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Covid-19 und Weltwirtschaftskrise: Alte Gespenster entsteigen der Tiefe

Eingereicht on 18. März 2020 – 17:25

Paula Bach. Ein Grossteil des Journalismus und des globalen wirtschaftwissenschaftlichen Mainstreams hat den selbstverständlichen Hang, die Probleme der kapitalistischen Wirtschaft – und der Politik – als von «außen» kommend anzunehmen und entsprechend zu berichten. Zuerst der Triumph von Brexit und dann Trump, später der «Handelskrieg» zwischen den Vereinigten Staaten und China und jetzt der Coronavirus und der Konflikt zwischen Saudi-Arabien und Russland über das Öl – die unmittelbaren Schuldigen an der aktuellen Börsenkatastrophe – scheinen als «Blitz am heiteren Himmel» oder in seiner modernsten Version als «schwarze Schwäne» aufzutauchen. Aber wenn alle Schwäne schwarz sind  oder wenn sich die Blitze an einem ruhigen Himmel häufen, scheint eher eine Periode angebrochen zu sein, in der man entweder denkt, dass diese Vögel ihre Färbung mutieren, oder dass hinter diesem scheinbar ruhigen Himmel eine Art Sturm herrscht.

Es ist klar, dass es kontingente Faktoren – sowie  mehrere Verschwörungstheorien – gibt, die in der Lage sind, Stürme zu kombinieren und auszulösen, die in diesem Fall als die besonders schwachen Bedingungen der wirtschaftlichen Erholung nach der Lehman-Pleite verstanden werden müssen. Die aktuellen Tendenzen deuten darauf hin, dass wir in eine Rezession treten, die sich als die akuteste Bedrohung seit der Euro-Krise 2010/2012 herauskristallisiert. Diese ökonomische und politische Krise könnte Kräfte freisetzen, die die bisher gewohnten Handlungsmöglichkeiten übersteigen und auf längere Dauer angelegt sind. Schauen wir mal.

Coronavirus und Wirtschaftskontraktion

Es ist klar, dass die Coronavirus-Epidemie eine klare Rolle bei der Entwicklung der aktuellen globalen wirtschaftlichen Abschwungstrends spielt. China – wo der offensichtliche Ursprung der Krankheit liegt – erweist sich – bisher – als der schärfste Fall. Nachdem der Ausbruch im Dezember in der Stadt Wuhan begonnen hatte, droht im ersten Quartal des Jahres ein Null- oder Negativwachstum. Laut Chinas offiziellem Einkaufsmanagerindex (PMI) schrumpfte die Produktion im Februar noch stärker als während der Krise 2008/9. Wenn man jedoch zunächst China als das Hauptwirtschaftsopfer ansah, scheint die Epidemie in dem asiatischen Land unter Kontrolle zu sein, da die Regierung – nicht ohne Risiken – Massnahmen für die Erholung einleiten würde. Das virtuelle «Einfrieren» Chinas, Lieferant von 20 % der weltweit gehandelten Zwischenprodukte, führender Exporteur von Elektronik, Chemikalien und Transportprodukten und gleichzeitig ein großer Nachfrager von Lebensmitteln und Rohstoffen sowie ein bedeutender «Exporteur» des Tourismus, hatte jedoch fast unmittelbare Auswirkungen auf die Kerne der Weltwirtschaft. Der Rückgang der Exporte von Zwischenprodukten führte laut UNCTAD zu einem Rückgang der Exporte von Endprodukten, vor allem aus der Europäischen Union, den Vereinigten Staaten und Japan, aber auch aus Südkorea, Taiwan, Vietnam, Singapur, dem Vereinigten Königreich und Mexiko, neben mehreren anderen Ländern. Als sich die Epidemie ausbreitete, standen Italien – das in seinen wichtigsten produktiven, finanziellen und touristischen Regionen wie unter Schockstarre steht -, der Iran und Südkorea am Rande einer Rezession.

