nicht das kubanische politische System nachzuahmen und zeigte eine viel größere Nachsicht gegenüber den Putschisten, als man es von einer Regierung in Westeuropa oder Nordamerika hätte erwarten können.

Das bedeutet nicht zu behaupten, dass der Chavismus eine perfekte Bilanz hatte, wenn es um demokratische Rechte ging: Es gab sicherlich legitime Gründe für Kritik. Insbesondere die kläglichen Bedingungen in den Gefängnissen Venezuelas blieben weitgehend unreformiert und ihre Polizeikräfte hatten ein gereiztes Verhältnis zu den Bewohnern der städtischen Barrios. Doch im Vergleich mit anderen Ländern Amerikas, wäre dies kein Grund, um Venezuela den Status eines demokratischen Staates abzusprechen.

Andere Kritiken berücksichtigten nicht den gewaltsamen Widerstand, dem Chávez seit der Machtübernahme seitens der rechten Opposition ausgesetzt war. Wieder einmal kam der historische Gedächtnisschwund ins Spiel: Die Gefahr einer gewalttätigen Konterrevolution und die Notwendigkeit, entscheidende Schritte zu unternehmen, um diese Gefahr abzuwenden, wurde von den meisten liberalen Analysen ausgeschlossen – als ob es keine lange und grausame Geschichte von demokratisch gewählten Links-Regierungen in Lateinamerika gäbe, die von Militärputschen gestürzt wurden.

Auf welche Art und Weise soll man sich vor dieser Gefahr schützen, ohne damit selbst Gefahren zu erschaffen – das war schon immer eine der grundlegenden Fragen für Regierungen, die zu radikaler Veränderung neigten. Anstatt dieses Dilemma zu benennen, zwingt die liberale Perspektive implizit zur Kapitulation vor dem unerbittlichen Widerstand der konservativen Kräfte, selbst wenn das bedeutet, dass gravierende Ungerechtigkeiten unangefochten bleiben. Das ist ein Ansatz, der Lincoln und Roosevelt ebenso wie Lenin oder Castro unfähig gemacht hätte.

Kritischer Chavismus

Der beste Gegenstandpunkt zur Standardkritik Venezuelas kam von Interviews mit Aktivisten aus sozialen Bewegungen, unter ihnen erfahrende Mitstreiter, die über die Stärken und Unzulänglichkeiten der Bolivarischen Revolution mit brutaler Offenheit diskutierten und das Bild eines charismatischen, populistischen Führers widerlegten, der Großzügigkeiten vom Staat zu einer Masse von leichtgläubigen Unterstützern herabreichte. Das war die Stimme des „kritischen Chavismus“.

Die venezolanische Linke hatte keinen Zweifel daran, dass die Regierung Chávez in ihren Kämpfen mit der rechten Opposition und dem US-Imperialismus Unterstützung brauchte. Gleichzeitig stellten sie nicht in Frage, dass das Experiment des Chavismus schwerwiegende Mängel enthielt, die behoben werden müssten, wenn es auf lange Sicht überleben sollte: zu große Abhängigkeit von der Führung durch Chávez, überhebliche bürokratische Praktiken in der Bewegung des Chavismus und weit verbreitete Korruption unter staatlichen Beamten.

Trotzdem gab es keine Frage, dass Venezuelas Präsident eine entscheidende Rolle spielte, die den Prozess formte. Und es entstand große Faszination dabei den Endpunkt herauszufinden, den Chávez im Sinn hatte. Als er an die Macht kam, hatte Chávez sich präsentiert als Anführer des dritten Weges in der Form von Clinton oder Blair. Erst als die traditionellen venezolanischen Eliten mit umfassender Opposition reagierten, radikalisierte Chávez seine Agenda.

