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Chile: Ein Rückblick auf ein Jahr Revolte

Eingereicht on 20. Oktober 2020 – 10:18

Mark Turm. Vorgestern war der 18. Oktober, Jahrestag der Revolte in Chile. Während in einer Woche ein Plebiszit stattfindet, um die Bewegung in ruhige Bahnen zu lenken, gehen über 100.000 Menschen alleine in Santiago auf die Straße. Wie kam es dazu und was sind die Perspektiven?

 

Am 6. Oktober 2019 empfahl eine sog. „Expertengruppe für den öffentlichen Verkehr“ eine erneute  Erhöhung der Fahrpreise für die U-Bahn in Santiago, vor allem in den Stoßzeiten.

Die Lunte fing an zu brennen. Daraufhin zogen tagtäglich Tausende Schüler:innen durch die Straßen, sprangen über die U-Bahn-Schranken mit dem Ruf „Umgehen, nicht bezahlen, ist eine andere Form des Protestes“ und animierten andere Nutzer:innen es ihnen gleich zu tun. Die Polizeirepression gegen die Schüler:innen war brutal, selbst in U-Bahn-Waggons wurden Jugendliche in Schuluniformen vor laufender Kamera gefoltert. Sie ließen sich jedoch nicht einschüchtern und zogen weiter. Bis dahin blieb der Protest jedoch weitgehend auf die Schüler:innen beschränkt. Am Mittwoch, dem 16. Oktober, nachdem die Regierung die Anhebung der Preise offiziell angekündigt hatte, hat Clemente Pérez, ehemaliger U-Bahn-Chef unter der ersten Regierung von Michelle Bachelet in einem Fernsehinterview einen Satz ausgesprochen, der in Erinnerung geblieben ist: „Cabros [Jungs], dies hat nicht gezündet“, in Anspielung auf die Proteste der Schüler:innen. „Sie haben keine Unterstützung in der Bevölkerung, nicht einmal auf Twitter gibt es so viel Unterstützung“, analysierte er die Lage und orakelte die Zukunft. Dies entsprach im Wesentlichen der Analyse der Lage der Bourgeoisie und ihre parlamentarischen Vertreter:innen innerhalb der Regierung sowie in der Opposition.

Zwei Tage später und aufgrund der anschwellenden Proteste, denen sich immer mehr Menschen anschlossen, wurde der U-Bahn-Dienst in ganz Santiago nach und nach eingestellt. Die Bombe war geplatzt. Hunderttausende, wenn nicht eine Million Menschen mussten nun auf Wunsch der Regierung den langen Weg nach Hause entweder mit dem Taxi oder zu Fuß machen, denn auch Busse fuhren immer seltener, da sich der Protest wie ein Lauffeuer ausbreitete, auch auf andere Teile des Landes.

In der Nacht zum Samstag, dem 19. Oktober 2019, verhängte Präsident Sebastián Piñera eine Ausgangssperre und den Ausnahmezustand für den Großraum Santiago. „Wir befinden uns im Krieg mit einem mächtigen, skrupellosen Feind.“, sagte Piñera während  einer Fernsehansprache am Abend des 20. Oktobers. Die Bourgeoisie hatte realisiert, dass der Protest doch gezündet hatte, und mobilisierte ihre Schergen, um den Protesten Herr zu werden. Militärs und Polizei machten die Straßen unsicher.  Sie zogen durch die Straßen, legten Brände, schossen um sich, mordeten und plünderten. Die „Demokratie“, die die verschiedenen christdemokratischen und sozialistischen Regierungen verwaltet und mitgestaltet hatten, wurde über Nacht zu einer zivilmilitärischen Diktatur.