Als Reaktion auf die wirtschaftliche Schrumpfung und die Unsicherheit begann an den Aktienmärkten der Welt ein Prozess der Einbrüche – in einigen Fällen beispiellos seit der Krise von 2008. Dies ist übrigens ein Indiz der Abhängigkeit – letztlich – zwischen den Bewertungen von Finanzanlagen und den Bewegungen der Realwirtschaft. Oder, mit anderen Worten, eine Aussage, dass fiktives Kapital – das wir als „Anti-Wert“ [1] bezeichnen könnten, was einen Großteil des Preisanstiegs solcher Vermögenswerte erklärt, nicht ohne ein Wertesubstrat steht – also ohne die in der realen Wirtschaft produzierten Güter und Dienstleistungen. Parallel zur wirtschaftlichen Kontraktion begann auch der Ölpreis einen starken Abwärtstrend, der an einem OPEC-Treffen dazu führte, über eine Förderkürzung zu verhandeln. Das Scheitern dieses Treffens, bei dem sich Russland weigerte, die Quote zu kürzen, und Saudi-Arabien mit einer Erhöhung der Produktion reagierte, ist der unmittelbare Ursprung des Einbruchs des Ölpreises, der zusammen mit einem sprunghaften Anstieg der Schärfe und Ausdehnung der Epidemie den letzten «Schwarzen Montag» auslöste, der alle Aktienmärkte der Welt erschütterte. Diesem Ereignis folgten die Erklärung einer «Pandemie» durch die WHO, die Entscheidung der italienischen Regierung, die gesamte Bevölkerung unter Quarantäne zu stellen, die Entscheidung von Donald Trump, die Flüge nach Europa auszusetzen, und die Fortsetzung des katastrophalen Zusammenbruchs der Aktienmärkte, die bis Freitag fortdauerten, mit einem alarmierenden Höhepunkt am letzten «Schwarzen Donnerstag».

Dieser Prozess wird wie üblich von der so genannten «Flucht in die Qualität» begleitet. Das heißt, die Flucht von Kapital in «sicherere» Anlagen wie US-Schatzanleihen, die deren Wert nach oben treibt und ihre Rendite sinken lässt [2]. Im Rahmen desselben Prozesses wird der Dollar aufgewertet, die anderen Währungen werden abgewertet und die Rohstoffpreise, die für die meisten «Nicht-Kernländer» und insbesondere für die lateinamerikanischen Länder gewöhnlich die Hauptquelle für Exporte sind, sinken.

Rezessive Tendenzen

Über seine auslösende Wirkung hinaus wäre es jedoch schwierig – und ungerecht -, dem Coronavirus oder dem Rückgang der Ölpreise die Schuld für die rezessiven Tendenzen zu geben, die sich in der Weltwirtschaft einnisten. Es wäre auch schwierig, den unerklärten «Handelskrieg» zwischen den Vereinigten Staaten und China, dessen tiefste Motive nie im Handel lagen, für die Rezession vor einigen Monaten [3] verantwortlich zu machen. Vor dem allgemeinen Hintergrund der schwachen wirtschaftlichen Erholung nach 2008 muss der Ursprung der rezessiven Tendenzen etwa in den Jahren 2013/2014 gesucht werden. In diesen zwei Jahren begann eine Umkehrung der beiden Hauptfaktoren, die nach dem Zusammenbruch von Lehman vor einen katastrophalen Ausgang bewahrten. Wir haben wiederholt auf diese Kombination hingewiesen, die Adam Tooze sehr gut definiert: Während die Vereinigten Staaten ihre globale Finanzkraft unter Beweis stellten, indem sie nicht nur ihre eigenen Banken, sondern auch die europäischen Banken retteten, hat China seinen Platz qualitativ verändert und sich als Schlüsselfaktor zur Unterstützung der Weltwirtschaft herausgestellt [4]. Doch nun begann sich diese stabilisierende Kombination zu entwirren. China war auf dem Weg zu einem geringeren Wachstum, und die Vereinigten Staaten beabsichtigten, die expansiven geldpolitischen Maßnahmen zurückzuziehen [5]. Der langsame, aber definitive Rückzug dieser Kombination, die ein grosses Gewicht gehabt hatte, offenbarte die tiefen strukturellen Schwächen, die sich seit Beginn des Aufschwungs nach hinten verschoben hatten: die Schwäche des Investitionswachstums, der Produktivität und des Welthandels. Im Jahr 2016 wurde eine globale Quasi-Rezession beobachtet, und wenn in den folgenden Jahren ein Wiederaufschwung der Wirtschaft mit den gigantischen Steuersenkungen von Trump kombiniert wurde, so hörten die rezessiven Tendenzen s mittelfristig nie auf im Untergrund zu wirken. Darüber hinaus haben die Grenzen dieser «stabilisierenden» Kombination und die Perspektive einer größeren wirtschaftlichen Stagnation zu tiefgreifenden Veränderungen in der politischen Arena, zu einer deutlichen Verschärfung der geopolitischen Widersprüche und in letzter Zeit zu einem qualitativen Sprung des Klassenkampfes geführt.

