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Linker Aufbruch in Europa?‹ – eine nüchterne Zwischenbilanz

Eingereicht on 8. Juni 2016 – 9:52

Die Wahlerfolge linker Parteien im »Süden« Europas brachten nicht die erhofften Veränderungen, die Resultate blieben ernüchternd, von einem Aufbruch auf dem Kontinent kann keine Rede sein. Eine Zwischenbilanz

Die Nummer 106 von Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung vom Juni 2016 ist erschienen. Wir veröffentlichen daraus vorab und in gekürzter Fassung von Klaus Dräger den Aufsatz »›Linker Aufbruch in Europa?‹ – eine nüchterne Zwischenbilanz«. Das neue Heft kann auf zeitschrift-marxistische-erneuerung.de bestellt werden.

Klaus Dräger. Bei den im Jahr 2015 in neun Ländern abgehaltenen Wahlen (inklusive Regionalwahlen) entfielen doppelt so viele Stimmen auf die Parteien der radikalen Rechten wie auf die der radikalen Linken. Die Stimmengewinne der radikalen Rechten sind Ausdruck einer – im gesamten europäischen Maßstab in allen Bevölkerungsschichten, und insbesondere in den unteren Mittelschichten, aufgrund von Massenarbeitslosigkeit, Prekarität und Zerstörung des Sozialstaats anwachsenden – Frustration und Verunsicherung.«

Zu dieser bitteren Erkenntnis der politischen Lage in der Europäischen Union kommt eine Erklärung von Verantwortlichen des Stiftungsnetzwerks »transform!«, welches der Partei der Europäischen Linken (EL) nahesteht. Die Erklärung setzt auf eine »Domino-Theorie light«: Es sei »eine Gegenbewegung zugunsten einer alternativen Politik zu konstatieren, was daran ersichtlich ist, dass in Griechenland Syriza noch immer in der Regierung und darum bemüht ist, die Auswirkungen des neuen Memorandums abzufedern; dass in Spanien das Zweiparteiensystem beendet werden konnte; dass im portugiesischen Parlament nun eine linke Mehrheit sitzt; dass in Irland ein Sieg von Sinn Féin in den Bereich des Möglichen gerückt ist; dass die britische Labour Party eine neue Führung hat … Doch noch ist das nicht die die Dynamik bestimmende Tendenz in einer Situation, in der das politische Zentrum, und insbesondere die Sozialdemokratie, erodiert.« Sicher, die Hoffnung stirbt zuletzt. Linker politischer Realismus erfordert aber, zunächst eine konkrete Analyse einer konkreten Situation zu versuchen.

Kapitulation und Widerstand

In Griechenland ist Syriza als Regierungspartei darum bemüht, die Auswirkungen des neuen Memorandums abzufedern? In der Tat hat diese Regierung einige Maßnahmen zugunsten der ärmsten Schichten der Bevölkerung eingeleitet (kostenlose Gesundheitsversorgung für Flüchtlinge und besonders Arme, kostenloser öffentlicher Transport für Erwerbslose, Nahrungsmittelhilfen, Schulspeisung, kostenlose Strom- und Wasserversorgung für arme Familien usw.). Doch dies gehört im Wesentlichen zum Programm zur Bekämpfung der humanitären Krise, das die Troika (EU-Kommission, IWF und EZB) zuvor grundsätzlich genehmigt hatte. Ansonsten ist die Regierung bemüht – bis hin zur abermaligen drastischen Kürzung der Renten –, die Auflagen des dritten Memorandums umzusetzen. Dagegen gibt es breiten sozialen Widerstand mit Generalstreiks von Gewerkschaften, massiven Protestaktionen von Bauern usw. – also von jenen gesellschaftlichen Kräften, die vormals große Hoffnungen auf den amtierenden Premier Alexis Tsipras gesetzt hatten.

