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Israel, eine ethnokratische Scheindemokratie

Eingereicht on 6. Mai 2016 – 8:48

Matan Kaminer. Israel hat die demokratischen Freiheiten nie vollständig auf die palästinensische Bevölkerung ausgedehnt, oder war immer, wie der palästinensische-jüdische Politiker Ahmed Tibi witzelt: «demokratisch für die Juden und Jüdinnen, und jüdisch für die Araberinnen und Araber».

Die Nakba, während der Hundertausende von Palästinensern und Palästinenserinnen aus ihren Häusern vertrieben wurden und das Rückkehrrecht, das allen Juden, die nach Israel einwanderten das sofortige Bürgerrecht verlieh, verwandelte die palästinensische Bevölkerung Israels in eine verfolgte Minderheit.

Nach dem Krieg von 1967 wurden alle Palästinenser und Palästinenserinnen, die im übrigen Palästina lebten aller politischen Rechte beraubt und den palästinensischen Flüchtlingen und ihren Nachkommen das Recht verweigert, in ihre Häuser zurückzukehren.

Die kolonialistische Siedlerlogik der Auslöschung der Eingeborenen aus dem politischen Leben, wenn nicht an ihrer physischen Präsenz im Land zu hindern, hat schon mal den ersten Teil des Aphorismus als Wahrheit beibehalten: «Demokratisch für die Juden».

Tatsächlich war es bis vor kurzem für Israelis und wohlgesonnene Beobachter und Beobachterinnen möglich, von den Araberinnen und Arabern abzusehen und Israel als normal funktionierende westliche Demokratie darzustellen. Die israelischen Jüdinnen und Juden erfreuen sich der bürgerlichen Freiheiten, wie sie etwa in bürgerlichen Demokratien gebräuchlich sind – einschliesslich des Rechts, sich gegen die Unterdrückung der Palästinenser und Palästinenserinnen zu organisieren.

Heutzutage jedoch nimmt dieses Recht schnell ab.

Die einzige Demokratie

Es gab immer jüdische Israelis, die sich gegen die Unterdrückung der Palästinenserinnen und Palästinenser stellten. Trotz dem verbreiteten Hass, den sich auf sich ziehen, konnten Organisationen, die zur direkten Aktion gegen die Besetzung aufrufen, Netzwerke von Dienstverweigerern und -verweigererinnen und Gruppen, die mit ihrer Arbeit an die Nakba erinnern bis vor kurzem legal arbeiten.

Oppositionelle Journalistinnen und Journalisten, vor allem um die liberale Tageszeitung Ha’aretz, aber auch in anderen Medien, konnten sich mehr oder weniger ungehindert äussern und Hochburgen von akademischer Kritik,  wie etwa die Abteilung Politik und Regierung an der Ben-Gurion Universität und die Abteilung für Soziologie an der Universität von Tel-Aviv haben Tausende von Studentinnen und Studenten ausgebildet. Die links-zionistische Partei Meretz nahm an nationalen und lokalen Regierungen teil und stellte da und dort gar den Bürgermeister.

Die palästinensische Bevölkerung, die ungefähr 20 Prozent ausmacht, war jedoch im Allgemeinen aus dieser lebhaften Zivilgesellschaft ausgeschlossen. Der nationale Sicherheitsdienst (Shin Bet) wacht aufmerksam über die palästinensische Bevölkerung und deren Institutionen, indem er sich tief in das getrennte Bildungssystem einnistet und verhindert eine Universitätsbildung in Arabisch, aus Angst vor einer Radikalisierung.

Palästinensische Bewegungen werden oft als illegal erklärt, vom sozialistischen al-Ard in den 1950er Jahren bis zum «nördlichen Zweig» der Islamischen Bewegung vom vergangenen Jahr. Bei jedem Wahlgang diskutiert die Wahlkommission darüber, ob die palästinensischen Parteien teilnehmen dürfen oder nicht. So wurde bei den letzten Wahlen die Hürde für einen Einzug in die Knesset angehoben, mit dem ausdrücklichen Ziel, diese auszuschliessen – eine Massnahme, die spektakulär scheiterte.