Natürlich sind die unmittelbaren Auswirkungen nicht die Ursache der rezessiven Tendenzen, aber sie wirken auf sie ein und können ihren Durchbruch fördern. In der Tat hat der Handelskonflikt zwischen den Vereinigten Staaten und China die Wachstumsraten des Welthandels unter Druck gesetzt, und das Coronavirus wird – im Grunde genommen – zu einem Auslöser, dessen Dauer und Intensität weitgehend vom Ausmaß des anhaltenden Wirtschaftsabschwungs sowie von der Möglichkeit, dass er in eine offene Rezession übergeht, abhängen. Es ist jedoch nicht auszuschließen, dass ihr bloßer Schwung ausreicht, um die latenten Schwächen der Wirtschaft zu entfesseln und auf perverse Weise zu kombinieren.

Verschuldung: öffentliches und privates Risiko

Wenn während der Krise von 2008/9 die offensichtliche Bruchlinie die Banken waren, die mit gefährlichen, auf der Basis von Subprime-Hypotheken gebauten Instrumenten überflutet wurden, so scheint sich die Hauptbruchlinie nun hauptsächlich auf die Staats- und Unternehmensschulden zu konzentrieren, die in den hartnäckigen Schwächen des Aufschwungs wie Pilze aus dem Boden schossen.

Der  IWF weist darauf hin, dass die Gesamtverschuldung der Welt – die öffentliche und private Schulden einschließt – im Jahr 2018 226% des BIP betrug. Die öffentliche Verschuldung ist in den meisten Ländern historisch hoch. Im Falle der fortgeschrittenen Volkswirtschaften machen sie im Durchschnitt fast 90% des BIP aus und übertreffen damit die Quoten von vor 2008. Während sie in den vom IWF als «Schwellenländer» definierten Ländern auf ein ähnliches Niveau wie in den 1980er und 1990er Jahren kletterten, stiegen sie in den als «Niedrigeinkommen» definierten Ländern kontinuierlich an. Spezifisch neu ist jedoch die Kombination des Wachstums der öffentlichen Verschuldung mit dem der privaten Unternehmensverschuldung. Es gibt jedoch laut IWF eine ungleiche Verteilung der privaten Schulden unter den Ländern. Insgesamt hat die Unternehmensverschuldung in den «fortgeschrittenen Volkswirtschaften» bereits den 2008 erreichten Höchststand erreicht. Doch während in Spanien und Großbritannien ein Prozess des Schuldenabbaus stattfindet, wächst in den Vereinigten Staaten die Verschuldung der Unternehmen seit 2011 stetig an und hatte Ende 2018 bereits einen beispiellosen Höhepunkt erreicht. Der IWF weist auf die zunehmende Verwendung von Schulden als Instrument zur Übernahme finanzieller Risiken (Finanzierung von Dividendenausschüttungen, Aktienrückkäufen sowie Fusionen und Übernahmen) und auf hochspekulative Schulden hin, wie sie in einigen großen Volkswirtschaften häufig zu beobachten sind. Dies ist ein Komplex, der – immer nach Ansicht des IWF – die Einbrüche verstärken könnte, wenn Unternehmen ihre Zahlungen nicht leisten oder sich zu Investitionskürzungen entschließen, um ihre Schulden zu reduzieren. Die Agentur kommt zu dem Schluss, dass sich die Risiken nicht wie vor der globalen Finanzkrise ausschließlich auf den privaten, sondern auch auf den öffentlichen Sektor konzentrieren, was zum Teil auf die ungelösten Probleme der Krise von 2008/9 zurückzuführen ist. Eine übermäßige private Verschuldung erhöht die Anfälligkeit für Einbrüche und könnte zu einem abrupten und kostspieligen Prozess des Schuldenabbaus führen, aber der Schuldenabbau im privaten Sektor kann wiederum zu einer Belastung für den bereits überschuldeten öffentlichen Sektor werden.