Worauf Mick McCaughan in seiner Studie des frühen Chavismus, die Schlacht von Venezuela, hinwies, kam der entscheidende Moment 2001, als Chávez ein Paket von neunundvierzig Gesetzen einbrachte. Obwohl die Reformen in sich selbst mild waren, markierten sie „den Punkt, an dem die Wirtschaft, die Medien, die Ölwirtschaft, die Kirche und andere einflussreiche Sektoren sich gegen die Regierung stellten, sie zum Nachgeben aufforderten und mit totalem Widerstand gegen ihre Herrschaft drohten.“ Diese gewalttätigen Subversionsversuche zu überstehen erforderte eine quasi-revolutionäre Mobilisierung zur Verteidigung der gewählten Regierung.

Sozialismus des 21. Jahrhunderts

Erst im Vorfeld der Präsidentschaftswahl von 2006 verkündete Chávez den Sozialismus als das Ziel seiner Regierung – oder genauer gesagt den „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“. Wie der Name schon sagte, stand der Begriff im Gegensatz zu den gescheiterten Experimenten des vergangenen Jahrhunderts. In einer späten Rede, in der er versuchte sein Vermächtnis herauszuarbeiten, drängte Chávez seine Zuhörer, „sich an die Sowjetunion zu erinnern, die in alle Winde verweht ist, in der Sowjetunion gab es niemals Demokratie. … Eines der grundsätzlich neuen Dinge über unser Modell ist sein demokratischer Charakter.“

Aber es war nie ganz klar, wie der Sozialismus des einundzwanzigsten Jahrhunderts aussehen würde. Immer wieder wetterte Chávez gegen das kapitalistische System und forderte einen entscheidenden Bruch, doch der Großteil der venezolanischen Wirtschaft blieb in privaten Händen. Der Staatssektor war erweitert worden, und es gab einige vielversprechende Experimente in der Selbstverwaltung der Arbeiter, aber die alte herrschende Klasse behielt viel von ihrem Reichtum und eine neue Elite – die so genannte „Bolibourgeoisie“ – hatte begonnen, ihre Position zu festigen.

Ein unbestimmtes Vermächtnis

Als er tödlich erkrankte, hinterließ Chávez drei Schlüsselprobleme, mit denen seine Nachfolger zu kämpfen hatten. Das erste war die Frage der Führung. Es wäre schwer gewesen, einen Ersatz für Chávez zu finden, ein Mann von seltenen politischen Talenten mit einer herausragenden Persönlichkeit. Aber die Art und Weise, in der Chávez die Frage behandelte (indem er Nicolás Maduro nominierte, um seinen Platz an der Spitze der Bewegung einzunehmen) verstärkte einfach die Top-down-Aspekte des Chavismus.

Buxton hat darauf hingewiesen, dass ein Wahlprozess die Basis gestärkt hätte, der den Unterstützern der Sozialistischen Einheitspartei Venezuelas (PSUV) ermöglicht hätte, zwischen rivalisierenden Anwärtern zu wählen. Maduros Regierungsbilanz macht es schwer, dem zu widersprechen.

Im ökonomischen Bereich hinterließ Chávez Venezuela in stärkerer Abhängigkeit von Ölexporten als je zuvor. In den frühen Jahren seiner Regierung gab es viele Verlautbarungen über die Diversifizierung der Wirtschaft und den Aufbau einer stärkeren Produktionsbasis, aber diese Pläne blieben auf der Strecke, als die Ölpreise weiter anstiegen. Es wäre eine bemerkenswerte Leistung für jede Regierung gewesen, die so genannte „Holländische Krankheit“ zu einer Zeit zu überwinden, in der steigende Öleinnahmen preiswerte Importe ermöglichten, die die venezolanischen Industrien aus dem heimischen Markt drängten. Aber die Chavistas verstärkten das Problem zusätzlich mit hoher Kreditaufnahme aus Staaten wie China, basierend auf der Annahme, dass der Ölpreis kaum fallen würde. Als der Preis jedoch ins Bodenlose fiel, war Venezuela diesem Umstand übel ausgeliefert.

