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Venezuela: Das Scheitern des «Sozialismus des 21. Jahrhunderts»

Eingereicht on 25. Februar 2015 – 21:12

Als in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre vor allem in Lateinamerika endlich wieder Massenmobilisierungen aufflammten, entzündete sich auch die Hoffnung grosser Teile der Linken gerade in Europa, die seit der ersten Hälfte der 1980er Jahre in einer Art Stupor darniederlag. Als diese Massenbewegung 1998 in Venezuela gar das alte korrupte und pro-imperialistische Regime wegfegte und mit Hugo Chávez einen Präsidenten an die Macht brachte, der die Anliegen der breiten, vor allem der armen Bevölkerung ernst nahm, brach  geradezu eine Art neuer Euphorie aus.

Es schien, als könnten die Lehren des revolutionären Marxismus über die Voraussetzungen der Machtergreifung, der Natur des bürgerlichen Staates, der Krisenhaftigkeit des Kapitalismus und des Klassenantagonismus beiseitegelegt werden. Vielen, allzu vielen waren diese Lehren eh schon seit langer Zeit lästig: den Sozialdemokraten, den Anarchisten, den Syndikalisten und vor allem auch den Stalinisten. Entsprechend florierten die entsprechenden politischen Theorien, die allesamt Teile aus dem Korpus des revolutionären Marxismus herausoperieren wollten oder diesen überhaupt verwarfen.

In diesem Zusammenhang war sicher die Theorie des «Sozialismus des 21. Jahrhunderts», wie sie vom seinerzeitigen Berater von Chávez, Heinz Dietrich, formuliert und von der Regierung Chávez propagandistisch eingesetzt wurde, eine Art Leitthema. Geblieben ist ein Scherbenhaufen, insbesondere für die venezolanische Bevölkerung, die nun unmittelbar unter den politischen und materiellen Folgen dieses gescheiterten Modells zu leiden hat. Aber auch für die gesamte Linke, in Venezuela, aber auch weit darüber hinaus. Wiederum scheint sich bewahrheitet zu haben, dass jede sozialistische Perspektive unweigerlich in den Abgrund führt. Sehr zum Nutzen und Frommen der herrschenden reaktionären Mächte weltweit.

Wir publizieren nachfolgend einen Beitrag eines venezolanischen Revolutionärs, der einigen wichtigen Zusammenhängen nachgeht. Der Autor Simón Rodríguez Porra koordiniert die Internet-Seite www.laclase.info. Er arbeitet mit an der Zeitschrift der Unidad Internacional de los Trabajadores,  Correspondencia Internacional, (http://uit-ci.org). Der Beitrag wurde auf www.laclase.info   publiziert und von uns aus dem Spanischen ins Deutsche übertragen. (Redaktion maulwuerfe.ch)

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Überall auf der Welt sind Bilder aus Venezuela mit langen Schlangen von Leuten vor Einkaufszentren zu sehen, die darauf hoffen, Güter der Grundversorgung zu ergattern. Die grossen Fernsehketten präsentieren sie als Beweis eines neuen Scheiterns des Sozialismus. Die Regierung Maduro ihrerseits erklärt sie als Konsequenz eines angeblichen durch die grossen Unternehmer inszenierten «wirtschaftlichen Staatsstreichs», aber vereinbart gleichzeitig mit ihnen ein neues Abbauprogramm. Es gibt wichtige Sektoren des Chavismus, die zur Katastrophe nach dem Tode von Chávez beigetragen haben. Zeigt uns die Krise vielleicht gerade, dass es in Venezuela gar nie eine grundsätzliche Entwicklung in Richtung eines Sozialismus gab?

