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Verfaulender Kapitalismus und globale Krise

Eingereicht on 21. Mai 2021 – 16:57

Murray Smith, Jonah Butovsky und Josh Watterton. Anmerkung der Autoren: Der folgende Text ist eine Adaption des ersten Kapitels aus unserem Buch Twilight Capitalism: Karl Marx and the Decay of the Profit System (Fernwood Publishing, 2021)

Der gesellschaftliche Umbruch von 2020-21 könnte durchaus einen wichtigen Wendepunkt in der Weltgeschichte markieren. Der globale Covid-19-Gesundheitsnotstand und der damit verbundene wirtschaftliche Einbruch haben weitreichende soziale und politische Auswirkungen. Schon vor dem Ausbruch der Pandemie befand sich die Weltwirtschaft am Rande einer schweren Rezession nach einer langen, aber bemerkenswert lauen Erholung von der Grossen Rezession von 2008/09 – sowie nach mehreren Jahrzehnten des langsamen Wachstums, von Sparmassnahmen und anhaltenden Rentabilitätsproblemen des produktiven Kapitals. Das heisst, die einsetzende Rezession wurde durch (vollständige oder teilweise) staatlich verordnete Schliessungen vieler Industrien, von staatlichen Dienstleistungen und kleiner Unternehmen befeuert. Das Ergebnis war ein Niveau der globalen Arbeitslosigkeit und eine wirtschaftliche Kontraktion, die mit der Grossen Depression der 1930er Jahre vergleichbar ist.

Wie sollen wir diese «kombinierte» globale Krise von 2020-21 interpretieren? Von wenigen Ausnahmen abgesehen, ist die die Antwort der grossen Massenmedien, der Fach- und Führungskräfte, der politischen Eliten und der meisten Ökonomen bemerkenswert einheitlich. In Übereinstimmung mit den meisten hergebrachten Darstellungen der Probleme der Menschheit, wird die Betonung auf natürliche Phänomene gelegt (das plötzliche und «mysteriöse» Auftauchen eines ungewöhnlich infektiösen und heimtückischen Virus) zusammen mit den bewussten (Fehl-)Entscheidungen und Handlungen von Individuen (Medizinern, Politikern, Wirtschaftsführern, Politikern und Journalisten in den Massenmedien) als Reaktion auf dieses Virus, während die entscheidende Rolle mächtiger gesellschaftlicher Kräfte, die sowohl die Form als auch das Ausmass der Krise ausgelöst, ausgenutzt und bestimmt haben, heruntergespielt oder noch häufiger verschwiegen wird.

Gegen diesen oberflächlichen und absichtlich vereinfachenden Ansatz muss eine ernsthafte Erklärung der Krise eine wissenschaftliche Kritik der sozialen Bedingungen beinhalten, die das Auftauchen des Virus und die Pandemie hervorgerufen und begünstigt haben. Denn so wie der Gesundheitsnotstand von Covid-19 dem wirtschaftlichen Abschwung, auf den die Weltwirtschaft bereits im Jahr 2019 zusteuerte, eine definitive Form und Tiefe gab, trugen die grundlegend antagonistischen und ungerechten sozialen Beziehungen, die den Kapitalismus in seinem Kern ausmachen, entscheidend zu Entstehung, Verlauf und Folgen der Pandemie bei.

Nach Ansicht führender medizinischer Autoritäten und Epidemiologen ist die signifikante Todesrate von Covid-19 – gemessen als «Übersterblichkeit» relativ zur durchschnittlichen Sterblichkeitsrate der letzten Jahre – bei durch das Vorhandensein von «Komorbiditäten» oder «zugrundeliegenden Vorerkrankungen» wie Lungenerkrankungen, Immunschwächen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes, Bluthochdruck und Krebs – eine durchaus sinnvolle Beobachtung. Aber solche medizinisch diagnostizierbaren Morbiditäten sind aber keineswegs die einzigen «Vorerkrankungen», die bei dem Versuch, die Ursachen der Pandemie zu verstehen, berücksichtigt werden müssen, um die Wurzeln der Pandemie, ihre ungleichmässige Ausbreitung und die von ihr ausgelöste globale Wirtschaftskrise zu verstehen. Ernsthafte Aufmerksamkeit muss vor allem den sozialen und sozioökonomischen Bedingungen und Zusammenhängen geschenkt werden, in denen sich ungesunde individuelle Verhaltensweisen entwickeln und damit Bedrohungen für die Gesundheit und das Wohlbefinden ganzer Bevölkerungen entstehen können.

