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Schweiz : Die Sackgasse der Gewerkschaften auf dem Bau

Eingereicht on 14. Dezember 2015 – 18:06

Im Schweizer Bauhauptgewerbe kam es – wie bislang immer – zu einer Einigung, nachdem die Unternehmer angesichts der Schwäche der Mobilisierungsfähigkeit der Gewerkschaften keine wirklichen Zugeständnisse an die Arbeiterinnen und Arbeiter machen mussten.

Der bestehende Vertrag wird um zwei Jahre bis Ende 2017 verlängert und die Unternehmer bezahlen zusätzlich 1,5% und die Arbeiterinnen und Arbeiter 0,5% in die Rentenkasse, damit die Finanzierung der Frühverrentung mit 60 Jahren gesichert bleibt. Zudem gibt es keine Lohnerhöhungen. Auch den Unternehmern liegt an der Fortführung dieser Errungenschaft aus dem Kampfzyklus von 2001/2002, denn die Arbeit auf dem Bau ruiniert die Gesundheit, so dass ab dem 60. Alterjahr die Krankheitsrate stark zunimmt.

Dieser Text eines Tessiner Gewerkschafters und Genossen der Gauche anticapitaliste wurde kurz vor dem Abschluss der Vereinbarung zwischen den Führungen der Gewerkschaften Unia und Syna mit dem Baumeisterverband vom 8. Dezember 2015 verfasst.

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Matteo Poretti. Zwischen dem vergangenen 9. und 11. November haben sich 8’300 Bauarbeiter[*]mobilisiert, um die Aufnahme von Verhandlungen für die Erneuerungen des Landesmantelvertrages (LMV) im Bauhauptsektor zu fordern. Es waren deren 2´500 im Tessin, 2´000 in Genf, 500 in Neuchâtel, 300 im Jura und 3´000 in der ganzen Deutschschweiz. Die Unternehmer wollten den Vertrag lediglich um ein Jahr und ohne Änderungen verlängern.

Die Frühpensionierung in Gefahr

Der Schweizerische Baumeisterverband (SBV), die Dachorganisation der Bauunternehmer, wollte die Frühpensionierung mit 60 vorerst angreifen. Diese ist die letzte grosse Errungenschaft der Schweizer Bauarbeiter und geht zurück auf das Jahr 2002. Der Fonds für die Frühpensionierungen hat jedoch einige finanzielle Probleme: In den nächsten sieben Jahren wird mit einer grossen Zahl von Frühpensionierungen gerechnet. Der bestehende Fonds, aus dem diese finanziert werden sollen, wird nicht in der Lage sein, diese in ihrem vollen Umfange abzudecken. Gemäss verschiedenen Studien könnte dies durch eine Erhöhung der Beiträge um 1,5% bis 2% erreicht werden. Die Unternehmer ihrerseits steuern eine lineare Kürzung der Renten um 18% an! Das heisst, sie wollen die Frühpensionierung zerschlagen.

Bevor wir zu einer näheren Betrachtung der Streitpunkte übergehen und eine erste Bilanzierung der gewerkschaftlichen Mobilisierungen vornehmen, ist es hilfreich, auf die Situation der Unternehmer und der Lohnabhängigen im Schweizer Bauhauptgewerbe einzugehen.

Auf praktisch allen Baustellen wiederholen die Baumeister unablässig, dass sie alles tun, um «ihren Betrieb» aufrechtzuerhalten und den Lebensunterhalt der Familien der Bauarbeiter zu sichern. Mit anderen Worten, die Bauwirtschaft sei in einer schwierigen Lage und würde keine Profite abwerfen. Die Zahlen und die Tatsachen weisen auf eine ganz andere Realität für die Baumeister.