Die  Weltbank betont ihrerseits, dass sich die gegenwärtige Schuldenwelle von den drei vorangegangenen unterscheidet, und zwar sowohl durch die gleichzeitige Anhäufung von öffentlichen und privaten Schulden als auch durch die Präsenz neuer Arten von Gläubigern (z.B. werden derzeit 50% der öffentlichen Schulden der «Schwellen-» und «Entwicklungsländer» von nicht ansässigen Investoren gehalten) und weil sie nicht auf eine oder zwei Regionen beschränkt sind. Während im Falle der «Nicht-Kernländer» ein Teil des Anstiegs von China getrieben wurde, dessen Verschuldung etwa 250% des BIP ausmacht, ist die Verschuldung, selbst wenn China aus dieser Gruppe ausgeschlossen wird, doppelt so hoch wie 2007.

In diesem Zusammenhang könnte das Terrain der Unternehmensverschuldung extrem brüchig werden , wenn wie die Financial Times  neben mehreren anderen bemerkt, dass die «Bärenbewegung» von Wall Street weitgehe, d.h. wenn sie ihren Rückgang von mehr als 20% seit ihrem Höchststand im Februar 2020 beibehalten oder sogar noch übertreffen und damit 11 Jahren fast beispielloser Finanzgewinne nach der Krise im Jahr 2008 ein Ende setzen würde. Angesichts fallender Aktienkurse könnten große Kreditgeber Geld abheben, um die Liquidität zu schonen – wie es Boeing kürzlich getan hat. Dies könnte mit einer Welle von Ausfällen einer bedeutenden Anzahl von Kreditnehmern mit Unternehmen, die insbesondere mit dem Öl-, Luftfahrt- und Hotelgeschäft verbunden sind, kombiniert werden – alles Sektoren, die von den besonderen Merkmalen des Abschwungs ernsthaft betroffen sind. Es ist eine Tatsache, dass sich die Situation der Banken – und insbesondere der amerikanischen Banken – derzeit sehr stark von der von 2007/2008 unterscheidet. Wie ein Hinweis aus  The Economist zeigt, ist das Bankensystem hoch kapitalisiert und die Höhe der toxischen Schulden ist begrenzt und leicht zu identifizieren. Etwa 15% der nichtfinanziellen Unternehmensanleihen wurden von Ölgesellschaften oder anderen von der Coronavirus-Pandemie betroffenen Unternehmen wie Fluggesellschaften und Hotels ausgegeben. Die Risiken, die jetzt entstehen, sind jedoch die Möglichkeit einer Liquiditätskrise in einer Vielzahl von Unternehmen weltweit, da „Quarantänen“ zur Schließung von Fabriken und Betrieben führen. Ein «Stresstest» auf der Grundlage börsennotierter Unternehmen legt nahe, dass 10 bis 15 % der Unternehmen möglicherweise Liquiditätsprobleme haben. Ein anderer Beitrag der  Financial Times stellt fest, dass die direkte Exposition der US-Banken gegenüber Ölschulden zwar nur 2 % beträgt, dass aber die indirekte Exposition gegenüber angrenzenden Regionen und Sektoren erheblich sein könnte. Es ist jedoch klar, dass das Coronavirus für dieses Schuldengewirr nicht verantwortlich gemacht werden kann.