Die Opposition verleiht der Regierung Legitimation 

So sah sich die ehemalige chilenische Präsidentin Michelle Bachelet in ihrer Eigenschaft als UN-Hochkommissarin für Menschenrechte gezwungen, am 21. Oktober in einer Erklärung Präsident Piñera dazu aufzufordern, den „Dialog“ nach den Protesten zu eröffnen, da bis dahin bereits elf Menschen von den Repressivkräften ermordet wurden. Gleichzeitig bat sie darum, dass die Demonstrant:innen „friedlich auf die Straße“ gehen sollen. Die Situation müsse erst mal beruhigt werden, um anschließend eine staatstragende „Lösung“ zu finden. Die soziale Explosion zeigte die Grenzen der staatlichen, gewerkschaftlichen und studentischen Vermittlungsinstanzen auf, die sich in der Vergangenheit bewährt hatten. Das erklärte Ziel der Regierungskoalitionen zwischen Christdemokrat:innen, „Sozialist:innen“ und „Kommunist:innen“ — eine wahre Koalition der Ordnung und der sozialen Zurückhaltung — war es, zu handeln, den „institutionellen Verfall“ und dabei „große sozialen Explosionen oder Regierungskrisen“ aufzuhalten. Die Strategie der Eindämmung des sozialen Protestes, die von der Concertación und der Nueva Mayoría (einschließlich der Kommunistischen Partei Chiles) bis dahin einigermaßen erfolgreich implementiert worden war, war am Ende. Die politischen Kosten für sie waren jedoch groß. Der Protest hatte einen spontanen, selbstorganisierten Charakter eingenommen. 

Grenzen der Spontanität

Die Jugendlichen und die Menschen auf die Straßen folgten keiner der politischen Führungen, ihr Protest konnte nicht mehr in die ruhigen, aber stinkenden Gewässern des Parlamentarismus gelenkt werden; die studentischen Bürokratien, die bis dahin erfolgreich demobilisiert hatten – schließlich ist es kein Produkt des Zufalls, dass die Avantgarde der Bewegung von den Schüler:innen und nicht von den Studierenden gebildet wurde — sahen, wie immer mehr Studierende sich dem Protest anschlossen, der Gewerkschaftsdachverband Chiles (CUT), angeführt von der KP, spürte den steigenden Druck der Basis. Deshalb rief sie am 12. November zum Generalstreik auf. Jedoch nicht um den Protest zu vertiefen bis die Regierung fällt, sondern um den Druck von unten entweichen zu lassen, und somit günstige Bedingungen zu schaffen, um sich an den Verhandlungstisch zu setzen. So unterzeichneten verschiedene politische Parteien aus Regierung und Opposition (Evópoli, P. Comunes, PDC, PL, PPD, PR, PS, RD, RN, UDI) ein  sogenanntes „Übereinkommen für den sozialen Frieden und die neue Verfassung“. Sowohl die kommunistische Partei als auch die FREVS (Federación Regionalista Verde Social) blieben dem Abkommen fern. 

Der Spontaneismus der Massen hatte Grenzen, die nun offensichtlich wurden. Denn ohne eine Führung, die bereit war, den Prozess in den Straßen, Schulen, Universitäten und Betrieben zu vertiefen, die bereit ist, den Sieg gegenüber der herrschenden Klasse zu erkämpfen, konnten sich die vorhandenen Führungen wieder an die Spitze drängen, und somit zu legitimationsstiftenden Instanzen der Regierung, und somit des Regimes, von dem sie auch organischer Teil sind, werden. 

Einigung zwischen Regierung und Opposition

Die Massen zogen weiterhin Woche für Woche auf die Straßen. Jedoch angesichts der Abwesenheit einer starken politischen Führung, die ihre Interessen vertrat, verschob sich allmählich der Gravitationspunkt von der Straße auf den verhassten Verhandlungstisch. Die Massen wollten den sofortigen Rücktritt von Piñera, sie kämpften für eine Verfassungsgebende Versammlung, ihre Führungen handelten jedoch einen Kompromiss mit der Regierung aus, die mit dem Blut der Gefangenen, Verletzten und Ermordeten unterschrieben wurde. Statt einer Verfassungsgebenden Versammlung bekamen sie einen Plebiszit, von dem alle mit gewerkschaftlichen Ämtern, alle sozialen Kämpfer:innen, alle Jugendlichen unter 18 Jahren ausgeschlossen sind. Man möge sich dies nur vorstellen: Diejenigen, die den größten Blutzoll bezahlt haben, die den Protest initiiert und am Leben gehalten haben, werden nun einfach aus dem Prozess ausgeschlossen. Dann kam Corona, die Kontakt- und Ausgangssperre, die Militärs in den armen Vierteln. Der Protest ging zurück, die herrschende Klasse und die Opposition atmeten auf. So hätte es für sie weiter gehen können, um nach dem Plebiszit weitere faule Kompromisse hinter dem Rücken der Menschen auszuhandeln. 

