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Zur Herausbildung des europäischen Postfaschismus

Eingereicht on 26. Dezember 2015 – 9:08

Der Historiker Enzo Traverso definiert den Postfaschismus als eine Erscheinung, die sich grundlegend vom klassischen Faschismus unterscheidet.

Seine Herausbildung geht mit einer tiefgreifenden politischen Transformation einher, deren Ergebnis noch weitgehend im Dunkeln liegt. Traverso rückt auch den sogenannten «Islamo-Faschismus» in diesen Kontext.

Es unterliegt keinem Zweifel, dass sich die politischen Regimes in Europa in einem tiefgreifenden Umbruchprozess befinden. Die seit drei bis vier Jahrzehnten andauernden Angriffe auf die Errungenschaften und Kampfkraft des Proletariats, die teilweise von der Sozialdemokratie und den Zerfallsprodukten der kommunistischen Parteien, insbesondere den eurokommunistischen Formationen, mitgetragen wurden, haben die materiellen Probleme weiter Teile der Arbeiterklasse vergrössert und deren traditionellen politischen Orientierungsgrössen als ein Trümmerfeld zurückgelassen. Nicht umsonst wenden sich vor allem vernachlässigte Segmente der lohnabhängigen Mittelschichten und des traditionellen Industrieproletariats vermehrt national-chauvinistischen politischen Bewegungen zu, wie in der Schweiz der Schweizerischen Volkspartei, in Italien der Lega Nord, in Frankreich dem Front national, in Deutschland der Alternative für Deutschland und der Pegida.

Diese hinwiederum treten mit eigenen Konzepten für eine Sozialpolitik auf – ausser die SVP, die bislang ihre Basis mit fremdenfeindlichen, national-chauvinistischen Konzepten für eine forsche Politik des Sozialabbaus mobilisieren konnte; dies hat wohl seinen Grund darin, dass sich das politische System in der Schweiz bisher als stabiler als in anderen Ländern gezeigt hat. Kein Wunder: Die sozialen Zerstörungskräfte des Neoliberalismus haben hierzulande aufgrund der hohen Tantiemen des helvetischen Imperialismus noch nicht so nachhaltige Spuren hinterlassen.

Das nachfolgende Interview wurde von Reger Martelli und Catherine Tricot am 9. Dezember 2015 für die Jahresend-Ausgabe der französischen Zeitschrift Regards geführt. Übersetzung aus dem Französischen durch die Redaktion maulwuerfe.ch

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Der Aufstieg der radikalen Rechten in Europa ruft viele Erinnerungen an den historischen Faschismus wach. Sie haben Ihre Reserven gegenüber solchen Analogien geäussert. Weshalb?

Die radikalen rechten Parteien, die heute in Europa aufsteigen – in einigen Ländern wie etwa in Frankreich der Aufsehen erregende Aufstieg des Front national – werden durch die wirtschaftliche Krise genährt, wie ihre Vorfahren in den Zwischenkriegsjahren. Aber diese Krise ist von jener sehr verschieden, die Zusammenhänge haben sich grundlegend verschoben, und auch die extremen Rechten sind nicht mehr die gleichen. Während der Dreissiger Jahre schien der Kapitalismus durch einen Zusammenbruch bedroht. Einerseits aufgrund der internationalen Rezession und, andererseits, wegen der Existenz der UdSSR, die sich im globalen Rahmen als eine Alternative zu einem System darstellte, das alle als historisch am Ende betrachteten. Die Krise der vergangenen Jahre war zunächst eine Finanzkrise, dann setzte sie sich in Europa als eine Krise der öffentlichen Schulden durch. Heute geht es dem Kapitalismus sehr gut, und es ist keine Alternative in Sicht; er vertieft die sozialen Ungleichheiten und gleichzeitig baut er seine Herrschaft über den ganzen Planeten aus.

Wie verhält sich der Kapitalismus heute gegenüber den Bewegungen der extremen Rechten?

In den Dreissiger Jahren wurden die herrschenden Eliten in die Spirale des Nationalismus gezogen, wie sie durch den Ersten Weltkrieg erst richtig in Gang gesetzt wurde. Sie betrachteten den Faschismus als eine mögliche politische Option (zunächst in Italien, dann in Deutschland, Österreich, Spanien, in Zentraleuropa, usw.). Ohne diese Unterstützung hätten sich die verschiedenen Faschismen nicht aus plebejischen Bewegungen in politische Regimes verwandeln können.

Heutzutage jedoch unterstützt der globalisierte Kapitalismus die Bewegungen der extremen Rechten nicht; er fühlt sich recht wohl mit der Troïka – der Europäischen Kommission, der Europäischen Zentralbank und dem Währungsfonds. In der Dreissiger Jahren drückten die Faschismen eine diffuse Tendenz zur Stärkung des Nationalstaates aus, was verschiedene Analysten, noch vor dem Machtantritt Hitlers in Deutschland, als Entstehung eines totalen Staates interpretierten (Stärkung der Exekutive, staatliche Intervention in die Wirtschaft, Militarisierung, Nationalismus, usw.).