Wenn man auf die Entwicklung des Mehrwertes (sehr schematisch: Der zusätzliche Reichtum, der durch die Arbeiterinnen und Arbeiter eines Unternehmens, eines Wirtschaftszweiges oder einer Volkswirtschaft erschaffen wird) schaut, so sind die Zahlen für das Schweizer Bauhauptgewerbe sehr positiv. Seit 1999 kann man ein regelmässiges Wachstum beobachten: Der Mehrwert ist – gemäss den Angaben des SBV – im Bauhauptgewerbe von 15,13 Milliarden Franken im Jahre 2000 auf 20,11 Milliarden Franken im Jahre 2014 angestiegen. Dies bedeutet ein Anstieg um 33%.

Aber wohin geht der produzierte Reichtum?

Von daher stellt sich die Frage, wer den produzierten Reichtum eingeheimst hat. Die Zahlen sind eindeutig.  Die Reallöhne im Bauhauptgewerbe sind zwischen 1995 und 2013 um 8,8% angestiegen, während im gleichen Zeitraum die Produktivität um 24% gewachsen ist. Aus dem Vergleich dieser Zahlen geht klar und deutlich hervor, dass der übergrosse Anteil der Produktivitätsgewinne in die Taschen der Unternehmer gewandert ist. Denn die Zunahme der Löhne lag weiter unter derjenigen der Produktivität. Der den Arbeiterinnen und Arbeitern ausgepresste Mehrwert hat sich also in Profit verwandelt.

In einer Publikation vom Sommer 2013 stellt der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB) fest: «Die Entwicklung der Arbeitsproduktivität pro Kopf war im Zeitraum 2007 bis 2012 mit einer Zunahme um 12,39% sehr positiv für das Baugewerbe. Die Arbeiter im Baugewerbe wurden letztendlich sehr schlecht entlohnt, da im Bauhauptgewerbe – das dem Landesmantelvertrag (ohne die Vorarbeiter) unterstellt ist – die Reallöhne im selben Zeitraum lediglich um 4,6% gewachsen sind.»

Die Intensivierung der Arbeit als Quelle des Profits

Sogar der Bauindex Schweiz, eine durch die Credit Suisse und den Schweizer Baumeisterverband quartalsweise herausgegebene Publikation, bestätigt diese Tendenz. So spricht die Nummer des zweiten Quartals 2014 von einem «auf Produktivitätswachstum beruhenden Wachstum». Und betont: Dass «gerade im Bausektor das Wachstum der vergangenen Jahre ohne grosses Stellenwachstum erreicht werden konnte. Wenn die Stellenzahl im Bausektor im Allgemeinen überhaupt gewachsen ist, so in den Bereichen der Planung, der Technik und des Vertriebes. Die Entwicklung der Kompetenzen hat in zahlreichen Unternehmen einen Produktivitätsgewinn nach sich gezogen. … Zwischen 2001 und 2013 stand ein Produktivitätswachstum von 33% einer Zunahme des Volumens der Projekte im Bauhauptgewerbe um 50% gegenüber».

Diese Produktivitätsgewinne, so stellt der Bericht klar fest, wurden durch den menschlichen Faktor ermöglicht, das heisst durch eine markante Zunahme der Arbeitsintensität, also einer zunehmenden Ausbeutung der lebendigen Arbeit. Für diese Schlussfolgerung genügen die Angaben des SBV: Im Jahre 2000 kamen im Bauhauptgewerbe 95´393 Bauarbeiter für einen Umsatz von 16,14 Milliarden Franken auf. 2014 waren es nur mehr 79´000, die einen Umsatz von 20,11 Milliarden Franken erarbeiteten….

Dreizehn Jahre später treten die Gewerkschaften immer noch an Ort

Angesichts der steigende Profite weist die Offensive der Unternehmer im Bauhauptgewerbe auf den beunruhigenden Zustand der Gewerkschaftsbewegung hin, insbesondere der Unia, der weitaus wichtigsten Gewerkschaft in diesem Sektor. Während die Bauunternehmer alle Mittel in Bewegung setzen, um die Rentabilität des investierten Kapitals zu erhöhen, war die Unia nicht in der Lage, den Kampf zu organisieren, um gerade auf den Baustellen ein wirkliches Kräfteverhältnis zu entwickeln, damit die Rechte der Bauarbeiter verteidigt werden können. Der letzte Sieg der Gewerkschaften geht mit der Erkämpfung der Frühpensionierung mit 60 auf das Jahr 2002 zurück.