Unter Berücksichtigung der vielen Determinanten der Bevölkerungsgesundheit, die von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und einer Legion anderer Experten seit langem hervorgehoben werden, können die folgenden Faktoren zum Überhandnehmen menschlicher Sterblichkeit im Allgemeinen beitragen (definiert als Krankheiten oder Behinderungen, die eine Abweichung von einem «Normalzustand» darstellen). Dies gilt insbesondere auch für die Bedingungen, die die Ausbreitung des SARS-CoV-2-Virus begünstigten:

  • Steigende Einkommens- und Vermögensungleichheit,
  • unzureichende Investitionen in die allgemeine öffentliche Gesundheitsversorgung,
  • die Knappheit und Kostspieligkeit von gehaltvollen Lebensmitteln und das damit verbundene Überhandnehmen von sowohl Hunger als auch von Fettleibigkeit,
  • verfallende oder unzureichende soziale Infrastruktur (einschliesslich Krankenhäuser, kommunale Kliniken, Langzeitpflegeeinrichtungen und Intensivstationen),
  • ungesunde städtische Umgebungen (einschliesslich baufälliger und von Ungeziefer befallener Wohnungen, einem Ungezieferbefall, ein Mangel an frischen Lebensmitteln, Grünflächen und öffentlichen Erholungsgebieten),
  • Arbeitsplätze, die körperliche und psychische Belastungen für die Lohnabhängigen darstellen (u. a. die Wahl zwischen dem Erscheinen zur Arbeit bei Krankheit und dem Verlust des notwendigen Einkommens),
  • politische Führung, die auf die Maximierung von Unternehmensgewinnen ausgerichtet ist, anstatt die Gesundheit und das Wohlbefinden der arbeitenden Menschen zu fördern (z. B. die verhängnisvollen Entscheidungen der Regierungen der USA und Grossbritanniens im Februar/März 2020, der weiteren Aufwärtsbewegung der Aktienmärkte Priorität einzuräumen) anstatt schnell zu handeln, um die Ausbreitung des Coronavirus einzudämmen, z.B. durch umfangreiche Tests, Rückverfolgungen, Quarantäne und Abriegelung),
  • systemische rassistische Unterdrückung und diskriminierende Behandlung von Migranten,
  • nationalstaatliche Konflikte, die eine echte internationale Zusammenarbeit bei der Bewältigung globaler Probleme behindern,
  • Kriege – der unmittelbar zerstörerischste aller Verursacher von sozialer Morbidität,
  • die ruinöse Beziehung, die zwischen dem unerbittlichen Prozess der Kapitalakkumulation und den natürlichen Ökosystemen, von denen die Menschheit abhängt herrscht,
  • und schliesslich die profitorientierten und oft grotesk verzerrten Prioritäten der industriellen pharmazeutischen Forschung und des öffentlichen Gesundheitswesens.

Es sollte offensichtlich sein, dass diese zugrundeliegenden «sozialen Morbiditäten» die Aufgabe, die Covid-19-Geissel zu besiegen (bis hin zur effektiven Eliminierung des Virus) viel schwieriger macht, als sie sein müsste. Was vielleicht nicht so offensichtlich ist, ist, dass während der gesamten kapitalistischen Ära reiche herrschende Eliten sich fast immer gegen die Bereitstellung ausreichender Ressourcen für «öffentliche Güter» und soziale Dienstleistungen gestellt haben, die zur Verbesserung der Gesundheit der Bevölkerung benötigt würden. Hinzu kommt, dass Forschungsinvestitionen von profitorientierten Pharmakonzernen regelmässig daran scheitern, einige der schlimmsten Risiken für die menschliche Gesundheit und das Wohlbefinden anzugehen. In den ersten Tagen der Pandemie schrieb der amerikanische Sozialist Mike Davis über das Problem der fehlenden Ausrichtung der Pharmaindustrie auf die Erforschung und Entwicklung neuer Antibiotika und antiviraler Mittel: «Von den 18 grössten Pharmaunternehmen haben 15 das Feld völlig aufgegeben. Herzmedikamente, süchtig machende Beruhigungsmittel und Behandlungen für männliche Impotenz sind Profitbringer, nicht die Abwehr von Krankenhausinfektionen, aufkommenden Krankheiten und traditionellen Tropenkillern. Ein universeller Impfstoff gegen Grippe – das heisst, ein Impfstoff, der auf die unveränderlichen Teile der Oberflächenproteine des Virus abzielt – ist seit Jahrzehnten zwar eine Möglichkeit hatte aber nie eine profitable Priorität.»

