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Betriebsfibel. Ratschläge für die Taktik am Arbeitsplatz (1971)

Eingereicht on 15. Dezember 2020 – 11:30

Berni Kelb. Unsere Arbeit gilt der revolutionären Umgestaltung der Gesellschaft. Sie hat das Ziel, jede Form der Herrschaft von Menschen über Menschen und die darauf beruhende Ausbeutung zu brechen. Auch die heute überwiegend verbreitete indirekte Herrschaft. Diese sieht durch eine scheinbare sachliche Vermittlung so aus, als ob sie keine Herrschaft von Menschen über Menschen sei: Es herrschen Menschen über Sachen (Produktionsmittel) — und diese Sachen herrschen über andere Menschen. Ob die Produktionsmittel privates oder staatliches Eigentum sind, spielt dabei für die Beherrschten kaum eine Rolle. Es kann an dieser Stelle keine ausführliche kritische Analyse des herkömmlichen Klassenbegriffs geleistet werden. Auf das Problem muß trotzdem kurz eingegangen werden. Es ist zu klären, wo die Front im revolutionären Kampf verläuft.

Der Feind – üblicherweise etwas unkritisch als Klassenfeind personifiziert – ist nicht eine klar abgrenzbare Personengruppe (Klasse). Der Kampf richtet sich viel mehr gegen das ganze herrschende System von Unterdrückung und Herrschaft, von Ausbeutung und Privilegierung. Jeder Einzelne ist – unabhängig von seiner sozialen Stellung – vom Wohlwollen seiner Oberen abhängig. Und er ist gegenüber denen, die unter ihm stehen, privilegiert. Dieses Prinzip ist nur zu durchbrechen, wenn die Vereinzelung aufgehoben wird. Also durch Solidarität. Da ist die Barrikade: Ist einer bereit, sich mit Seinesgleichen und Untergebenen zu solidarisieren – oder ist er bestrebt, sich nach oben anzupassen? Jenachdem ist er in seinem Verhalten revolutionär oder nicht. Der Feind steht immer oben. Der konkrete Feind ist jeweils der nächsthöhere Vorgesetzte, der sich nicht mit seinen Untergebenen solidarisiert. Für einen Arbeiter ist die Unterdrückung durch einen despotischen Vorarbeiter viel anschaulicher, als die durch einen jovialen Direktor.

Auf der anderen Seite der Barrikade steht grundsätzlich jede Autorität, die nicht bereit ist, sich von unten in Frage stellen zu lassen. Dabei ist es gleich, ob es sich um Einzelpersonen oder um Institutionen handelt. Das gilt für den Meister ebenso wie für den Professor, den Oberkreisdirektor, Lehrer oder Generaldirektor. Es gilt gleichermaßen für Kirchen wie für Gewerkschaftsapparate, Aktiengesellschaften, Rote Zellen, Behörden oder zur Macht gekommene sich kommunistisch nennende Parteien. Das revolutionäre Ziel ist ein einfacher Sozialismus. So einfach, daß ihn jeder versteht und ihn haben will. Nicht nur ein Arbeiter, sondern selbst ein aufgeweckter Intellektueller. Das Ziel kann – etwas vereinfacht – auf die kurze Formel gebracht werden: Niemand darf anderen Menschen einen Vorgesetzten vor die Nase setzen, den diese nicht gewählt haben. Dieses Prinzip – in allen Bereichen der Gesellschaft konsequent durchgeführt – schließt die Vergesellschaftung von Produktionsmitteln ebenso ein, wie die Entmachtung von Bürokratie. Es beinhaltet gleichermaßen den Sturz des Kapitalismus und ein menschlicheres System in den nichtkapitalistischen Staaten. Es bedeutet eine durch Druck von unten erzwungene ständige Ausweitung der Demokratie. Sie fängt am Arbeitsplatz an. Jede erreichte Stufe bietet bessere Voraussetzungen für die weiteren Schritte. Sie ermöglicht eine Verbreiterung, Intensivierung und Beschleunigung des Kampfes. Bis dieser schließlich in eine die ganze Gesellschaft erfassende siegreiche Revolution mündet. Dieses Prinzip bedeutet hingegen niemals eine Einschränkung der Demokratie. Ganz gleich, wie sie begründet wird (»vorübergehend«, »durch die objektiven … Bedingungen erzwungen« usw.). Auch nicht im Namen der Revolution. Mit einer Einschränkung der Freiheit im Namen der Revolution beginnt die innere Konterrevolution.

Quelle: arbeitsunrecht.de… vom 15. Dezember 2020

Bild: Streik Ende der 1960er Jahre bei Hoesch in Dortmund

Ganze Broschüre: berni-kelb_betriebsfibel

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