Der «Staat des Ausnahmezustandes», wie er heute Gestalt annimmt, ist nicht faschistisch, sondern neoliberal: Er verwandelt die politischen Autoritäten in einfache Vollzugsorgane der Entscheidungen der Mächtigen des Finanzkapitals, die die globale Wirtschaft beherrschen. Er ist kein starker Staat, eher ein unterworfener Staat, der einen grossen Teil seiner Souveränität an die Märkte übertragen hat.

Sie haben vorgeschlagen, für die Bezeichnung der heutigen radikalen Rechten den Begriff des «Post-Faschismus» zu verwenden. Gleichzeitig anerkennen Sie die Grenzen dieses Begriffs. Können Sie dieses Argument etwas ausführen?

Der Begriff des «Post-Faschismus» bezeichnet einen Übergang, von dem man aber noch nicht weiss, wohin er führen wird. Die radikale Rechte bleibt weiterhin geprägt durch ihre faschistischen Ursprünge (in Osteuropa beispielsweise bezieht sie sich sogar auf diese historische Kontinuität); sie versucht jedoch sich von dieser schweren Erbschaft zu befreien und sich mit einem neuem Kleid zu versehen, indem sie ihre Kultur und ihre Ideologie von Grund auf ändert. Ihre Herkunft aus dem klassischen Faschismus wird für sie zu einem immer grösseren Problem.

Der Fall des französischen Front National ist besonders bezeichnet für diese Veränderung, wie durch den Konflikt zwischen Jean-Marie und Marine Le Pen aufgezeigt wird: eine dynastisch vererbte Parteiführerschaft, wo der Vater die ursprüngliche faschistische Seele und die Tochter eine neue Seele verkörpert, die die alten Werte (Nationalismus, Fremdenhass, Rassismus, Autoritarismus, Wirtschaftsprotektionismus) in einen republikanischen und liberal-demokratischen Rahmen zu verpflanzen möchte.

Was sind die Auswirkungen dieser «post-faschistischen» Veränderung?

Diese Veränderung könnte den politischen Rahmen sprengen. Als sich nach den Anschlägen vom Januar und insbesondere vom November die gesamte politische Klasse Frankreichs auf die Positionen des Front National stellte, wurde es beinahe unmöglich, im Namen der Republik gegen diesen zu kämpfen. Der Front National ist keine anti-republikanische Kraft, wie es die Action française unter der III. Republik noch war. Seine Veränderung spiegelt vielmehr die inneren Widersprüche des republikanischen Nationalismus. Es handelt sich nur mehr in Ausnahmefällen um einen Übergang des Faschismus in die Demokratie. Vielmehr um eine Veränderung in Richtung zu etwas Neuem, noch Unbekanntem, mit dem die gegenwärtigen, real-existierenden Demokratien in Frage gestellt werden. Nicht mehr der klassische Faschismus, aber auch noch nicht etwas Anderes: In diesem Sinne spreche ich von Post-Faschismus.

Im gedanklichen Universum des «Post-Faschismus» hat der Hass auf den Moslem den traditionellen Platz des Antisemitismus eingenommen. Wie funktioniert das?

Historisch war der Antisemitismus ein Pfeiler des europäischen Nationalismus, insbesondere in Deutschland und Frankreich. Dabei handelte es sich um so etwas wie einen kulturellen Code, um den herum eine Idee einer nationalen Identität konstruiert werden konnte: Der Jude verkörperte das «Anti-Frankreich», ein Fremdkörper, der die Nation von innen her zerfrass und schwächte. Der nazistische Epilog des Genozides tendiert dazu, den Judenhass zu singularisieren und die grundlegenden Analogien zwischen dem Vorkriegs-Antisemitismus und der aktuellen Islamophobie zu verwischen.

Wie der Jude von einst ist der Moslem nun zum inneren Feind geworden: nicht integrierbar, Anhänger einer Religion und einer Kultur, die den westlichen Werten fremd ist, alsein korrumpierender Virus der Sitten und eine andauernde Bedrohung der Gesellschaftsordnung… Der anarchistische oder bolschewistische Jude wurde durch den dschihadistischen Moslem ersetzt, die Hakennase durch den Bart, der jüdische Kosmopolitismus durch den internationalistischen Dschihad. Die Ablehnung des islamischen Schleiers hat die Frauenverachtung und die Homophobie des klassischen Faschismus ersetzt.

Kann die Analogie auf andere Aspekte erweitert werden?

In der Tat gibt es andere Analogien: Das bedauerliche Schauspiel unserer Staatschefs, die sich gegenseitig den Schwarzen Peter zuschieben, um keine Flüchtlinge aufzunehmen, die aus den von unseren «humanitären Kriegen» verwüsteten Gebieten fliehen, erinnert in etwa an die Konferenz von Evian von 1938, an der die grossen Westächte keine Vereinbarung erzielen konnten zur Aufnahme von jüdischen Flüchtlingen aus den von den Nazis beherrschten Ländern Deutschland und Österreich.

Heute verkünden in mehreren westeuropäischen Ländern die post-faschistischen Bewegungen die Ausgrenzung und den Hass im Namen des Rechtes und der individuellen Freiheiten. Sicherlich geht es dabei um einen widersprüchlichen Prozess, denn die alten Vorurteile sind in der Wählerschaft immer noch vorhanden, aber die Tendenz ist recht klar. Mit dem Resultat, dass wir den heutigen Fremdenhass nicht mit den Argumenten gegen den traditionellen Faschismus beikommen können.

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