Erst nach dem Ausbruch der SARS-CoV-2-Pandemie begannen die grossen Pharmakonzerne ihren Wettlauf um die Entwicklung eines Impfstoffs gegen die SARS-Virenfamilie zu entwickeln. Bezeichnend ist, dass die Forschung der Unternehmen an SARS-CoV-1 – die für eine kurze Zeit nach der erfolgreichen Eindämmung des Ausbruchs im Jahr 2003 – eingestellt wurde, nachdem sie als unrentabel eingeschätzt wurde.

In Anbetracht des SARS-Ausbruchs von 2003 sowie der Ausbrüche anderer «neuartiger» Viren in den letzten Jahrzehnten (wie MERS und Ebola) hatten Wissenschafter und Gesundheitsbehörden schon lange davor gewarnt, dass eine Pandemie von möglicherweise katastrophalem Ausmass nahezu unvermeidlich sei, und dass es daher dringend notwendig sei, eine Reihe neuer Präventions- und Behandlungskapazitäten zu entwickeln – von antiviralen Medikamenten und Impfstoffen über umfangreiche Bestände an persönlicher Schutzausrüstung für das Gesundheitspersonal bis hin zu viel mehr Krankenhausbetten und gut ausgestatteten Intensivstationen. Unter dem Druck der «Privatwirtschaft» (sprich: der Kapitalistenklasse) haben die meisten westlichen Regierungen diese Warnungen in den Wind geschlagen und beharrten auf einer Politik, die die meisten der oben genannten sozialen Morbiditäten noch verschlimmerte, selbst als sich die Pandemie abzeichnete.

Die Existenz morbider sozialer Zustände muss erklärt werden; doch leider wird dies von akademischen Forschern (wie auch von Behörden wie der WHO) nur unzureichend getan. Sie scheuen sich davor, das umfassende sozioökonomische System zu kritisieren, das für diese Missstände verantwortlich ist. Wir müssen fragen: Warum gibt es einen ausgeprägten Trend zu mehr sozialer Ungleichheit? Warum wird der private Profit systematisch über die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse gestellt? Warum wird so viel für Militärbudgets ausgegeben, wenn die Regierungen so viel mehr für die Gesundheitsversorgung und die gemeinnützige medizinische Forschung ausgeben müssten? Warum entwickelt sich eine wachsende Kluft, ja eine katastrophale Disharmonie, zwischen der menschlichen Gesellschaft und der natürlichen Welt? Und warum herrscht trotz der vielen grossen Fortschritte der Naturwissenschaften im letzten Jahrhundert ein so auffälliger Mangel an Fortschritt bei der Schaffung einer harmonischeren, kooperativen, wohlhabenden und ökologisch nachhaltigen Gesellschaftsordnung für die gesamte Menschheit?

Diese Fragen werden in «Mainstream»-Diskursen selten gestellt, geschweige denn beantwortet, und das ist nicht überraschend, wenn man bedenkt, dass adäquate Antworten auf sie eine gründliche Kritik des zeitgenössischen Kapitalismus beinhalten müssten – einer Produktionsweise und eines sozialen Systems, dessen Widersprüche, Krisentendenzen und dessen fundamentale Irrationalität durch die Ereignisse des letzten Jahres besonders deutlich geworden sind.

Kapitalistischer Profit versus menschliche Bedürfnisse

Der potenzielle Verlust von mehreren zehn Millionen Menschenleben durch die Covid-19-Pest (und durch zukünftige Pandemien) ist eine grosse Gefahr, aber eine solche Katastrophe ist keineswegs unvermeidlich. Die Menschheit hat das wissenschaftliche Wissen und die Ressourcen, um sie zu verhindern. Und das Gleiche gilt für viele andere, leicht zu verhindernde Todesfälle, die aus den Pathologien des Kapitalismus resultieren.