Der Kampf: Aufgeschoben, nicht aufgehoben

Die Pandemie und die Abwesenheit einer Führung für den Sieg ermöglichten der Regierung den Protest von der Straße zu drängen. Zwei Wochen vor dem Plebiszit schien der von der Regierung und der Opposition ausgehandelte Plan, der die Zustimmung der CUT und KP genießt, nach Plan zu verlaufen. Jedoch wurde der Protest nur aufgeschoben, nicht besiegt. Davon zeugen die großen Demonstrationen zum Internationalen Frauenkampftag am vergangenen 8. März. Damals gingen weit mehr als eine Million Frauen (und Männer) auf die Straßen, um zu betonen, dass das Problem nicht die Regierung war, sondern das ganze Regime, ja der Kapitalismus, wie die Performance von Las Tesis „Der Vergewaltiger bist du!“, in der ein bekannter Slogan der chilenischen Polizei aufgegriffen wurde („Ein Freund auf deinem Weg“), der an das aus der Nazizeit stammende Motto „Die Polizei, dein Freund und Helfer“ erinnert. Chilenische Frauen zogen vor Polizeiwachen um gegen die strukturelle Gewalt an Frauen zu demonstrieren, die vom Staat nicht geschützt werden, von der Polizei kriminalisiert und vergewaltigt werden, was zuhauf dokumentiert ist. Es waren überwiegend Schülerinnen, die den Protest losgetreten hatten. Es sind auch Frauen, die im Stillen eine soziale Katastrophe während der Pandemie verhindert haben. Als die Pandemie losging erlaubte die Regierung den Unternehmern ihre Beschäftigten ohne Lohnfortzahlung nach Hause zu schicken, also in die Arbeitslosigkeit ohne Geld zu schicken. Millionen Menschen mussten entweder auf ihre Ersparnisse, wenn vorhanden, zurückgreifen oder schlicht hungern. Um diese Situation zu überbrücken, organisierten Frauen selbstverwaltete Armenküchen, die in den Armenvierteln sprunghaft wuchsen. Es waren sie, diejenigen, die die Kämpfer:innen aus der ersten Reihe all diese Monaten über die Runden brachten, damit sie den Kampf fortsetzen können, denn wie es in verschiedenen Volksküchen zu hören war: „schlecht ernährte Kämpfer:innen können nicht gut kämpfen.“   

Entstehung einer Alternative

Nun, die Bourgeoisie und ihre Parteien bereiten die rechtlichen Weichen für die nächsten 30 Jahre vor. Sie werden alles dafür tun, dass die wesentlichen Aspekte der jetzigen Verfassung, unter der Diktatur Pinochets eingeführt, und von der Concertación und der Nueva Mayoría (angeführt von der KP Chiles) „perfektioniert“ werden. Nun läuft die Suche nach Kandidat:innen für die Zeit nach dem Plebiszit. Mit am Start alt- und neubekannte Vertreter:innen der Interessen der herrschenden Klasse Chiles, wie Magdalena Piñera, Tochter des amtierenden Präsidenten Sebastián Piñera, die das Land mit ihren „Vorstellungen“ mitgestalten will. Aus dem linksreformistischen Spektrum, mit der Frente Amplio und der KP, werden verschiedene Namen genannt, Boric für die FA, Daniel Jadue für die KP. Was aber signifikant hierbei ist, dass sie sich alle darin einig sind, dass der Protest in den Straßen entweder schädlich für den Prozess ist (Rechte und FA) oder, wenn schon, friedlich entfalten soll (KP). 

Die kämpfende Jugend, die Erste Reihe, will aber lieber sterben als weiterhin dieses System weiterhin zu ertragen. Gemeinsam mit anderen Sektoren im Kampf, wie die Beschäftigte des Gesundheitssektor, Sie wollen tiefgreifende strukturelle Lösungen jetzt, nicht am Sankt Nimmerleinstag erhalten. Die von der Sozialdemokratie und der KP versprochene „Freude“ nach der Militärdiktatur war ja ein Reinfall, deren Auswirkungen die Arbeiter:innen und das arme Volk ausbaden müssen. 