Während die EL den Flüchtlingsdeal der EU mit der Türkei scharf ablehnt, setzt die Syriza-Regierung diesen mit Unterstützung von Pasok und der liberalen To Potami um und schiebt Flüchtlinge in die Türkei ab. Diese Entwicklungen nüchtern und kritisch zur Kenntnis zu nehmen, ist kein »Syriza-Bashing«. Es hilft der EL und ihrer politischen Glaubwürdigkeit aber nicht, dies aus »Solidarität mit der griechischen radikalen Linken« schönzureden. Zum »Zündfunken für die Überwindung der Austerität in Europa« – wie von der EL zuvor propagiert – ist die Syriza-Regierung jedenfalls nicht geworden.

Etwas anders stellt sich die Lage auf der iberischen Halbinsel dar. Im portugiesischen Parlament haben Sozialisten vom PS, Bloco de Esquerda (Linksblock) und CDU (Bündnisliste von Kommunistischer Partei PCP und Grünen) seit den Wahlen vom Oktober 2015 zusammen eine absolute Mehrheit (122 von 230 Mandaten). Bloco und CDU waren nach Verhandlungen mit den Sozialdemokraten bereit, deren Parteichef António Costa am 26.11.2015 zum Premierminister einer sozialdemokratischen Minderheitsregierung zu wählen. Bloco, PCP und Grüne hatten dabei jeweils eigene Vereinbarungen mit Costas Sozialisten ausgehandelt.

Ihr gemeinsames Ziel war, die vormalige Rechtskoalition (bestehend aus der konservativ-liberalen PSD und der konservativen CDS) unter Passos Coelho abzuwählen und deren Austeritätspolitik rückgängig zu machen. António Costa hatte den Wahlkampf der PS gegen Widerstände in der eigenen Partei mit dem Versprechen bestritten, die von der EU-Troika zuvor durchgesetzte Verarmungsstrategie in Portugal aufzugeben. Die erzielten Vereinbarungen legen die Minderheitsregierung im Wesentlichen darauf fest, die Wahlversprechen Costas umzusetzen und die von der Austeritätspolitik besonders betroffenen Teile der Bevölkerung zu schützen. So wurden von der Rechtskoalition gestrichene Feiertage wieder eingeführt, Extrasteuern gesenkt, Zwangsräumungen von Wohnungen erschwert, Renten und Sozialleistungen für Geringverdienende aufgestockt und Sozialversicherungsbeiträge für diese abgesenkt. Die 35-Stunden-Woche im öffentlichen Dienst wurde wieder eingeführt, Mindestlöhne gesichert und darüber hinaus vereinbart, sie in den folgenden Jahren anzuheben. Privatisierungsvorhaben der alten Regierung wurden gestoppt und Investitionen in Gesundheit und Bildung festgeschrieben. Die Vereinbarung mit dem Bloco enthält zudem eine »Garantieklausel«, dass bei schlechter Haushaltslage nicht wieder bei Renten, Sozialleistungen, Gesundheitssystemen etc. gekürzt werden soll.

Wie steht es um die »gesellschaftspolitische Hegemonie« des portugiesischen Experiments? Auf die Parlamentswahl im Oktober 2015 folgte die des Präsidenten am 24.1.2016. Die Wahlbeteiligung sank auf einen historischen Tiefstand von nur 48 Prozent. Schon im ersten Durchgang gewann der Kandidat der konservativen Koalition (PSD und CDS), Marcelo de Sousa, mit 52 Prozent der Stimmen. Der Kandidat der PS-Mehrheit um Premier António Costa, Antonio de Sampaio de Nova (unabhängig), erzielte 22,9 Prozent. Gefolgt von Marisa Matias (Bloco) mit 10,1 Prozent und Edgar Silva vom PCP mit nur 3,9 Prozent. Die Kandidatin des rechten Flügels der Sozialdemokraten – Maria de Belem – erhielt nur 4,2 Prozent. Wertet man diese Wahl als Stimmungstest nach der Regierungsbildung Ende November 2015, so kamen die Kräfte der bestehenden portugiesischen linken Allianz auf knapp 37 Prozent. Politische Hegemonie ist das wohl (noch) nicht.