Gegenwärtig wird ein Gesetz angedacht, das von der Regierung unterstützt wird und das der Knesset erlauben würde, die noch verbleibenden palästinensischen Abgeordneten unter beinahe beliebigem Vorwand auszuschliessen. Palästinensische Aktivistinnen und Aktivisten werden nach Demonstrationen ebenfalls regelmässig einschüchternden Befragungen, Durchsuchungen und längerer Inhaftierung unterworfen.

So albern die Idee der israelischen Demokratie aus Sicht von palästinensischen Flüchtlingen, Bewohnern der besetzten Gebiete oder auch der palästinensischen Staatsbürgerinnen und -bürgern auch sein mag, so spielt sie doch eine entscheidende Rolle für das israelische Regime.

In allererster Linie sichert die israelische Demokratie – oder «Ethnokratie» – die Einwilligung der jüdischen Bevölkerung in eine Politik, die nicht unbedingt ihren Interessen dient. Die neoliberale Zerschlagung des Wohlfahrtstaates und der Verkauf öffentlicher Güter; die Verwendung von Regierungsgeldern zur Aufrechterhaltung wohlhabender Siedlungen in der Westbank, wo weniger als zehn Prozent der Bevölkerung leben; institutionalisierter Rassismus gegen Juden und Jüdinnen nicht-europäischer Verwurzelung, einschliesslich der Mizrahi und äthiopischer Juden und Jüdinnen; das Monopol des frauenfeindlichen orthodoxen Rabbinates über das Familiengesetz – all dies wird legitimiert als nicht lediglich notwendig, um den jüdischen Charakter des Staates zu schützen, sondern auch dadurch, dass es die demokratische Unterstützung der jüdischen Mehrheit geniesst.

Die innere jüdische Demokratie spielt auch in weltpolitischer Hinsicht eine wichtige Rolle. Die internationale Medienwelt schenkt dem streitbaren israelischen Parlamentsbetrieb eine grosse Aufmerksamkeit, wie auch der Zivilgesellschaft, deren NGOs grosszügige finanzielle Unterstützung von westlichen Regierungen und Stiftungen erhalten.

Indem liberale israelische Intellektuelle die Politik des israelischen Staates heftig kritisieren, ohne aber das Regime als solches anzugreifen, ermöglichen sie den herrschenden Eliten in den Vereinigten Staaten und Westeuropas unter dem Vorwand, dass Israel die einzige Demokratie im Mittleren Osten sei, ihre enorme militärische und finanzielle Hilfe vor ihrer eigenen Bevölkerung zu rechtfertigen.

Die wahren Gründe für diese Unterstützung liegen selbstverständlich bei der grossen strategischen Bedeutung Israels für den Westen. Aber die Illusion einer israelischen Demokratie machen es viel leichter, diese Unterstützung zu rechtfertigen.

Die Schlinge zieht sich zu

Der demokratische öffentliche Raum für Juden und Jüdinnen geriet in den vergangenen Jahren unter immer grösseren Druck und über die vergangenen Monate ist er schnell geschrumpft.

An der Spitze der Offensive steht Im Tirtzu, eine Nichtregierungs-Organisation, die ihre Aktivitäten 2008 mit einer Kampagne zur Zensurierung von kritischen Akademikern und Akademikerinnen eröffnete um dann, 2010, auf israelische NGOs zu zielen, die zuhanden des UN Goldstone Berichts Beweise für die Menschenrechtsverletzungen im Gazastreifen lieferten.

Im Tirtzu und andere rechtslastige NGOs werden durch reiche amerikanische Spender und Spenderinnen finanziert. Sie sind im engeren Umfeld von Premierminister Benjamin Netanyahus Likud-Block und seinem Verbündeten, der nationalreligiösen jüdischen Heimat, angesiedelt.

Ayelet Shaked, der in die Knesset einzog, nachdem er als Netanyahus Stabschef amtiert hatte und einem Im Tirtzu Klon, mein Israel, vorstand, steht beispielhaft für dieses Milieu. Als Justizminister hat Shaked seit März 2015 eine Regierungspolitik im McCarthy-Stil geführt; so hat er beispielsweise ein Gesetz durchgepeitscht, das Abgeordnete von ausländisch finanzierten NGOs verpflichtet, einen speziellen Badge zu tragen, während sie in der Knesset sind.