Das seit Mitte 2014 vereinbarte Sparprogramm zwischen der Regierung Maduro und den Unternehmern sieht neben anderen Massnahmen eine Abwertung der Währung um 69 % vor, Tausende von Entlassungen, eine drastische Erhöhung der Nahrungsmittelpreise, eine Kürzung der Subventionen für Treibstoff und im öffentlichen Dienst. Die Züge eines wahren sozialen Krieges äussern sich in einem Wachstum der sozialen Polarisierung zwischen Reichen und Armen. Eine im Februar von Cepal  aufgrund von offiziellen venezolanischen Zahlen veröffentlichte Studie zeigt, dass zwischen 2012 und 2013 die Armut von 25.4 % auf 32.1 % angestiegen ist, eine Tendenz, die durch die Inflation  im Jahre 2014, die 63 % erreichte, die Verschärfung der Abbaumassnahmen und den Fall der Erdölpreise 2014 und 2015 nur noch verschärft wird.

In den 16 Jahren seit der Chavismus an die Macht gelangte, haben Millionen von Arbeiterinnen und Arbeiter und die breite Bevölkerung, die einst ihr Vertrauen auf Präsident Chávez und seine Umgebung gesetzt haben, sich von Nicolas Maduro und Diosdado Cabello abgewendet. Die gegenwärtige Katastrophe muss in einem Zusammenhang gesehen werden, der das Ende des «bolivarianischen» Zyklus anzeigt und die Möglichkeit einer sozialen Explosion eröffnet. Wie sieht die Bilanz des Bolivarianismus wirklich aus?

Ein «Sozialismus» im Rahmen des Kapitalismus

Als Chávez 1998 an die Macht gelangte, stützte sich die Regierung vor allem auf den Prozess der Selbstorganisierung und die Mobilisierung, der damals auf dem Höhepunkt war und gewährte der Massenbewegung Zugeständnisse. Die verfassungsgebende Versammlung von 1999 und der neue Verfassungstext konkretisierten eine demokratische Reform zugunsten der Bevölkerung. So wurden die Steuern für multinationale Konzerne der Erdölindustrie erhöht, die Minimallöhne wurden leicht höher als die Inflation angesetzt und ein Programm zur Gesundheitsversorgung in den Armenvierteln durchgesetzt. Ein demokratischer Aufstand machte den Staatsstreich vom April 2002 zunichte, was in neue soziale Errungenschaften mündete: die Einrichtung der Misiones, des Kündigungsschutzes, der Schutz der Löhne mittels staatlicher Betreibung von Unternehmen. Die Mehrwertsteuer wurde auf 9 % gesenkt.

Die Regierung erlangte durch die Unterstützung der Massen eine gewisse politische Unabhängigkeit gegenüber dem Imperialismus. Der Regierung Chávez fehlte jedoch eine Strategie zum Bruch mit dem Kapitalismus. Obwohl die Regierung Chávez das seit 1958 bestehende Zweiparteiensystem beendete, versäumte sie es, die Korruption und die Verletzungen der Menschrechte aus jener Periode strafrechtlich zu verfolgen. Die Auslandschulden wurden keinem Audit unterzogen noch wurde der Schuldendienst eingestellt. 1999 wurde mit den USA sogar ein Doppelbesteuerungsabkommen abgeschlossen und die Rolle von Venezuela als Erdöllieferant vertiefte sich über die Geschäftstätigkeit von Konzernen wie Chevron, Repsol, ENI, Total und Mitsubishi.

Ab 2005 ist eine klare Wende der Regierung Chávez erkennbar. Sie änderte ihre Beziehungen zu der Arbeiterklasse und der breiten Bevölkerung und versuchte, diese immer stärker zu kontrollieren. Sie stützte sich zusehends auf den staatlichen Verwaltungs- und Repressionsapparat, wie dies bereits mit der Kontrolle der Armee und der staatlichen Erdölfirma PDVSA der Fall war. So wurde ein neues System der Regierung aufgebaut, zugunsten der Entwicklung einer neuen, an der Macht beteiligten Bourgeoisie. Nach der Vereinbarung zwischen Chávez, Cisneros und Carter, die im August 2004 ausgehandelt wurde, wurden diese Bindungen zusehends fester, beispielsweise mit der Schaffung von gemischten Unternehmen in der Erdölbranche zwischen 2005 und 2006, die allmählich die operativen Vereinbarungen ersetzten, die im Rahmen des Programmes der Apertura Petrolera [Öffnung des Erdölsektors] in den 1990er Jahren durch den Staat unterzeichnet wurden. Das internationale Kapital übernahm mittels Verträgen von  bis zu vierzig Jahren Laufzeit 40 % von den gemischten Unternehmen.