EU-Diktate

Bloco und PCP stellen keine Minister in der portugiesischen Regierung. Es handelt sich also um eine Tolerierungskonstellation, bei der die sozialdemokratische Minderheitsregierung für jede Gesetzesvorlage immer wieder neu Mehrheiten im Parlament organisieren muss. Schon sehr früh nach den Verhandlungen der Linksparteien mit den Sozialisten wies der frühere Fraktionsvorsitzende des Bloco, Francisco Louçã (ein renommierter Wirtschaftswissenschaftler), auf strukturelle Probleme der Tolerierungsabkommen hin. Wie mit der dramatisch angestiegenen staatlichen Gesamtverschuldung umgehen, dem Leistungsbilanzdefizit Portugals, dem angeschlagenen portugiesischen Bankensektor, der ablehnenden Haltung Brüssels, Berlins und der EZB in Frankfurt zu jeder Abweichung vom Austeritätskurs der vormaligen Rechtsregierung? Wie Investitionen in die »Realwirtschaft« befördern, um neue Arbeitsplätze zu schaffen und die sozialpolitische Umkehr abzusichern?

Darüber bestehen zwischen den Linksparteien und Costas Sozialdemokraten weiterhin tief greifende Meinungsunterschiede, die in den Tolerierungsabkommen ausgeklammert wurden. Bloco und PCP plädieren für einen Schuldenschnitt für Portugal, und wenn dieser nicht vereinbart werden kann, für einen Austritt aus der Euro-Zone. Die Sozialisten hingegen versichern, dass ihre Regierung alle EU-Auflagen (Fiskalpakt usw.) erfüllen wird.

Dies ist insofern die Sollbruchstelle, an der die EU-Kommission, die EZB, die deutsche Regierung und die internationalen Finanzmarktakteure das »Linksbündnis« in Portugal in die Knie zwingen wollen. Da war z. B. der Fall der portugiesischen Banif-Bank: hoch verschuldet und von der EZB als EU-Bankenaufsicht zur Abwicklung empfohlen (Verkauf an die spanische Santander-Bank zum Schleuderpreis). Die sozialdemokratische Minderheitsregierung beugte sich den Empfehlungen aus Brüssel und Frankfurt, Bloco und CDU stimmten dagegen. Die konservative Opposition enthielt sich und winkte so die Bankabwicklung durch.

Die portugiesische Zentralbank weigerte sich, nach der Abwicklung der Banif-Bank noch weitere Bail-out-Operationen bei strauchelnden portugiesischen Banken vorzunehmen. Das gefiel den internationalen Ratingagenturen überhaupt nicht. Moodys, Fitch usw. stuften portugiesische Staatsanleihen bereits auf »Ramschniveau« herab.

Die Mechanismen, wie man unliebsame Regierungen unter Druck setzt, sind aus dem bisherigen Verlauf der Euro-Krise bekannt. Wurden bestimmte Länder von der EU-Ebene an den Pranger gestellt, reagierten die Finanzmärkte prompt auf solche Fingerzeige mit Kapitalflucht, miesen Ratings, Drängen zu neoliberalen »Strukturreformen« etc. Mit Fiskalpakt, europäischem Semester etc. ist die Überwachung durch Brüssel nochmals gestärkt worden. Auch finanzielle Sanktionen können damit leichter und »automatisch« verhängt werden.

Was Portugal angeht, hängt also vieles von den künftigen wirtschaftspolitischen Aussichten des Landes ab. Wenn sich die Konjunktur verbessern würde, könnten die sozialen Versprechen Costas vielleicht halbwegs eingelöst werden und die Tolerierung der sozialdemokratischen Minderheitsregierung durch Bloco und CDU stabil bleiben. Wenn nicht, wird die EU die dann zu erwartenden finanziellen Probleme des Landes noch stärker als Hebel nutzen, um einen Keil zwischen Sozialdemokratie und Linksparteien zu treiben. Schon jetzt reden die Europäische Kommission und die deutsche Regierung ständig davon, dass Portugal bald unter den Euro-Rettungsschirm ESM müsse. So wurde es zuvor mit Griechenland, Irland, Portugal, Spanien und Zypern ja auch gemacht. Mit einer weiteren Zuspitzung der Attacken aus Brüssel und Berlin ist zu rechnen.