Maduro hatte vor allem ein System von festen Wechselkursen und Preiskontrollen geerbt, was ursprünglich gegen die ökonomische Sabotage durch die Opposition in den frühen 2000er Jahren eingesetzt wurde, aber längst zutiefst disfunktional geworden war. Trotz seiner verblüffenden Komplexität waren (und sind) die schädlichen Wirkungen dieses Systems einfach genug. Jeder, der Zugang zu Dollars zum Präferenzpreis bekommen würde, wäre in der Lage, sie auf dem schwarzen Markt mit einem riesigen Aufschlag zu verkaufen. Die gleichen Anreize kamen bei Nahrungsmitteln, Medizin und anderen Waren des Grundbedarfs ins Spiel. Sympathisierende Ökonomen wie Mark Weisbrot hatten seit Jahren auf die schädlichen Wirkungen dieses Systems hingewiesen – mit einem zunehmenden Gefühl der Dringlichkeit, als die Abwärtsspirale sich fortsetze – und forderten drastische Reformen, aber das Problem wurde einfach weiterlaufen gelassen.

Wirtschaftskrieg?

Maduro hat die Opposition für die Krise verantwortlich gemacht und beschuldigt sie, einen „wirtschaftlichen Krieg“ gegen seine Regierung zu führen. Aber es gibt keine Notwendigkeit, ein direktes politisches Motiv anzunehmen: Alles, was die verschiedenen Akteure zu tun hatten, war Marktanreizen zu folgen und das Ergebnis würde zu einem ökonomischen Crash führen.

Venezuelas Krise sagt, wenn überhaupt, etwas über die Unbestimmtheit des Sozialismus des 21. Jahrhunderts aus, der im Niemandsland gestrandet ist. Durch die Verhängung der Preiskontrollen, während sie die Produktion und den Vertrieb von Waren weitgehend in privaten Händen ließen, ging die Bolivarische Regierung zu weit für den Kapitalismus, aber nicht weit genug für den Sozialismus. Der Zusammenbruch der Ölpreise hätte in Venezuela unter allen Umständen schwerwiegende Schwierigkeiten bereitet, aber das Versagen, das Wechselkurs- und Preiskontrollsystem zu reformieren, ist ein schwerer, nicht erzwungener Fehler, der sich für den gesamten Prozess durchaus als tödlich erweisen kann.

Es ist verlockend zu fragen, wie Chávez auf die Krise reagiert hätte, wenn er noch ein paar Jahre gelebt hätte. Maduro ist seit der Machtübernahme bemerkenswert passiv, ohne offensichtlichen Wunsch, in die Brennnesseln der Reformen zu greifen. Viele Beobachter glauben, dass er zögert, korrupte Interessen in der „Bolibourgeoisie“ herauszufordern, die große Gewinne aus den aktuellen Konstellationen ziehen.

Es ist leicht, die Tugenden von Chávez einfach mit den Lastern seines Nachfolgers zu kontrastieren: Maduro musste sich einem ganz anderen Kontext stellen als er und die Probleme, mit denen Maduro sich beschäftigt hat, sind nicht über Nacht aufgetaucht. Aber es ist schwer vorstellbar, dass Chávez die gleiche Schüchternheit angesichts der offensichtlichen Katastrophe gezeigt hätte.

Tagträume über einen verlorenen Führer werden die Venezolaner natürlich nicht weiterbringen. Es ist schwer auszumachen, wie die heutige Krise in einer Weise gelöst werden kann, die das konstruktive Erbe des Chavismus bewahrt: vor allem die Sozialprogramme, die das Leben des Volkes so enorm veränderten und das tiefe Gefühl der Ermächtigung, das sich in den traditionell ausgeschlossenen Sektoren der Bevölkerung verankerte. Wenn Venezuela eine normale Opposition hätte, könnte ein Rücktritt von der Regierung der chavistischen Bewegung eine Chance geben, ihre Lage wiederzufinden und darüber nachzudenken, was schiefgelaufen ist.