Verschuldung und «erwartete Rendite»

Tatsächlich scheint es einen recht engen Zusammenhang zwischen der Zunahme von Unternehmensschulden und -forderungen – beides von Unternehmen unterschiedlicher Größenordnung – einerseits und den Schwächen des Investitionswachstums zu geben, die wiederum den geringen Anstieg der Produktivität und des Welthandels als die tiefsten strukturellen Schwächen erklären, die der Erholung nach 2008/9 zugrunde liegen. Betrachten wir diesen Zusammenhang näher!

Vor einigen Jahren wies der Wirtschaftswissenschafter und Kolumnist der Financial Times, Martin Wolf, auf das Vorhandensein eines strukturellen Überschusses an Ersparnissen gegenüber Investitionen hin, die aus den Unternehmenssektoren der Länder mit hohem Einkommen stammen. Die Kombination aus starken Gewinnraten [6] und einer Abschwächung der Investitionen als Merkmal der Erholung nach der Krise 2008/9 erklärt die Zunahme des Überhanges der Unternehmensersparnisse. Laut Wolf handelt es sich dabei um ein Phänomen, das das Wachstum des potentiellen Angebots infolge relativ schwacher Investitionen begrenzt, aber auch die Gesamtnachfrage, d.h. die Verbraucher- und Investitionsnachfrage, beeinflusst. Wenn also der Unternehmenssektor unter einem strukturellen Überschuss der Ersparnisse gegenüber den Investitionen leidet, müssen andere Sektoren mit strukturellen Defiziten kompensieren. Abschließend erklärt der Autor, dass der Unternehmenssektor bei schwachen Investitionen und starken Gewinnen überraschenderweise zu einem Nettofinanzierer der Wirtschaft wird. Wie offensichtlich ist, stellt diese Frage einen Zusammenhang zwischen geringen Investitionen und überschüssigen Ersparnissen einerseits und der Entstehung von Schulden andererseits her. In meiner Interpretation hilft dies auch, die gleichzeitige Existenz großer Gläubigerunternehmen und kleinerer Schuldnerunternehmen zu erklären, die die berühmten «Unternehmensschulden» übernehmen.

Wenn die Beziehung jedoch erst einmal aufgewiesen ist, müssen die Gründe gefunden werden, warum ein erheblicher Teil des Gewinns großer Unternehmen in Schulden und nicht in neue produktive Investitionen umgewandelt wird. Meiner Meinung nach steht das Phänomen in engem Zusammenhang mit den knappen Möglichkeiten für neue Investitionen mit einer Gewinnrate, die diese rechtfertigt. Ohne hier auf dieses Thema einzugehen, sei daran erinnert, dass der amerikanische Ökonom Alvin Hansen – ein Berater der Roosevelt- und Truman-Regierung – in den 1930er Jahren zwischen den «kleinen Erholungen», die als Folge der Notwendigkeit des Kapitalersatzes entstehen, und dem, was er als «vollständige Erholung» definierte, die einen großen Kapitaleinsatz in neue Investitionen erfordert, die wiederum die Entwicklung neuer Industrien und neuer Techniken erfordern, unterschied. Die «zukünftige Gewinnrate» – was wir in marxistischen Begriffen die Profitrate für neue Investitionen nennen würden – war nach Hansen das aktive und dominierende Prinzip für diese beiden Arten von Rückflüssen. Es ist davon auszugehen, dass – trotz der außerordentlichen Fortschritte im technologischen Bereich und der weit verbreiteten Propaganda über das Aufkommen einer «vierten industriellen Revolution» – die Dynamik einer «vollständigen Erholung» auf der Grundlage einer «angemessenen» zukünftigen Profitrate das ist, was heute nicht gegeben ist. Die Grenzen der komplementären Beziehungen zwischen China und den Vereinigten Staaten – die damals die Platzierung eines guten Teils des überschüssigen Kapitals des «Zentrums» garantierten – führten ab 2013/14 zu wachsenden Reibungen. Diese Spannungen, die größtenteils durch den Wandel in Chinas Position – vom Empfänger internationalen Kapitals zu einem Konkurrenten um globale Akkumulationsräume – verursacht werden, erklären die abnehmenden Möglichkeiten für die Umwandlung von Profiten in profitable neue Investitionen.