Die Gewerkschaften haben bei den Mobilisierungen vom vergangenen 9. und 11. November nur 10,5% der Bauarbeiterinnen und Bauarbeiter mobilisiert. Schlimmer noch: Die Mobilisierungen waren sehr konzentriert: Zwei Kantone nur – Genf und Tessin – haben 54% der Teilnehmenden gestellt. Dabei handelt es sich um zwei eher marginale Regionen bezüglich der Bestimmung der Dynamik der Bauwirtschaft und von deren Vertragspolitik. Anders gesagt, ihre Möglichkeiten, das Kräfteverhältnis auf nationaler Ebene zu beeinflussen, sind eher gering.

Die Unia ist nicht mehr mobilisierungsfähig

Aufgrund der schwachen Teilnahme der Bauarbeiterinnen und Bauarbeiter an den Mobilisierungen aus den wichtigen Regionen der Deutschschweiz, die im politischen und wirtschaftlichen Kräfteverhältnis entscheidend sind, fällt die Bilanz negativ aus. 69% der Lohnabhängigen im Bauhauptgewerbe arbeiten in der Deutschschweiz. Die Gewerkschaft Unia schaffte es nur, 3´000 auf 53´800 von ihnen in Bewegung zu setzen, das heisst nur 5,4%.

Diese Zahlen werfen ein etwas anderes Licht auf diese Mobilisierungen. Sie verweisen auf die strukturelle Krise, in der sich die Gewerkschaft Unia mittlerweile festgefahren hat. In der Tat sind diese Grössen der Teilnehmerzahlen die gleichen, wie wir sie über die vergangenen 15 Jahre von den Baustellen der Deutschschweiz und leider auch von einigen Kantonen der Westschweiz her kennen.

Ursachen

Das Problem ist nicht einfach objektiven Umständen zuzuschreiben. Die Bauarbeiter im Tessin und in Genf sind kaum anders als ihre Kolleginnen und Kollegen in Zürich oder in Luzern. Sie erleiden dieselben Angriffe und verteidigen die gleichen Interessen. Die Unterschiede liegen im konkreten Ansatz und in der Grundorientierung,  worauf die jeweilige Gewerkschaftsarbeit beruht. In der Deutschschweiz setzen die Gewerkschaften, gerade auch die Unia, auf die Entwicklung einer Gewerkschaftsarbeit, die weiterhin unbedingt an der Sozialpartnerschaft und dem absoluten Arbeitsfrieden festhält. Sie haben sich dabei durchaus eine modernisierte Version zugelegt: Die Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter tragen Jacken gemäss dem letzten Modeschrei zur Schau und gewinnen Neueintritte mithilfe von propagandistischen Strategien, die stark an Marketingstrategien erinnern. Wir erleben eine Verkalkung einer Grundeinstellung, die dem sozialen Konflikt– dem Klassenkampf – ausweicht, dem entscheidenden Instrument der gewerkschaftlichen Arbeit. De modernisierte Variante des Arbeitsfriedens erweist sich einmal mehr als unfähig, die Lohnabhängigen zu organisieren. Dazu wäre eine wirkliche Präsenz am Arbeitsplatz erforderlich, damit eine breite soziale Bewegung entstehen könnte, imstande, der Front der Unternehmer wirklich gegenüberzutreten.

Dass die Gewerkschaft im Tessin –trotz der sehr schwierigen sozialen Lage – 2´500 Bauarbeiter mobilisieren konnte, ist keineswegs einer Zauberei geschuldet. Der Grund ist einfach: In dieser Region gründet die gewerkschaftliche Orientierung nicht auf dem Arbeitsfrieden und ebenso wenig einfach nur auf Propaganda. Die Gewerkschaft ist kontinuierlich auf allen Baustellen präsent; sie baut Kontakte auf und stellt so die Nähe und das Vertrauen zu den Arbeitern auf; sie organisiert sie und entwickelt mit ihnen eine kämpferische Logik. Diese Arbeit, die als oberstes Ziel die Verteidigung der Interessen der Lohnabhängigen hat, müsste die Grundlage jeder gewerkschaftlichen Praxis sein. Unglücklicherweise bildet sie aber immer noch und wohl bis auf weiteres die Ausnahme….