Aber die Opposition ist alles andere als „normal“: immer noch dominiert von rachsüchtigen oligarchischen Galionsfiguren, kann Venezuelas Rechtsblock nicht vertraut werden, Respekt vor demokratischen Rechten zu zeigen, sobald es die Macht wiedererlangt. Bis das passieren wird, könnte die PSUV-Führung jedoch bereits selbst die entscheidendsten Errungenschaften der Bolivarischen Revolution zerstört haben.

Gute Linke, böse Linke

Als die „rosafarbene Flut“ sich auf ihrem Höhepunkt befand, war es in Mode von einer „guten Linken“ und einer „schlechten Linken“ zu sprechen. Die gute Linke – moderat, reformistisch, respektabel – wurde für die Kommentatoren durch Lula’s Arbeiterpartei (PT) in Brasilien verkörpert, die schlechte Linke natürlich von Chávez. Eigentlich war das immer eine verlogene und irreführende Dichotomie. Lula selbst erkannte sie nicht an, denn der brasilianische Präsident pflegte warme Beziehungen zu Chávez und unterstützte seine Wiederwahlkampagne im Jahr 2012 (sehr zum Ärger von Journalisten, die versucht hatten, den rechten Oppositionskandidaten als „Venezuelas Lula“ zu präsentieren). Aber die PT wählte eine eindeutig andere Herangehensweise im Amt: vorsichtiger und einvernehmlicher, weniger geneigt, einen frontalen Zusammenstoß mit der brasilianischen Oligarchie zu riskieren.

Es ist daher auffällig, dass beide Experimente fast genau zur gleichen Zeit in die Prellböcke krachten und die brasilianische Rechte Dilma Rousseff in einem parlamentarischen Staatsstreich absägte, als ihre Regierung sich bemühte mit einer tiefen Rezession fertig zu werden. Die Korruptionsvorwürfe waren wenig mehr als ein Vorwand für den rechten Putsch, aber niemand konnte daran zweifeln, dass die PT sich weit von ihrer ursprünglichen Berufung entfernt hatte. Die parallelen Krisen zeigen, wie viel die reformorientierten Regierungen Lateinamerikas einem langen Rohstoffpreisboom verdanken, der vorübergehend das Gleichgewicht der globalen Wirtschaftskräfte zu ihren Gunsten verlagert hatte. Auch ihre größere Mäßigung im Amt hat die brasilianische Linke nicht vom Ende dieses Booms bewahrt.

Wenn Venezuela und Brasilien zwei Ansätze zur Reform im Zeitalter der Globalisierung symbolisierten, war die Regierung des African National Congress (ANC) in Südafrika ein dritter: der einer totalen Kapitulation gegenüber dem Neoliberalismus. Diese Kapitulation wurde von der gleichen Orthodoxie als der Inbegriff der Vernunft gepriesen, die Chávez verunglimpfte und Lula von oben herab behandelte. Der Ansatz des ANC ließ die ökonomischen Strukturen der Apartheid völlig intakt. Er wurde von einer zügellosen Korruption in herrschenden Kreisen begleitet und es erforderte eine großes Maß an Repression, um die sozialen Proteste unter Kontrolle zu halten. Niemand könnte das ernsthaft als ein glücklicheres Ergebnis vorstellen als das in Brasilien oder Venezuela.

Lehren müssen aus dem Niedergang der Bolivarischen Revolution gezogen werden. Aber diese Lektionen sollten keine größere Bereitschaft beinhalten, angesichts des Drucks des globalen Kapitalismus den Kurs zu ändern, oder gar gänzlich in die Knie zu gehen.

Daniel Finn ist stellvertretender Redakteur der britischen Zeitschrift New Left Review.

Quelle: amerika21.de… vom 23. Juni 2017

 

 

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