Andererseits muss der Anstieg der Staatsverschuldung aus der Sicht des IWF mit dem wirtschaftlichen Zusammenbruch während der globalen Finanzkrise 2008/9 und den als Reaktion auf diese Krise beschlossenen Maßnahmen in Verbindung gebracht werden – man denke nur an die Bankenrettungsaktionen, die quantitativen Expansionsmaßnahmen, die fiskalische Expansion in geringerem Umfang und die derzeitigen umfangreichen Steuersenkungen. In den «Schwellen-» und «Entwicklungsländern mit tiefem Einkommen» wiederum ist – immer im Sinne des IWF – die Zunahme der Verschuldung eng mit den Auswirkungen des Rohstoffpreisverfalls im Jahr 2014 und der Notwendigkeit eines raschen Ausgabenanstiegs verbunden. Die Agentur betont, dass hohe Staatsverschuldung und Defizite die Fähigkeit der Regierungen untergraben, solide fiskalische Maßnahmen zu ergreifen, wenn sie die Wirtschaft während eines Abschwungs stützen müssen.

Dieses Phänomen der Doppelverschuldung, das sich als eine der wichtigsten Verwerfungen gegen den Auslöser der Coronavirus-Pandemie herausstellt, steht, wie ganz offensichtlich, in engem Zusammenhang mit den Schwächen der Erholung nach 2008/9.

Wenn Wall Street stumm wird…

Wie wir bereits erwähnt haben, vermuten mehrere Analysten, dass der «Bullenmarkt» [8], der die gesamte Periode der Erholung in den Vereinigten Staaten kennzeichnete, zu einem Ende kommen könnte. Tatsächlich hatten die überraschenden Zinssenkungen der Fed und der Bank of England keine Wirkung, da die Erklärung der WHO, dass es sich um eine «Pandemie» handle, die Bewegung an den Aktienmärkten stärker belastete. Auch die EZB und die Bank of Japan (BoJ) versäumten es, geldpolitische Impulse zu geben, obwohl sie zu diesem Zeitpunkt die Zinsen nicht senkten. Wie ein Vermerk von  The Economist hervorhebt, fügt insbesondere die Eurozone den Widerspruch hinzu, dass ihre Wirtschaft kaum wächst, ihre Banken besser als 2008, aber schlechter als die Amerikaner, und die Zinssätze bereits unter Null liegen.

Die Trump-Administration, die im Jahr, in dem die Wiederwahl auf dem Spiel steht, ernsthaft bedroht ist, erklärte den «nationalen Notstand», indem sie mehr Bundesmittel zur Bekämpfung des Coronavirus freigab und gleichzeitig eine Vereinbarung mit den Demokraten im Kongress über ein Konjunkturpaket vorlegte. Als Reaktion auf die Ankündigungen zeigten die Aktienmärkte am Freitag eine deutliche Erholung. In der Zwischenzeit erklärte die WHO, wie ein Artikel der New York Times  betont, Europa zum «Zentrum der Pandemie», und Beamte der Europäischen Union kündigten an, dass sie den Mitgliedsländern erlauben würden, ihre Haushaltsdefizite zu erhöhen, um das Wirtschaftswachstum anzuregen. Frankreich und Deutschland berichteten über ihre eigenen Konjunkturprogramme, und Italien könnte dies auch tun. Um die Prognose der Krise zumindest für die unmittelbare Zukunft zu bewerten, muss man berücksichtigen, dass in gewisser Weise eine Art Wettlauf zwischen der Kapazität und Qualität der Impulse einerseits und dem Voranschreiten der Pandemie andererseits stattfindet.