Fehlende Mehrheiten

Im Nachbarland Spanien brachten die Parlamentswahlen vom 20.12.2015 das Ende des Zweiparteiensystems. Seit der Überwindung der Franco-Diktatur 1978 hatten sich die Sozialdemokraten (PSOE) und die konservative Volkspartei (PP) an der Regierung abgelöst. Die PP des noch amtierenden Premierministers Mariano Rajoy stürzte von 44,7 Prozent bei der letzten Wahl 2011 auf 28,7 Prozent ab. Die PSOE erzielte mit 22 Prozent der Stimmen das schlechteste Ergebnis der Post-Franco-Ära. Die neoliberale Partei Ciudadanos (deutsch: Staatsbürger) lag in Umfragen vor der Wahl vor Sozialisten und Podemos (deutsch: Wir können), erreichte dann aber nur 13,9 Prozent. Podemos gewann 20,6 Prozent der Stimmen, die linke Izquierda Unida-Unidad Popular (IU) nur enttäuschende 3,7 Prozent und zwei Abgeordnete. Die spanische »radikale Linke« hat somit fast ein Viertel der Wählerstimmen auf sich gezogen – ein beachtlicher Erfolg. Die Bildung einer Rechtskoalition (PP, Ciudadanos) ist mangels Masse nicht möglich und eine Mitte-Links-Konstellation hätte auch keine absolute Mehrheit. 2014 setzte sich Podemos das Ziel, stärkste Partei zu werden und mit der griechischen Syriza einen Antiausteritätskurs in der EU stark zu machen. Im Wahlkampf im Winter 2015 trat die Partei dann eher sozialdemokratisch und staatstragend auf, um Wählerinnen aus der »Mitte« nicht zu verschrecken.

Zur von der Europäischen Linken (EL) angestrebten »Linkswende« in Spanien reicht es jedenfalls nicht. Die PP propagiert eine große Koalition mit der PSOE, die von Ciudadanos (C’s) vermittelt werden soll. C’s sehen dies als die beste Lösung an. Die PSOE unter ihrem Generalsekretär Pedro Sanchez lehnt dies bislang ab. So schloss Sanchez zunächst eine Vereinbarung mit den neoliberalen Ciudadanos und erwartete von PP und Podemos, diese »Koalition des Wandels« wenigstens durch Enthaltung bei der Wahl des Ministerpräsidenten durchzuwinken. Zwei Anläufe von Sanchez, auf diese Weise Regierungschef zu werden, scheiterten jedoch. Nur 131 Abgeordnete stimmten im zweiten Wahlgang am 4. März dafür.

Während in Portugal Bloco und PCP auf ihre Unabhängigkeit von der sozialdemokratischen Minderheitsregierung bedacht sind, bieten die spanischen Linksparteien Podemos und IU an, direkt eine Koalitionsregierung mit der PSOE und regionalen Linksbündnissen (z.B. Compromis aus Valencia) zu bilden. Es geht ihnen also um eine Mitte-links-Koalition als Minderheitsregierung, etwa nach dem Muster der Gauche Plurielle (»vielfältige Linke«) in Frankreich – ein Bündnis von PS, PCF, Grünen unter Lionel Jospin (1997–2002). Ein solches Bündnis käme im spanischen Parlament aber nur auf 161 der 350 Mandate. Um Sanchez zum Premier zu wählen, müssten Kräfte aus anderen Parteien zustimmen oder sich enthalten. Sanchez wollte aber unbedingt die neoliberalen Ciudadanos mit im Boot haben. »Stabile Regierung«, »Zähmung der Linken«, kein Ärger mit Brüssel, Berlin und Frankfurt – darum geht es der PSOE.

Podemos bestand ursprünglich darauf, dass die PSOE den Pakt mit den C’s aufkündigt. Dann verhandelte ihr Generalsekretär Pablo Iglesias aber dennoch mit PSOE und Ciudadanos in Drei-Parteien-Runden darüber, ob eine Einigung möglich sei. C’s sollten sich mit einigen Reformen zu Demokratiethemen aus der Vereinbarung mit der PSOE zufrieden geben. Podemos schwächte im Gegenzug seine Forderungen zu wirtschaftspolitischen und sozialen Themen ab und näherte sich den Positionen des Wahlprogramms der Sozialdemokraten an (Angebot von »20 Zugeständnissen«, was weiterhin aufrechterhalten wird). Podemos wäre z. B. bereit, das Haushaltsdefizit schneller und in größeren Schritten zurückzufahren, eine weniger umverteilende Steuerpolitik und geringere öffentliche Ausgaben (Reduzierung um ein Drittel gegenüber dem eigenen Programm) anzubieten sowie bloß zur Arbeitsmarktreform von José Zapatero (PSOE) von 2010 zurückzukehren und vieles mehr.