Die Vereinten Nationen haben geschätzt, dass jedes Jahr etwa 40 Millionen Menschen an den Folgen des Hungers sterben, als Folge von gewaltsamen Konflikten und unzureichender Gesundheitsversorgung. Daraus folgt, dass in den letzten dreissig Jahren – seit dem «Triumph des Kapitalismus über den Sowjetkommunismus» – mehr als eine Milliarde Menschenleben durch die Machenschaften des global dominierenden sozioökonomischen Systems verschlungen worden sind, Leben, die ohne Rücksicht auf Verluste auf dem Altar des kapitalistischen Profits geopfert wurden.

Das ist die wahre Barbarei! Weshalb also rufen die Regierungen, die Massenmedien und die Ärzteschaft nicht zu sofortigem Handeln auf, um die kapitalistische Geissel in ihrem Voranschreiten zu stoppen? Weshalb haben gerade deren Mitglieder nicht die Zahl der Todesopfer im Auge und klären die Öffentlichkeit täglich darüber auf? Der einfache Grund ist natürlich, dass die meisten von ihnen in seine Fortsetzung investiert haben – in der Tat, in seine Ausweitung. Die Kapitalistenklasse, die etablierten Politiker, die Journalisten-Propagandisten, die Mainstream Akademiker – und, ja, auch die führenden Köpfe der Ärzteschaft – haben seit langem ihre Bereitschaft gezeigt, zig Millionen Menschen dem Hungertod, Krankheiten und Krieg zu opfern, damit der Kapitalismus im globalen Massstab florieren kann.

All dies wirft eine interessante und wichtige Frage auf: Warum haben diese mächtigen gesellschaftlichen Kräfte und Akteure auf die SARS-CoV-2-Pandemie in einer Weise reagiert, die der Profitmaschinerie der imperialistischen Zentren selbst so viel Schaden zuzufügen schien. Eine vollständige Antwort kann hier nicht gegeben werden, aber einige ihrer Elemente können kurz umrissen werden.

Erstens beschränkte sich die Coronavirus-Pandemie nicht auf die ärmsten Länder des Globalen Südens – das heisst, auf Menschen mit schwarzer oder brauner Haut, die in so grosser Zahl an Malaria und anderen tropischen Krankheiten sterben. Im Gegenteil, es schien von Anfang an klar, dass die grössten Auswirkungen der Pandemie, zumindest anfänglich, die vergleichsweise reichen Länder mit einer grossen älteren und weissen Bevölkerung zu spüren bekämen. Die Nationalität und Rasse (wenn auch nicht das Alter) so vieler Hauptopfer waren wichtige Faktoren, die die Machthaber dazu zwangen, zu akzeptieren, dass sie einen ernsten gesundheitlichen Notfall zu bewältigen hatten, und sich zu verpflichten, ihn (zumindest für eine gewisse Zeit) auf aussergewöhnliche und ökonomisch störende Weise zu bekämpfen.

Zweitens erkannten selbst die reaktionärsten kapitalistischen Politiker wie Trump und Johnson, dass sie es mit einer konzertierten Opposition zu tun haben würden, wenn sie ihrem anfänglichen sozialdarwinistischen-malthusianischen Impuls, «dem Virus seinen freien Lauf zu lassen». Am wichtigsten ist, dass starker Widerstand von den am meisten angesehenen Berufen innerhalb der westlichen Gesellschaften ausgegangen wäre: den Gesundheitsberufen. Man braucht sich nur daran zu erinnern, wie schockiert das medizinische Personal in der Pandemie über die Zahl der Ärzte, des Krankenhauspersonals  und der Sanitäter war, die an Covid-19 erkrankten – und manchmal auch starben –, wie auch über die scheinbar überwältigende Zahl von Patienten, die die schlecht ausgerüsteten Krankenhäuser in Mailand, Madrid und New York City überschwemmten. Der Imperativ, die Kurve mit allen Mitteln abzuflachen war vor allem ein Gebot, um das Personal von Krankenhäusern, Intensivstationen und das Ambulanzpersonal davor zu bewahren, selbst Opfer der Pandemie zu werden. (Da wir eine sehr ernste «dritte Welle» von Infektionen erleben, die durch neue Varianten des Virus ausgelöst werden, zwingt diese Überlegung die ansonsten widerspenstigen Regierungen erneut dazu, in vielen Ländern Sperrungen zu verhängen).