Gleichzeitig wird vor dem Hintergrund der getrübten internationalen Beziehungen ein virtuelles Treffen der G7 einberufen, um die Situation und die zu ergreifenden Maßnahmen zu diskutieren. Es ist klar, dass im gegenwärtigen Kontext jede Koordinierung zwischen den Staaten – die insbesondere während der so genannten «Euro-Krise» von 2010/12 [9] bereits äußerst mühsam war – ein viel komplexeres Ziel sein wird, das es zu erreichen gilt. Es gibt bereits Symptome dafür, wie etwa Merkels Empörung über die Entscheidung von Trump, Flüge ohne auch nur eine Warnung nach Europa auszusetzen, oder der jüngste Tweet eines Diplomaten in Peking, dass die US-Armee den Coronavirus-Ausbruch in China eingeschleust hat. Die «wirklichen» Aktionen werden aber letztlich auch an der Entwicklung und dem Ernst der Situation gemessen werden.

Eines der großen Dilemmas ist, dass ohne das rasende Tempo der Wall Street die schwachen «Grundlagen» der US-Wirtschaft sicherlich aufgedeckt werden. So wie das Wachstum des fiktiven Kapitals letztlich von einer gewissen Dynamik in der Realwirtschaft abhängt, dürfte eine Realwirtschaft mit schwachen Fundamentaldaten ihre rezessiven Tendenzen ohne den Impuls der ersteren auslösen. Ein Teil davon war auf internationaler Ebene zu beobachten, als die Vereinigten Staaten begannen, die geldpolitischen Stimuli zurückzufahren, und China, wie oben erörtert, auf einen niedrigeren Wachstumspfad einschwenkte. Die Beinahe-Rezession von 2016 soll dies beweisen. Wenn Trump hingegen mit einem «Plan» zur Anhebung der Zinssätze in die Regierung eintrat, dann veranlasste er schließlich die Fed, diese zu senken und die US-Wirtschaft an den Ventilator der Steuersenkungen zu hängen. Zwei Drittel des Kapitals, das in die USA zurückkehrte, um von diesen Anreizen zu profitieren, war für Aktienrückkäufe bestimmt. Obwohl die Steuersenkungen die Reaktivierung des Konsums förderten, trugen die fortgesetzte Schaffung von Arbeitsplätzen schlechter Qualität und ein sehr geringes Investitionswachstum nicht zur Erholung der wichtigsten Strukturvariablen der US-Wirtschaft bei. Die US-Wirtschaft hängt von einem sehr qualitativen Teil des Aktienmarktes ab; und da die chinesische Wirtschaft sehr schwach ist, gibt es keinen Zweifel daran, dass die Risiken für die Weltwirtschaft erheblich sind. Wir werden sehen.

FUSSBEMERKUNGEN

1] Wir entlehnen diesen Begriff von David Harvey, ungeachtet des breiten und komplexen Inhalts, den der Autor ihm gibt. Siehe : Harvey, David, Marx, El capital y la locura de la razón económica, Buenos Aires, Akal, 2019.

2] Obwohl sich der Kursanstieg der Anleihen in den ersten Tagen des Schocks bestätigte, bewegten sich die Kurse von Aktien und Anleihen in den letzten Tagen in die gleiche Richtung. Einige Analysten halten diese Bewegung für ein seltsames Phänomen, das auf die fehlende Liquidität zurückzuführen sein könnte. Siehe: „Irwin, Neil, an der Wall Street passiert etwas Seltsames, und nicht nur der Ausverkauf der Aktien“, New York Times, 3.12.2020.

3] Für eine Erklärung siehe Bach, Paula, Reflexiones sobre la “guerra comercial”, la economía mundial y sus derivaciones latinoamericanas, Weekly Left Ideas, 8-12-19.

4] Siehe: Tooze, Adam, Crashed. How a Decade of Financial Crises Changed the World, New York, Viking, 2018.

5] Bach, Paula, a.a.O.

6] Dieser Begriff der «Gewinnrate» entspricht offensichtlich nicht dem marxistischen Konzept der Profitrate.

7] Siehe Bach, Paula, a.a.O.

8] Im Börsenjargon wird der Bullenmarkt als «Haussenmarkt» bezeichnet.

9] Siehe, Tooze, Adam, a.a.O.

Quelle: laizquierdadiario.com… vom 18. März 2020; Übersetzung durch Redaktion maulwuerfe.ch

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