Die PSUV, die Gemeinderäte, die Miliz, die Arbeiterräte wurden zu Instrumenten dieser Politik gemacht. Sie versuchte, der Arbeiter- und Massenbewegung eine Zwangsjacke zu verpassen und diese mit Hilfe einer Kombination von Klientelismus und Zwang in die bürgerlichen Struktur des Staates einzugliedern. Zwischen 2006 und 2007 gelang es der Regierung, die Unión Nacional de Trabajadores [nationale Arbeiter-Vereinigung, ein linker Gewerkschaftsdachverband] zu spalten, die Arbeiterkontrolle und die Selbstverwaltung in der Fabrik Sanitarios Maracay zu zerschlagen, den Putschisten Straffreiheit zu gewähren. Im Jahre 2008 leitete Präsident Chávez die Kampagne «strategisches Bündnis mit der nationalen Bourgeoisie» ein. Dies ist den auch der konkrete Inhalt des sogenannten «Sozialismus des 21. Jahrhunderts», einem politischen Projekt, das mit Unterstützung von multinationalen Konzernen, Bankiers, Grossgrundbesitzern, millionenschweren Bürokraten und neuen Reichen aufgezogen wurde.

Die Hauptursachen der Wirtschaftskrise

Trotz der Verfügung über die riesigen Einnahmen, die aus dem Anstieg der Rohstoffpreise entstanden, insbesondere des Erdöls (das über die vergangene Dekade reale Preise vergleichbar denen zu Beginn der achtziger Jahre erzielte), wurde das Land immer abhängiger. Im Jahre 1998 kam das Erdöl für 68 % der Exporte auf, momentan beläuft sich dieser Anteil auf 96 %. Zwischen 1999 und 2013 betrug die kumulierte Inflation 2‘300 % während eine Geldentwertung von 95 % stattfand. Die Importe verdreifachten sich nahezu in dieser Periode. Selbst die Importe von Erdölderivaten übertrafen 2012 die Exporte. Die öffentlichen Schulden, zusammengesetzt aus externen und internen Schulden und Schulden der PDVSA ist deutlich angewachsen und übersteigt 200 Milliarden Dollar; sie beinhalten auch drakonische Schuldverpflichtungen, wie den zukünftigen Verkauf von Erdöl an China, dem Land, das Gläubiger für etwa einem Viertel der Auslandsschuldenschulden ist. Etwa 20 % der Steuereinnahmen von 2014 wurden für den Schuldendienst an Auslandsschulden aufgewendet.

Weit entfernt von der öffentlichen Propaganda bezüglich des Aufbaus des Sozialismus wuchs der Anteil des privaten Sektors am PIB zwischen 1999 und 2009 von 65 % auf 70 %, und die sogenannte «soziale Ökonomie», die in der offiziellen Propaganda als Modell für ein alternatives Modell fungiert und kleine Familienbetriebe und Kooperativen umfasst, trägt knapp 1 % bei. Mit der Schwächung der Lohneinkommen nahm die kapitalistische Ausbeutung der Lohnarbeit zu. 1998 betrug der Anteil der Lohneinkommen am nationalen Einkommen 38.7 % und das der Unternehmer 32.8 %. Ein Jahrzehnt später betrug dieser Anteil für die Lohnabhängigen nur mehr 32.8 % und die Unternehmer konnten sich 48.8 % des geschaffenen Reichtums aneignen. Gleichzeitig konnte der Finanzsektor zwischen 2002 und 2012 seinen Anteil um das Dreifache auf 12 % steigern.