Drittens konnten grosse Teile der Erwerbsbevölkerung trotz der Sperren, die in den imperialistischen Zentren im Allgemeinen nur teilweise verhängt wurden, online arbeiten. Gleichzeitig waren viele «überlebenswichtige» Firmen (vor allem Lebensmittel-, Medikamenten- und Brauereibetriebe) von vorneherein von den Sperrungen ausgenommen. Der volkswirtschaftliche Schaden war beträchtlich, aber der Schaden für die Profitabilität blieb weitgehend auf kleinere Unternehmen sowie auf den Tourismus- und Gastgewerbesektor beschränkt.

Viertens: Während die Masse der Gewinne, die durch spezifisch produktive Aktivitäten in der Weltwirtschaft insgesamt generiert wurden, in der ersten Hälfte des Jahres 2020 deutlich zurückging, blieben die Gewinne erheblich, die aus den Rettungsaktionen der Zentralbanken und Regierungen für die Finanzmärkte und Unternehmen resultierten; diese erlaubten es den oberen Schichten der kapitalistischen Klasse grosse Gewinne in ihren Portfolios und persönlichen Vermögen einzustreichen. Am 18. Juni 2020 berichtete das Institute for Policy Studies, dass die fünf reichsten US-Milliardäre (Bezos, Gates, Zuckerberg, Buffett und Ellison) in den letzten drei Monaten einen Anstieg ihres Vermögens von über 101,7 Milliarden Dollar oder 26 Prozent erzielten. Dieser Zuwachs entsprach 17,4 Prozent des gesamten Vermögenszuwachses der 643 Milliardäre in den USA, die zu diesem Zeitpunkt 3,5 Billionen Dollar an Vermögen kontrollierten. Am 20. August 2020 berichteten Collins und Ocampo auf Counterpunch, dass die zwölf reichsten US-Milliardäre ein kombiniertes Vermögen von über 1 Billion Dollar erreicht hatten.

Die Pleitewelle weniger profitabler Firmen eröffnete den grösseren Unternehmen die Möglichkeit, ihre Marktanteile zu vergrössern und wertvolle Vermögenswerte zu Schnäppchenpreisen zu erwerben, während die Schaffung einer stark vergrösserten «Reservearmee von Arbeitskräften» (Pool von Arbeitslosen) den Arbeitsmarkt noch mehr zu einem Käufermarkt machte. All dies versprach Gutes für die längerfristige Wiederherstellung der Profitabilität der westlichen kapitalistischen Volkswirtschaften, trotz der düsteren Aussichten zu Beginn des Jahres 2020.

Zusammengenommen lassen diese Überlegungen den Schluss zu, dass die kapitalistischen Eliten in der Lage waren den durch die Pandemie ausgelösten Einbruch relativ schnell zu ihrem Vorteil zu nutzen. Mehr noch: Durch die Opferung von bestimmten Wirtschaftssektoren und kleineren Unternehmen durch ruinöse Schliessungen, während sie einen Chor von «Wir sitzen alle im selben Boot» anstimmten, konnten sie in den Augen vieler einen Anschein von unverdienter Legitimität bewahren, während sie ihren eigenen Reichtum und ihre Macht massiv vergrösserten.

In Anbetracht all dessen lohnt es sich, über eine weitere Frage nachzudenken. Angesichts der Tatsache, dass eine schwere Finanzkrise und wirtschaftliche Kontraktion bereits Ende 2019 im Entstehen begriffen war, wäre es möglich gewesen, der Öffentlichkeit die Notwendigkeit einer enormen Finanzspritze von Zentralbanken und Regierungen in Banken, Unternehmen und Aktienmärkten zu verkaufen, wenn es keinen Covid-19-Gesundheitsnotstand gegeben hätte? Wir denken, die Antwort ist ganz klar nein. Eine einfache Wiederholung der äusserst unpopulären Rettungsaktionen von 2008-09 hätte eine Flut von öffentlicher Empörung ausgelöst.

Aus der Sicht einiger extrem mächtiger Eliten könnte die Pandemie also durchaus als eine seltsam willkommene Entwicklung gesehen werden – sogar als ein «verborgener Segen». Das Leitprinzip der kapitalistischen «Mächte» bei ihrer Reaktion auf die Krise war unmissverständlich klar: Profite (das Lebenselixier des Kapitalismus) müssen Vorrang vor allem anderen haben.