Nun haben Beschäftigte im Gesundheitswesen, in der Industrie, Lehrer:innen, Universitätsstudierende und Gymnasiasten, politische und soziale Organisationen sowie linke Organisationen das „Nationale Kommando für eine freie und souveräne Verfassungsgebende Versammlung“ ins Leben gerufen. In einer gemeinsamen Aktion in drei Regionen gleichzeitig startete die Bewegung ihre Kampagne, um die Bürger:innen in die Lage zu versetzen, ihre Wahl einer verfassungsgebenden Versammlung als Verfassungsorgan einer möglichen neuen Grundrechtscharta zum Ausdruck zu bringen. Das Ziel ist es, einen Block gegen die Parteien des Friedenspakts und der Regierung Piñera zu bilden. Denn diese haben sich zusammengetan, um einen neuen Pakt zur Rettung der repressiven Regierung von Piñera zu beschließen. Sie führen dazu einen falschen Verfassungsprozess im Rahmen eines politischen Regimes durch, das darauf abzielt, oberflächliche Änderungen vorzunehmen, damit sich nichts ändert. Wie der Sprecher des Kommandos und Mitglied der PTR, Dauno Tótoro, es zum Ausdruck bringt, „(…) wir betonen, dass dieser konstituierende Prozess eine Reihe von Hindernissen, Einschränkungen hat, die die traditionellen Parteien zu denjenigen machen, die ihn kontrollieren, und am Ende werden sie entscheiden. Wie kann es sein, dass nicht die Menschen, die die Toten, die Verwundeten, die Gefolterten, ja sogar die Gefangenen stellen, sondern die Rechten, die den Befehl zur Repression gaben, oder diejenigen, die keinen Fuß auf die Straße zu setzen konnten oder vermochten, wie es in diesem Fall der Fall ist, die Opposition, entscheiden werden?“

Das Kommando hatte als eine von wenigen Organisationen dazu aufgerufen, am 3. Oktober zu der ersten Kundgebung am emblematischen „Platz der Würde“ zu demonstrieren, die erste Demo nach der gewaltigen Frauendemonstration vom 8. März. An jenem Tag war die Antwort der Polizei brutal, wie die Bilder eines von der Polizei ins Flussbett des Mapocho-Flusses geworfenen Jugendlichen zeigen. Sie sind die einzige Instanz, die am Jahrestag der Revolte zu einer Demonstration am zentralen „Platz der Würde“ ausgerufen hat. 100.000 mobilisierten sich gestern alleine in Santiago de Chile. Sie tappen dabei nicht in die Falle der Rechten, die darin besteht, zwischen friedlichen und gewalttätigen Demonstranten zu trennen, wie es leider Daniel Jadue (KP) gemacht hat, der in einem Interview die Gewalt bei Demonstrationen verurteilte: „Ich hoffe, dass die Bürger:inne demonstrieren können, dass es völlig friedlich ist, und dass es uns allen gelingt, die Gefahr der Gewalt zu erkennen und sie zu verurteilen, und ich verurteile sie mit absoluter Klarheit. Wir müssen uns fragen, wem die Gewalt dient, wer sie finanziert“, behauptete er.

Angesichts des zwischen dem rechten Flügel und der parlamentarischen Opposition unterzeichneten Friedensabkommens, dessen Ziel es ist, nach dem kommenden Plebiszit am 25. Oktober alles dabei zu belassen, wie es ist, präsentiert sich das Kommando also als eine dritte Option der Ausgebeuteten und Unterdrückten. Die Sektoren, aus denen es sich zusammensetzt, stellen eine Alternative im Verfassungsprozess dar. Nur sie werden weiterhin für den sofortigen Rücktritt von Piñera und für die Bestrafung der Verbrecher bei den Repressivkräften kämpfen, indem sie die Fallen der Regierung und der Regimeparteien (samt „Opposition“) aufdecken und dazu aufrufen, den Kampf für die sozialen Forderungen mittels Generalstreik und breite Mobilisierungen in Betrieben, Bildungseinrichtungen und Straßen wieder aufzunehmen, um das Erbe der Diktatur endgültig zu beenden.

Quelle: klassegegenklasse.org… vom 20. Oktober 2020

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