Über 70 % der konsumierten Nahrungsmittel sind importiert, während der unproduktive Grossgrundbesitz auf dem Lande weiterbesteht: 1 % der Agrarbetriebe deckt eine Fläche von 40 % der gesamten Agrarfläche. Es gab keine Agrarreform, es gelang weder, den Agrarbesitz zu demokratisieren noch die landwirtschaftliche Produktion anzukurbeln. Alles in allem ist die nationale Produktion nicht gewachsen und so stieg die Auslandabhängigkeit hinsichtlich der Einfuhr von Lebensmitteln und allen Konsumgütern für die breite Bevölkerung.

Von dem Einbruch der Dollarreserven des Landes wurde die Einfuhr der notwendigen Güter für die Produktion beeinträchtigt. Dies erklärt zusammen mit dem Druck der Unternehmer, Zugeständnisse für regulierte Preise zu erhalten, wie auch der durch die Disparität zwischen dem offiziellen Wechselkurs und dem Schwarzmarkt provozierte Schmuggel die Knappheit der Konsumgüter und die langen Schlangen vor den Einkaufszentren. Die Verstaatlichungen – erzwungene Verkäufe zu Marktpreisen – wie etwa Zementfabriken, im Schwermetallsektor, Agropatria oder Lácteos Los Andes ziehen keine Verbesserung der Arbeitsbedingungen oder eine Erhöhung der Produktion nach sich, sondern finden im Rahmen einer Politik statt, die die unabhängigen Gewerkschaften liquidieren will, die Arbeitsgesetzgebung missachtet und die Verhandlungen zwischen der obersten  Regierungsbürokratie und den chavistischen Unternehmern bevorzugt.

Gibt es eine andere Lösung der Krise?

Die rechtszentristische Opposition, die sich um die Mesa de la Unidad Democratica [MUD; Einheit der Demokratischen Verhandlungen] schart, ist mit der Regierung im Einklang darüber, dass die Sparprogramme die einzige Lösung der Krise sind, während sie politisch und elektoral aus dem Debakel der Regierung Gewinn schlägt. Die grosse und dringende Aufgabe der Arbeiterklasse und der breiten Bevölkerung in Venezuela besteht darin, dass sie die Ketten zerbrechen müssen, die sie an die PSUV und an die MUD binden, um den neoliberalen Gegenreformen Widerstand leisten zu können.

Der Krise kann begegnet werden, indem sie denen aufgebürdet wird, die sie verursachen: Die vollständige Nationalisierung der Erdölindustrie und deren Einnahmen zurückgewinnen, die momentan von den an den gemischten Unternehmen beteiligten multinationalen Konzernen eingeheimst werden; dabei geht es jährlich um geschätzte 15 Milliarden. Die Einstellung des Schuldendienstes an den betrügerischen Auslandsschulden würde dieses Jahr etwa 10 Milliarden einbringen. Die Besteuerung der Firmen, die aufgrund der Doppelbesteuerungsabkommen nichts bezahlen, würden jährlich etwa 17 Milliarden Dollar einbringen. Die Heimführung von ca. 14.8 Milliarden, die aus der Korruption stammen und auf Banken wie der englischen HSBC z.B. in der Schweiz Schutz finden und die Einziehung der Vermögen von Briefkastenfirmen, die mit Überfakturierung von Importen in massive Betrügereien verwickelt sind.

Alle diese Einnahmen könnten die Firmen im Stahl- und Aluminiumproduktion, wie auch die landwirtschaftliche Produktion stützen und für eine Erhöhung der Löhne genutzt werden, so dass die Minimallöhne mindestens dem offiziellen Warenkorb der Grundversorgung angeglichen würde; ferner müssten die Gelder verwendet werden, um die öffentliche Gesundheitsversorgung und das öffentliche Bildungswesen wieder auf den vorhergehenden Stand zu bringen. Um diese Art von Massnahmen umzusetzen ist es jedoch notwendig, der roten Bourgeoisie und der pro-imperialistischen Opposition die Stirn zu bieten und eine Regierung der Arbeiterklasse und der breiten Bevölkerung durchzusetzen.

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