Bemerkenswerterweise gilt das Gesetz nur für Organisationen, die durch fremde Regierungen finanziert werden – was vor allem liberale Menschenrechtsorgansiationen betrifft; demgegenüber sind rechtslastige NGOs vom Gesetz ausgenommen, da deren Gönner kaum Regierungen sind.

Andere Förderer der Einschränkung der liberalen öffentlichen Freiheiten sind der Bildungsminister Naftali Bennett (jüdische Heimat), der sich daranmachte, die Bücher und Spiele, die die Studenten und Studentinnen benutzen, zu zensurieren und die Kulturministerin Miri Regev (Likud), die die Einschränkung der Vergabe von Unterstützungsgeldern für Kultur an die Bedingung der Loyalität gegenüber dem jüdischen Staat als ihr oberstes Ziel erklärte.

Ermutigt durch den Erfolg ihrer Vertreter in der Regierung, ist Im Tirtzu weiter vorgestossen mit der Kamagne gegen Breaking the Silence – einer Gruppe ehemaliger Soldatinnen und Soldaten, die Zeugnisse über Menschenrechtsverletzungen in den besetzten Gebieten verbreiten.

In einem abschreckenden, von Im Tirtzu produzierten Video wird Breaking the Silence, zusammen mit anderen Menschenrechts-NGOs als shtulim verunglimpft – wörtlich «Eingepflanzte», als Andeutung an Kollaborateure oder Spitzel -, da sie von zwielichten ausländischen Regierungen wie den Niederlanden und Norwegen Geld erhalten würden.

Im Januar ging Im Tirtzu jedoch offenbar zu weit und zog den Zorn von Netanyahu und Bennett auf sich; sie beschuldigte Amos Oz und die Schauspielerin Gila Almagor – beides zwei Säulen des Establishments -, sie würden «eingepflanzte Organisationen unterstützen».

Aber vielleicht noch unheilvoller als die Aktivitäten von Im Tirtzu ist die politische Wende der liberalen Medien. Im Januar brachte Uvda, die wohl am meisten respektierte politische Show Israels, einen Entwurf ans Licht, wo die Absicht formuliert wird, die Aktivistinnen und Aktivisten der Solidaritätsgruppe Ta’ayush fertigzumachen, die im südlichen Teil der Westbank aktiv ist. Das Exposé stammt von Ad Kan, einem anderen Klon von Im Tirtzu.

Ein Spion von Ad Kan zeichnete den Aktivisten Ezra Nawi auf, wie er fälschlicherweise damit prahlte, dass er Palästinenser an die palästinensische Autorität ausgeliefert habe, die Land an Israelis verkauft hätten und dann hingerichtet worden seien.

Als diese Aufzeichnung ohne jeden Zusammenhang ausgestrahlt wurde, genügte dies nicht nur, um Nawi als Verräter und Mörder zu brandmarken, sondern dies löste zudem die Verhaftung von Nawi und zweier seiner Genossen von Ta’ayush aus, Israeli Butavia und vom Palästinenser Nasser Nawajeh. Die drei wurden vom Gericht freigesprochen, allerdings erst, nachdem Nawajeh in Ofer Gefängnis überstellt wurde, um vor ein Militärgericht gestellt zu werden.

Ad Kan schlug im März erneut zu mit Andeutungen, dass Breaking the Silence Informationen zu militärischen Aktivitäten sammle und verbereitete dies als Tatsache auf Channel 2 News. Verteidigungsminister Moshe Ya’alon (Likud) nahm diese Anschuldigung sogleich auf und erklärte, dass, falls diese zuträfen, dies einem Verrat gleichkäme. Vor kurzem wurde Ya’alon selbst zur Zielscheibe von Kritik, als er erklärte, ein Soldat, der bei der Erschiessung eines gefesselten und verwundeten Palästinensers gefilmt worden war, sei «kein Held» und gehöre vor ein Gericht gestellt.

Auf der Suche nach Feinden

Die Einschränkung der bürgerlichen Freiheiten in Israel läuft parallel zu dem wachsenden Druck, der von palästinensischen Kampagnen wie etwa Boycott, Divestment, and Sanctions (BDS). Der sichtbarste und kontroverseste Teil der Kampagne betrifft den akademischen und kulturellen Boycott (PACBI), der genau auf jene Segmente der israelischen Gesellschaft abzielt, die oft als Hochburgen der Opposition betrachtet werden.

