Die Unternehmungssteuerreform und der Streik in Genf
Im Folgenden geben wir den Text des Mobilisierungsflugblattes des ssp-vpod Genève für den Streik im öffentlichen Dienst in Genf vom 10. bis 12. November 2015 wieder. Der Text stammt vom Streikführer Paolo Gilardi, Gymnasiallehrer in Genf und Leitungsmitglied des ssp-vpod.
Der Streik fand eine grosse Beteiligung. Im Schulbereich streikten an den Spitzen 100 % der Lehrerinnen und Lehrer, was einen positiven Rekord darstellt, währenddessen in gewissen administrativen Bereichen nur ca. 10 % mittaten. Im Bildungsbereich haben sich durchschnittlich etwa 75 %, im Sozialbereich etwa 2/3 beteiligt und selbst bei der Polizei fand der Streik bemerkenswerten Anklang. Umso schwieriger erwies sich hingegen die Durchsetzung der Streikparole im Gesundheitssektor, wo per Gesetz die Gewährleistung eines minimalen Services gilt.
Der Entscheid zur Einstellung des Streiks am Donnerstagabend sollte der Regierung Zeit geben, sich aufgrund der starken Bewegung eines anderen zu besinnen und in Verhandlungen einzutreten – immerhin zählte die Manifestation vom Donnerstagabend anlässlich der Aufhebung des Streiks immer noch gegen 10´000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Sollte dies nicht eintreten, wird der Streik am 1. Dezember fortgesetzt. Einzig eine neue Personalversammlung, die am 25. November zusammentreten wird, könnte auf eine solche Neuaufnahme der Kampfaktionen verzichten. Bis dann sollen sektorielle Störaktionen den Kampf auf tieferer Eskalationsstufe weiterführen.
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Paolo Gilardi. Fünfundzwanzig Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer stösst die immer grössere Unverschämtheit der Liberalisierer und Liberalisiererinnen an die Mauern der Realität der Krise von 2008 und des Widerstands der Lohnabhängigen im öffentlichen Sektor. Dabei wäre beides vorhersehbar gewesen.
Regieren heisst vorhersehen
Die Regierung hat die Inkraftsetzung des Gesetzes zur Unternehmersteuerreform (USR) deutlich vorhergesehen, eines Gesetzes, das sie leidenschaftlich verteidigt und …. das noch gar nicht existiert, das jedoch 2018, das heisst in weniger als in drei Jahren, inkrafttreten sollte. Worum geht es?
Es geht um die kantonale Umsetzung der Unternehmungssteuerreform III, die momentan in den eidgenössischen Räten diskutiert wird. Die Reformen der Regelungen zur Besteuerung von Unternehmen erfolgt auf Druck der Europäischen Union, wobei die Schweiz die steuerliche Privilegierung von multinationalen Konzernen gegenüber «einheimischen» Unternehmen abschaffen muss.
Deshalb wird das im Genfer Parlament ausgearbeitete Gesetz diese Regelungen abschaffen und die Unternehmensgewinne nach dem Gleichheitsprinzip besteuern. Denn es ist Sache der Kantone, ihre Steuergesetze gemäss der Unternehmenssteuerreform umzubauen.
So hat denn die Genfer Regierung schon seit 2013 bei mehreren Gelegenheiten ihre Absicht bekundet, einen einheitlichen Steuersatz von 13 bis 13,5 % einzuführen. Gegenwärtig liegt dieser für ausländische multinationale Unternehmen bei 11 % und bei 24 % bei lokalen Unternehmen.
Gemäss dem kantonalen Finanzdepartement und der Finanzkommission des eidgenössischen Parlamentes würde die Einführung der neuen Steuerregelung gemäss der Unternehmenssteuerreform zu jährlichen Steuerausfällen von 500 bis 700 Million Franken führen, während andere Kreise in Bern eher von bis zu einer Milliarde ausgehen.
Zum Vergleich weisen wir auf das kantonale Budget von 2014 hin, das 639 Millionen Franken für Investitionen vorsieht, wobei das Gesamtbudget gegen acht Milliarden Franken liegt. Ein Verlust dieser Grössenordnung käme also einem Verzicht auf die Investitionen im Bildungsbereich, in der Gesundheit, den Strassen, dem öffentlichen Verkehr etc. gleich, oder 7,5 % des kantonalen Budgets!
Der Kanton Genf würde sich demzufolge ab 2018 mit einem um mindestens 7,5 % reduzierten Budget abfinden müssen, dem Datum der Einführung der USR auf kantonaler Ebene, einer Reform, die von den Brutstätten der bürgerlichen Propaganda, wie etwa der Tribune de Genève, als …. unausweichlich aufgebaut wird.
Und dieser in seinen Mitteln beschnittene Staat soll auf jeden Fall gleichviel leisten, sofern es sich nicht um Aufgaben von öffentlichem Nutzen handelt. So kann man zu Recht annehmen, dass, entgegen gewissen beruhigenden Beteuerungen, die sozialen Bedürfnisse anwachsen werden. Die Bevölkerung wird älter werden und dies wird mehr Pflege und mehr medizinische Betreuung erfordern, während auf der anderen Seite die schulpflichtige Bevölkerung ebenfalls anwachsen wird; gleichzeitig wird die Nachfrage nach dem öffentlichen Verkehr zunehmen, ohne mal auf die dringlichen Erfordernisse des Umweltschutzes zu sprechen zu kommen.