2014 war Podemos als »Bürgerbewegung« angetreten, um die »korrupte politische Kaste« Spaniens hinwegzufegen. Eine programmatische Anpassung an die PSOE war mit diesen – wohl wahltaktisch motivierten – Manövern bereits angelegt. Die Dreiergespräche verliefen ergebnislos und wurden von Podemos abgebrochen. In einer internen Urabstimmung votierten daraufhin gut 88 Prozent der Mitglieder von Podemos dagegen, den Pakt von PSOE und den C’s zu unterstützen.

Von rechts bis links konzentriert sich die politische Agitation in Spanien seither auf die Frage: Wem kann man den Schwarzen Peter für Neuwahlen am 26. Juni 2016 zuschieben? Die PSOE argumentiert, Podemos sei schuld, denn nunmehr drohe eine Rückkehr der Rechten. Ihr Pakt mit den C’s hätte wenigstens eine sozialliberale Koalition des Wandels ermöglicht, die Podemos und PP gleichermaßen geblockt hätten. Podemos und IU argumentieren, dass dieser Pakt einen von Mehrheiten gewollten weiter gehenden Politikwechsel verhindert und in Kernfragen die rechte Regierungs­praxis der PP nur fortgesetzt hätte.

Gelegenheit verspielt

Auch die »Domino-Theorie light« von »transform!« und EL wird von der realen Entwicklung nicht gedeckt: Die eigentlich erhoffte »Linkswende« in Spanien fand so nicht statt. Das politische System dieses Landes steckt in einer tiefen Krise. Stabile parlamentarische Mehrheiten für »normales Regieren« zu bilden erweist sich als schwierig. Die portugiesische Konstellation kann man zunächst als Fortschritt betrachten. Sie ist in der EU aber ziemlich isoliert und heftigen Angriffen ausgesetzt. Selbst eine Anti-Austeritätsfront der Regierungen von Spanien, Irland, Portugal und Griechenland – so es sie denn gäbe – wäre im EU-Kontext aufgrund des geringen Gewichts dieser Länder zu schwach, auch nur bescheidene Korrekturen zu erwirken.

Welche Schlussfolgerungen zieht die EL daraus? In den reicheren EU-Ländern (von Skandinavien über die Benelux-Staaten bis Frankreich, Italien, Österreich und Deutschland) ist ebenfalls eine starke Fragmentierung des politischen Spektrums zu verzeichnen – nur anders als im EU-»Süden« durch den Aufstieg von rechtspopulistischen Formationen. Das sieht ja auch »transform!« so, und bedauert die »Erosion des Zentrums«, insbesondere der Sozialdemokratie.

In einigen EU-Ländern sind sozialdemokratische Parteien nahezu in die Bedeutungslosigkeit abgestürzt (z. B. Polen, Irland, Griechenland), in anderen schwer angeschlagen (z. B. Frankreich, Spanien, Deutschland). Über die Ursachen dieser Entwicklung besteht weitgehend Einigkeit. Ende der 1990er Jahre wurde die große Mehrheit der EU-Staaten von Mitte-links-Regierungen geführt, in denen sozialdemokratische Parteien eine wichtige Rolle spielten. Statt die neoliberale Politik der Konservativen und Liberalen zu beenden, führten sie diese fort und verschärften sie oft. Die große Gelegenheit, mit dem »sozialen Europa« Ernst zu machen, wurde von ihnen verspielt. Die Rechte kam zurück. Die verbliebenen Mitte-links-Kräfte sind weiterhin auf Austerität und neoliberale Strukturreformen gepolt – siehe z. B. den Jobs-Act in Italien unter Renzi oder das geplante »Loi El Khomri« in Frankreich zur weiteren Flexibilisierung des Arbeitsmarkts, gegen das Gewerkschaften und Jugendliche in Massen auf den Straßen protestierten.