Bis anhin haben sich viele israelische Intellektuelle gegen die Boykottbewegung ausgesprochen, obschon gerade die scheinbare Einhelligkeit ein direktes Ergebnis des Klimas der Angst und eines Gesetzes ist, das Unterstützer und Unterstützerinnen des Boykotts bestrafen will. Wenn die Angriffe auf sie von innerhalb der israelischen Gesellschaft weitergehen, werden sie aller Erwartung nach diese Rolle nicht weiter spielen können. Einige, wie der international bekannteste Autor Amos Oz scheinen dies bereits zu tun.

Die Demoralisierung der Intellektuellen könnte für das israelische Regime ernsthafte Folgen haben; obschon die finanzielle und militärische Hilfe für Israel immer noch grosse öffentliche Unterstützung in den USA und in Europa geniesst, hängt doch viel von dieser Unterstützung von der weiteren Glaubwürdigkeit dieses Glaubenssatzes der «einzigen Demokratie» ab.

Das was zunehmend aussieht wie eine Einstellung der ethnischen Demokratie Israels kann nicht als eine wohlüberlegte Massnahme verstanden werden, um den Interessen des Regimes besser dienen zu können. Die gegenwärtige Dynamik wird vermutlich zutreffender als eine Beschleunigung eines Trends verstanden, der dem Zionismus innewohnt, genauso, wie dies in anderen repressiven sozialen Formationen der Fall ist: die Notwendigkeit, bedrohliche Feinde auszumachen, um die innere Kohäsion zu sichern.

Der palästinensische Widerstand ist desorientiert, die arabische Welt ist in einen mörderischen Krieg versunken und der Iran wurde rehabilitiert; die Suche nach Feinden wendet sich von daher nach innen, und verliert dabei jede Verhältnismässigkeit bezüglich der wirklichen Macht dieser angeblichen Feinde.

Aber während dadurch die Position Israels international geschwächt werden könnte, so ist der Zusammenbruch der beschränkten öffentlichen Raumes Israels kein Grund für einen Triumpf der Linken. Diese Entwicklung geht nämlich Hand in Hand mit einer weiteren Verschlechterung der Lebensbedingungen für Palästinenser und Palästinenserinnen, mit und ohne israelischem Bürgerrecht.

Es gibt überdies kein absehbares Szenario, in dem der palästinensische Kampf seine Ziele mit roher Waffengewalt erreichen kann. Die sieben Millionen Juden und Jüdinnen, die im historischen Palästina leben, müssen in Betracht gezogen werden und schlussendlich muss eine kritische Grösse von ihnen gewonnen werden, um eine Verhandlungslösung zu unterstützen, falls eine solche erreicht werden kann.

Sicherlich ist die palästinensische Minderheit in Israel die wichtigste Gruppe, die in der Lage ist, diese Spaltung – wenn überhaupt – zu überwinden; sie hat am meisten zu verlieren in einem Vernichtungskrieg und am meisten zu gewinnen von einem Beschluss, der ihre individuellen und kollektiven Rechte garantiert.

Diese Gruppe hat sich kürzlich, unter schwierigen Bedingungen, mit einer gemeinsamen Liste zu einer parlamentarischen Einheit gefunden, an der sich Linke, Liberale und Islamisten beteiligen. Zudem betrachtet die palästinensische Öffentlichkeit selbst die Aufrechterhaltung des Kontaktes mit der jüdischen Bevölkerung als sehr wichtig; so wählten sie den Juden Dov Khenin unter ihre Knesset-Abgeordneten, während dort die palästinensische Bevölkerung stark unterrepräsentiert ist. Auch ausserhalb der Knesset spielen diejenigen israelischen Araber eine wichtige Rolle, die für Gleichheit und gegen die Besetzungspolitik sind.

Es liegt im Interesse der palästinensischen Solidaritätsbewegung, ein wachsames Auge auf die Entwicklungen innerhalb Israels zu werfen und auf den Tag zu setzen, wo eine wirklich bedeutende israelische Opposition, die sich vielleicht im Feuer der Repression herausbildet, eine Partnerin im Prozess der Entkolonialisierung werden kann.

Quelle: www.jacobinmag.com…   vom 30. April 2016; Übersetzung Redaktion maulwuerfe.ch

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