Der seiner Mittel beraubte Staat sollte also mehr Aufgaben übernehmen. Offensichtlich legt diese Logik eine Verschlechterung der öffentlichen Dienstleistungen nahe; damit wird eine wichtige materielle Voraussetzung geschaffen für die Entstehung von privaten und kostenpflichtigen Schulen und Kliniken.
Und genau dies ist der Sinn der Teilnahme der Schweiz an den Verhandlungen am TiSA-Abkommen (Trade in Services Agreement). Dieses internationale Abkommen zielt auf die vollständige Marktöffnung der Dienstleistungen für private Anbieter und verpflichtet die Staaten zu einer absoluten Neutralität zwischen öffentlichem und privatem Sektor. Diese ökonomische Neutralität würde zum Beispiel bedeuten, dass ein privater Anbieter von Masterlehrgängen in Genf die gleichen Rechte auf öffentliche Unterstützung hätte, wie die Universität von Genf. Oder dass eine private Schule eine steuerliche Entlastung in der Höhe der einheitlichen Einschulungskosten an den öffentlichen Schulen geltend machen könnte.
Verhindern wir eine soziale Krise!
Dabei wird der übergrosse Teil der Bevölkerung keinen Zugang zu diesen kostenpflichtigen Dienstleistungen haben. In diesem Sinne sieht der Staat vor, dass das Staatspersonal angesichts der fehlenden Hunderte von Millionen Franken gleichwohl die Verantwortung übernimmt und fortan statt 40 Wochenstunden 42 arbeitet. Wohlverstanden, ohne eine entsprechende Lohnerhöhung.
Im gleichen Sinne möchte der Staat und seine Regierung die Arbeit im öffentlichen Sektor intensivieren und sieht dafür eine Ausdehnung der Teilzeitanstellungen vor. Zudem fährt er einen Angriff auf die Löhne, indem die Bindung der Lohnentwicklung an die Berufserfahrung abgeschafft wird und die Einstiegslöhne gekürzt werden. Im gleichen Sinne wird die Zahl der Stellen gekürzt. All diese Massnahmen sollten die sogenannten «Personalkosten» senken.
Die Regierung verdammt uns also dazu, mehr und intensiver, bei blockierten und teilzeitigen Löhnen zu arbeiten. All dies, bei einer Flexibilisierung der Arbeitsbedingungen, das heisst einer Erleichterung von Entlassungen beispielsweise von denjenigen, die dagegen Widerstand leisten wollen.
Gebt denjenigen, die schon haben – nämlich den Reichsten
Das öffentliche Personal wird also zum Opferaltar geführt, um ein Steuergeschenk von mindestens 500 Millionen Franken an die Reichsten zu finanzieren. Mit anderen Worten geht es also darum, die Taschen derjenigen zu plündern, die arbeiten, um die Taschen derer zu füllen, die ihr Geld arbeiten lassen.
Aus diesem Grunde wird der Kampf der nun einsetzenden Bewegung in dem Masse besonders hart und schwierig werden, als es dabei nicht um die ideologische Gehässigkeit einiger Politiker und Politikerinnen gegen das Personal geht, sondern um Hunderte von Millionen in barer Münze.
Und es liegt auf der Hand, dass wir einer grenzenlosen Offensive der Medien gegenüberstehen werden, und dass diese auf eine erprobte Erpressung mit Arbeitsplätzen setzen wird. So hat der ehemalige kantonale Finanzminister, der Grüne David Hiler, bereits den Teufel an die Wand gemalt mit dem Argument, dass jede Erhöhung der Unternehmenssteuern über 13,5 % zur Auslöschung von etwa 50´000 Arbeitsplätzen führen würde.
Eine absolut unhaltbare Behauptung, da sie sich auf keinerlei Daten abstützen kann. Vielmehr ist diese Geschichte der 50´000 verlorenen Arbeitsplätze auf nichts als Lügen gebaut. Da sie jedoch immer wieder widerspruchslos wiederholt wird, wird sie letztendlich …. wahr. Dann erkläre man uns mal, weshalb in den USA, wo die Gewinne der Unternehmen fix mit 45 % besteuert werden, ein wenn auch sehr beschränktes Stellenwachstum stattfindet; oder weshalb Deutschland als die Wachstumslokomotive Europas, dies trotz eines Steuersatzes auf Gewinnen von über 50 % sein kann!
Ein Kampfverzicht käme von Anfang an einer Niederlage gleich
All dies zeigt, dass der Kampf, den wir nun vorbereiten, alles andere als ein Sonntagsspaziergang wird. Vor uns rüsten sich die Kräfte des Geldes, die zusätzlich zu den finanziellen Mitteln über die Labors der Propaganda verfügen.
Unser einziger Trumpf im Rahmen dieser ungünstigen Kräftekonstellation besteht in unserer Mobilisierungsfähigkeit und unseren Möglichkeiten, eine Bewegung aufzubauen. Sind wir in der Lage, die Regierung zum Rückzug zu zwingen? Nichts ist im Voraus gewonnen, ausser, dass wir, falls wir nicht kämpfen, immer mehr und länger arbeiten müssen und dafür weniger verdienen und mit der beständigen Drohung im Nacken, dass wir den Arbeitsplatz verlieren.
Und dies ist der Grund, und sei er denn der einzige, dass wir ab dem kommenden Dienstag den 10. November möglichst breit in den Streik treten müssen. Dabei ist uns klar, dass wenn wir ab dem ersten Tag zahlreich sind, die Chancen grösser sind, dass wir nicht wochenlang streiken müssen …
Tags: Arbeitskämpfe, Freihandel, Gewerkschaften, Service Public, Widerstand
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