Ausbeutung, Verwertungskrise und die Verfaulung des Kapitalismus

Wie Karl Marx feststellte, «weiss jedes Kind», dass menschliche Gemeinschaften auf Arbeit angewiesen sind, um ihre Bedürfnisse zu befriedigen, und sie müssen Mechanismen für die Verteilung der gesellschaftlichen Arbeit auf eine Fülle von ökonomisch lebenswichtigen Aufgaben entwickeln. Zudem, wenn sich Gesellschaften in verschiedene soziale Klassen aufteilen, die Verfügungsgewalt über die gesellschaftlichen Produktionsmittel bei einer Klasse konzentrieren, nimmt die Verteilung der gesellschaftlichen Arbeit notwendigerweise eine antagonistische Form an, da die direkten Produzenten und die Aneigner des gesellschaftlichen Überschusses entgegengesetzte Interessen verfolgen. Doch nicht jede von Menschen geschaffene Gesellschaftsordnung ist so dezidiert wie der Kapitalismus darauf ausgerichtet Produktion zum Zweck des Markttausches und der Erzielung von Profit betreiben.

Der Kapitalismus zeichnet sich dadurch aus, dass die Produktion von Waren (definiert als Produkte der Arbeit, die für den Verkauf auf einem Markt bestimmt sind) zu einem verallgemeinerten Phänomen wird. Das bedeutet nicht, dass jedes Produkt, jede Wirkung oder jedes Ergebnis menschlicher Arbeit vermarktet wird; es bedeutet jedoch, dass die grosse Mehrheit vermarktet wird, dass Waren die bei weitem ökonomisch bedeutendsten Produkte menschlicher Arbeit werden und, was am wichtigsten ist, dass die Arbeitskraft selbst (die Fähigkeit zu arbeiten) zu einer Ware wird, die in der Sphäre des Markttausches gekauft wird, um den Mehrwert aus den produktiven Lohnarbeitern herauszuholen. Genau unter diesen Bedingungen gerät der sozioökonomische Lebensprozess unter die Herrschaft eines spezifisch kapitalistischen «Wertgesetzes» –  eines Gesetzes das verlangt, den Wert aller vermarkteten Waren und Dienstleistungen in Begriffen der «abstrakten gesellschaftlichen Arbeit» zu messen, deren «Erscheinungsform» das Geld ist (siehe Counterpunch-Artikel vom 31. Januar, 2020).

Unter den Bedingungen der kapitalistischen Warenproduktion und des Warenaustauschs sind die direkten Produzenten vom Eigentum und der Kontrolle über die wichtigsten Produktionsmittel getrennt, die sich im Privateigentum der Kapitalisten befinden. Das Klassenmonopol der Kapitalisten über das Eigentum an Fabriken, Bergwerken, Mühlen und Land – in der Tat, von allen wichtigen ökonomischen Vermögenswerten der Gesellschaft – ermächtigt sie dazu, die Arbeiterklasse systematisch auszubeuten: die überschüssige Arbeit zu extrahieren, die den Mehrwert darstellt, der die «soziale Substanz» des kapitalistischen Profits und Einkommens ist.

So sind die Phänomene der Kooperation und Arbeitsteilung, die in allen menschlichen Gesellschaften zu finden sind – und die einem Naturgesetz entspringen, das «die Verteilung der gesellschaftlichen Arbeit in Proportionen» (Marx 1868) – eine besonders antagonistische und anti-egalitäre Form in einer Gesellschaft an, die auf Konkurrenz und systematische Ausbeutung einer Klasse der direkten Produzenten durch eine Klasse von Eigentümern beruht. In einem solchen Kontext sollte es offensichtlich sein, dass der Slogan «Wir sitzen alle im selben Boot» eine besonders absurde und empörende Unwahrheit darstellt. Denn die Realität ist, dass verschiedene soziale Klassen (und sogar Klassenfraktionen) Ereignisse wie den durch die Pandemie ausgelösten Einbruch zwangsläufig sehr unterschiedlich erleben.