Die Folge war und ist, dass sich jene Schichten, die im Volksmund als »kleine Leute« bezeichnet werden, von der Mitte-links-Politik und den sozialdemokratischen Parteien deutlich entfremdeten. Der globalisierungs- und EU- verherrlichende Diskurs der europäischen Sozialdemokratie kommt in den einfachen »popularen« Milieus der Gesellschaft, die vormals ein verlässlicher Teil ihrer Stammwählerschaft waren, nicht an. Formationen der »radikalen Linken« wie Syriza und Podemos konnten teilweise von der Sozialdemokratie verlorenes Terrain erschließen. Sie blieben aber trotz ihrer Erfolge deutlich schwächer als Pasok und PSOE es einige Jahre zuvor waren.

Die meisten anderen Parteien der europäischen Linken erreichen Wahlergebnisse von »nur« bis zu zehn bis 15 Prozent der Stimmen. Sie wären damit, sofern sie durch Regierungsbeteiligung eine sozialere Politik durchsetzen wollten, stets in der Rolle des Juniorpartners einer weiterhin im wesentlichen neoliberal orientierten Sozialdemokratie. Wo sie in der Vergangenheit diesen Weg beschritten (z. B. die beiden Regierungen unter Romano Prodi in Italien, die Gauche Plurielle unter Lionel Jospin in Frankreich usw.), blieb die erhoffte soziale Wende der Politik aus, und die Linken verloren massiv an Unterstützung. Die Hoffnung der EL, die Sozialdemokratie durch eine erstarkende Linke wieder nach links zu drängen und im Bündnis mit ihr einen Politikwechsel einzuleiten, blieb in den meisten EU-Ländern unerfüllt. In den »popularen« Milieus der Gesellschaft trifft diese ambivalente Haltung der Linksparteien (»linke Opposition« vs. Juniorpartner einer neoliberalen Sozialdemokratie) auf wachsende Skepsis: »Wenn es ernst wird, seid ihr ja auch so wie die anderen.«

Die Diskussion zwischen und innerhalb der EL-Parteien konzentriert sich nach dem Griechenland-Debakel (der Kapitulation der Syriza-Regierung gegenüber der EU) zur Zeit auf europapolitische Fragen. Diese sind wichtig, doch die Probleme der Linksformationen liegen tiefer. Wie lässt sich nach dem politischen und sozialen Scherbenhaufen, den Mitte-links (und auch die großen Koalitionen) hinterlassen haben, ein glaubwürdiges alternatives Projekt »im eigenen Land« stark machen, um dem immer lauter werdenden Gerede vom »Kampf der Kulturen« (Flüchtlingskrise, Islamophobie etc.) etwas entgegenzusetzen? Die von der Linken stets als vorrangig betonte »soziale Frage« wird von den Rechtspopulisten stark thematisiert – als eine von »drinnen und draußen«.

Die »Klassenfrage« als eine Erzählung von »oben und unten« dagegen in den Vordergrund zu rücken, ist durchaus richtig. Allerdings: Die Lebenswirklichkeiten und Mentalitäten eines jungen Anwalts, einer Sozialarbeiterin, eines Facharbeiters im Blaumann oder einer Migrantin, die Sozialhilfe bezieht, sind recht verschieden. Linke Parteien und Bewegungen haben vor allem das Problem, für ihre globalen politischen Botschaften die für diese unterschiedlichen sozialen Milieus jeweils verständliche Ansprache zu finden.

Die europäische Linke war für eine radikalere gesellschaftliche Umgestaltung angetreten, die über den Horizont (alt)sozialdemokratischer Reformpolitik hinausgeht. Dies ist bei ihr kaum noch zu erkennen. Die Rechtspopulisten werden als antisystemische Kräfte wahrgenommen, die meisten Formationen der europäischen Linken im Zweifel aber als Stütze des Establishments. Das ist das selbst verursachte Kernproblem der europäischen Linken.

Quelle: www.jungewelt.de… . vom 25.Mai 2016

 

 

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