Ein neuer Vertrag?

Es ist immer schwierig, Prognosen zu machen. Und trotzdem müssen zwei wichtige Faktoren in Betracht gezogen werden. Erstens ist die Mobilisierung der Bauarbeiter vom November kein geeigneter Ausgangspunkt. Sie stellt kein Vorspiel  einer wirklichen sozialen Mobilisierung dar, die in der Lage wäre, die Unternehmer zum Einlenken zu zwingen. Der Handlungsspielraum der Gewerkschaften ist beschränkt, und die Mobilisierung würde nicht über das hinausgehen, was wir im November gesehen haben.

Zweitens sind die Prognosen für das Baugewerbe in der Schweiz positiv. Keine Krise ist in Sicht. Die günstige Konjunktur soll sich im Jahre 2016 fortsetzen. Nachher könnte es zu Anpassungen kommen, angesichts der rekordhohen Profite, wie sie über die vergangenen Jahre erarbeitet wurden. Eine Krise, wie die von Mitte der 1990er Jahre, sollte jedoch nicht eintreten, zumindest solange nicht, wie die Hypothekarzinsen so tief bleiben. In diesem Kontext können die Bauunternehmer noch darauf verzichten, die Konfrontation aufs Äusserste zu treiben, frontal anzugreifen, um die Errungenschaften zu zerschlagen, wie sie im Landesmantelvertrag des Bauhauptgewerbes niedergelegt sind. Sie verfügen über die Mittel für die Aufrechterhaltung der Frühpensionierung zu den aktuell gültigen Bedingungen. Die bereits realisierten und die erwarteten Profite erlauben ihnen diese Zugeständnisse. Dies umso mehr, als dass in gewisser Weise der LMV ebenfalls dazu dient, die Konkurrenz auf dem helvetischen Markt der Bauunternehmer zu kontrollieren und heftige Entgleisungen zu verhindern.

Wir brauchen eine Änderung der gewerkschaftlichen Strategie!

Die Interaktion dieser zwei Faktoren könnte also zum Abschluss eines Vertrages führen, der es den Gewerkschaften erlauben würde, ihr Gesicht zu wahren und den Unternehmern ermöglichen würde, dank dem Beharren auf dem Arbeitsfrieden weiterhin hohe Profite einzustreichen.

Sicherlich sind dies vorderhand nur Spekulationen. Demgegenüber ist sicher, dass sofern die Gewerkschaften, allen voran die Unia, dieses «neue und freundliche Zugeständnis» nicht nutzen für die schnelle Entwicklung einer vollständig neuen gewerkschaftlichen Strategie, sie auf eine tragische Weise ohnmächtig sein werden, sobald sich die Unternehmer entschliessen – aufgrund eines konjunkturellen Wandels oder aus anderen strategischen Gründen –, unverzüglich die Rechte Tausender von Arbeiterinnen und Arbeiter und deren Arbeitsbedingungen anzugreifen. Das Hauptproblem besteht darin, dass die Gewerkschaftsführungen nicht zu begreifen scheinen, dass die Sackgasse, in der sie sich seit 15 Jahren befinden, vom gegenwärtigen Koma leicht in den Tod der Gewerkschaften führen kann. Der gewerkschaftliche Kampf kann nicht improvisiert werden, er wird aufgebaut!

Quelle: www.gauche-anticapitaliste.ch vom 8. November 2015. Übersetzung Redaktion  maulwuerfe.ch

[*] Da im Bauhauptgewerbe fast ausschliesslich Männer arbeiten, wird im Folgenden jeweils nur die männliche Form verwendet.

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