Um das volle Ausmass der Krise 2020-21 zu erfassen, müssen wir jedoch auch untersuchen, was den Kapitalismus des 21. Jahrhunderts auszeichnet: die spezifischen Manifestationen einer systemischen Krise die als Reaktion auf die gravierenden Rentabilitätsprobleme der 1970er Jahre Gestalt annahm und wie sich diese sich in den letzten vierzig Jahren – unter der sich durchsetzenden neoliberalen Offensive – entfaltet und verschärft hat. Diese Fragen beziehen sich hauptsächlich auf die Krise der Mehrwertproduktion (oder «Verwertungskrise»), die in unserem Buch Twilight Capitalism ausführlich diskutiert wird – eine Krise, die grundsätzlich in der Verdrängung der existenzsichernden Lohnarbeit (der einzigen Quelle des Mehrwerts) durch arbeitssparende Technologie und die daraus resultierende unzureichende Produktion des Mehrwerts im Verhältnis zu den Gesamtkosten der kapitalistischen Produktion und Reproduktion besteht.

Der Vorlauf zur Katastrophe von 2020-21 war bereits geprägt von den Ergebnissen einer eigentümlichen zweigleisigen Strategie der Kapitalistenklasse, um die schwächelnde Rentabilität zu stützen: einerseits, um so viel Mehrwert wie möglich aus der lebendigen, produktiven Lohnarbeit zu extrahieren durch eine Reihe neoliberaler Mechanismen und Massnahmen, einschliesslich der rücksichtslosen Plünderung der «Gaben der Natur»; und auf der anderen Seite, die Aktienmärkte zu fördern, um unrealistisch hohe Aktienwerte (und «fiktive Gewinne») aufrechtzuerhalten, während willfährige Regierungen und Zentralbanken gezwungen werden, sich einzuschränken, die Unternehmenssteuern zu senken und bei Bedarf Geld zu drucken, um die «finanzielle Stabilität» zu gewährleisten. Das Ergebnis sind riesige Mengen an leicht verdientem Geld für die oberen Segmente der Kapitalistenklasse, aber auch ein träges BIP-Wachstum, eine schwache Kapitalbildung in der produktiven Wirtschaft und die Anhäufung von Bergen von Unternehmens-, Verbraucher-, Staats- und Studentenschulden – mit anderen Worten, riesige Ansprüche auf Werte, die noch gar nicht geschaffen wurden.

Der Kapitalismus kann fortan kaum noch funktionieren, nicht einmal unter seinen eigenen Bedingungen. Anfällig für periodische Wirtschaftskrisen, die immer tiefer und bedrohlicher erscheinen und bedrohlicher als je zuvor, offenbart dieses marode profitgetriebene System auch eine konstitutive Unfähigkeit, der Menschheit eine Welt ohne Krieg und ökologische Verwüstung zu sichern.

Denjenigen, die sich weigern, die gesellschaftliche Realität durch die verzerrenden Prismen von kapitalistischem Eigennutz und Ideologie, grossbürgerlicher Selbstgefälligkeit, vorsätzlicher Ignoranz oder bösartiger Vorurteile zu betrachten, wird es in der kommenden Zeit überdeutlich werden, dass die bestehende Weltordnung – die vor allem auf die Aufrechterhaltung von Reichtum, Macht und Privilegien der Kapitalistenklasse ausgerichtet ist, zugleich irrational, unhaltbar und moralisch verwerflich ist. Die Menschheit kann es sich nicht länger leisten, ein sozioökonomisches System zu tolerieren, das unsere fundamentalsten Interessen als Spezies den flüchtigen Interessen einer winzigen kapitalistischen herrschenden Klasse unterordnet, die sich das Recht anmasst, die wichtigsten Produktionsmittel der Welt zu besitzen und zu kontrollieren und alle wichtigen Entscheidungen zu treffen, die das Leben von Leben von acht Milliarden Menschen beeinflusst – fast immer zum Schlechteren.

Das Buch Twilight Capitalism macht auf die dringende Notwendigkeit aufmerksam, dieses veraltete System zu überwinden – und nicht nur dieses überholte System zu reformieren. Damit die Menschheit überleben und sich weiterentwickeln kann, muss das Privateigentum der Kapitalistenklasse an den Produktions-, Distributions- und Tauschmitteln enteignet und unter das kollektive Eigentum und die Kontrolle der arbeitenden Menschen in einer rational geplanten und demokratisch verwalteten sozialistischen Gesellschaft gestellt werden – einem globalen Gemeinwesen, das sich grundlegend auf die Gesundheit, das Wohlergehen und die freie Entfaltung eines jeden menschlichen Individuums ausrichtet.

Quelle: murraysmithorg.com… vom 21. Mai 2021 ; Übersetzung durch Redaktion maulwuerfe.ch

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